Text Dahlia Borsche
Übersetzt aus dem Englischen von Friedemann Dupelius
Anfang Juli 2021 treffe ich Memory Biwa und Robert Machiri zu einem Zoom-Gespräch über ihre Arbeit. Für ihr Projekt Listening At Pungwe erhielten sie 2021 ein Stipendium des DAAD. Aufgrund der anhaltenden Reisebeschränkungen durch die COVID-19-Pandemie sitzt Machiri in Johannesburg fest, wo er lebt und arbeitet. Biwa, die in Namibia lebt, konnte bereits nach Deutschland reisen, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews auf Schloss Solitude in Stuttgart untergebracht ist. Memory Biwa und Robert Machiri wurden gemeinsam zu einem Aufenthalt auf Solitude eingeladen, um in den Archiven der Donaueschinger Musiktage zu stöbern. Anlässlich seines 100. Jubiläums beauftragte das Festival Listening At Pungwe, aus dem Archivmaterial ein Stück zu entwickeln.
Biwa und Machiri kommen nicht nur aus verschiedenen Ländern, sondern auch aus unterschiedlichen Praktiken und Disziplinen. Biwa beschäftigt sich als Historikerin hauptsächlich mit Gedächtnisforschung und Archivtheorien. Machiri, ursprünglich aus Simbabwe und nun in Johannesburg beheimatet, arbeitet als interdisziplinärer Künstler und Kurator. Als Listening At Pungwe verschmelzen die beiden Künstler:innen afrikanische Klänge, Fieldrecordings, Schallplatten sowie die Diskurse und Orte zeitgenössischer Kunst zu partizipativen öffentlichen Plattformen.
Dahlia Borsche: Wie habt ihr euch kennengelernt?
Memory Biwa: Ich bin viel damit beschäftigt, mir die innere Historikerin ›abzutrainieren‹, und damit auch meine Herangehensweise an Archive und Dokumente. Als ich anfing, über Namibia zu recherchieren, interessierte ich mich für den Kolonialkrieg in den Jahren 1903–08. Diese Zeit wurde in der Öffentlichkeit kaum thematisiert, obgleich sie eine einzige Katastrophe war: Sie hat die gesamte Landschaft und die Ökonomie der Menschen verändert. Sie verschob die Migrationswege vom ländlichen in den urbanen Raum. Sie veränderte, wie die Menschen arbeiteten, welche Art von Jobs sie hatten, und brachte tiefgreifende Verschiebungen in der Wirtschaft, der Politik und Gesellschaft mit sich.
Um mehr über diese Zeit herauszufinden, musste ich die Archive aufsuchen, aber ein Großteil der Dokumentation der namibischen Kolonialzeit, insbesondere der frühen Phase, ist auf Deutsch verfasst – und nicht auf irgendeinem Deutsch, sondern in der alten deutschen Schrift. Ich kann kein Deutsch und hätte das alles zwei- und dreifach lesen müssen. Also ging ich nach Kapstadt in die englischsprachigen Archive, dort konnte ich zumindest die Dokumente lesen. Ich zog alte Zeitungen und andere Akten heran, aber es handelt sich dabei ja immer um indirekte Informationen. Welchen Einfluss hatte all das auf meinen Herkunftsort, den Ort, wo meine Eltern aufgewachsen sind, meine Großeltern, Bekannte meine Familie? Ich war unzufrieden und für mich lag es auf der Hand, dass ich mündliche Befragungen durchführen musste, denn das ist das Gegenstück zur Archivarbeit.
Als ich jünger war, feierten wir Feste in verschiedenen Dörfern. Die Menschen verkleideten sich und stellten nach, wie sie an bestimmten Orten in Süd-Namibia gegen die Deutschen gekämpft hatten. Ich begann, Interviews für eine mündliche Geschichtsschreibung zu sammeln und interessierte mich für die Unterschiede und Brüche zwischen den schriftlichen Dokumenten, die ich gelesen hatte, und den mündlichen Überlieferungen. Letztere hatten eine andere Form. Sie waren verkörpert, besaßen andere Gesten. Der Körper war Teil der Geschichte. Er war Teil der Erinnerung der Menschen an ihr Leben – sogar, wie sich die Menschen kleideten, wie das mit den Liedern zusammenhing, die sie sangen, und den Geschichten, die sie erzählten. Es ist eine andere Art, die Geschichte zu lesen.
Das brachte mich dazu, über Tonaufnahmen und mündliche Überlieferungen im Allgemeinen nachzudenken. Ich suchte nach einer alternativen Genese historischen Wissens, nach einer anderen Epistemologie, einem anderen Wissenssystem. Wie beanspruchen Menschen Raum und Land durch Lieder, durch Verkörperung, durch Reenactment für sich?
Ungefähr zu dieser Zeit lernte ich Robert Machiri kennen. Ich forschte als Post-Doktorandin an der University of Cape Town und war Teil einer Sound-Studies-Gruppe mit verschiedenen Leuten. Ich untersuchte diese Aufnahmen aus Namibia aus den 1950er-Jahren und dachte über andere Paradigmen nach, mit denen ich zu einem Wissen über Klang und Sprache gelangen konnte. Die Aufnahmen wurden an verschiedenen Missionsstationen in Zentralnamibia in den 1950ern gesammelt und waren als ›linguistische Archive‹ gelabelt. Mich interessierten vor allem die Aufnahmen von Menschen. Sie drückten das Leben in Namibia sehr anschaulich aus, als würde man mit ihnen in einem Raum sitzen. Ich hörte dieses Archiv auch mit meiner Familie, meinen Eltern, Schwestern, Cousins und Cousinen an. Sie – insbesondere meine Eltern – konnten mir sogar noch Dinge erklären oder mich auf welche aufmerksam machen, die ich gar nicht hörte oder verstand. Das war interessant für mich, nicht nur generationenübergreifend, sondern auch mit Menschen zusammen zu sein, die die Nuancen in der Sprache und Betonung anders wahrnehmen.
Zu dieser Zeit war auch Robert in Kapstadt. Ich wohnte in einer Gegend namens Observatory, das Woodstock Observatory. Wir trafen uns anlässlich eines Festivals und fingen an, uns über unsere Arbeit zu unterhalten. Wir sprachen über Oralität und wie sich Musik durch verschiedene Instrumente überträgt, über die Übersetzung von und das Nachdenken über indigene Musik, über Stimme, über Formen der Instrumentation, Phonographen, DJing, Turntables – all diese Themen. Das war der zündende Funke für unseren allgemeinen Austausch.
Memory Biwa
… wurde 1979 in Windhoek, Namibia, geboren. Ihre Arbeit befasst sich mit der Geschichte des Kolonialkriegs und des Völkermords in Namibia, wobei der Schwerpunkt auf transnationalen Gedenk- und Wiedergutmachungsprozessen liegt. Biwas Forschungen zu mündlichen Erzählungen und Performance als Archiv dienen als Grundlage für Konzepte der Subjektivität und der Neuzentrierung alternativer Epistemologien und Imaginationen. Ihre Postdoc-Forschung zu einer sprachlich-klanglichen Sammlung, die im Namibia der 1950er Jahre inszeniert wurde, erweiterte sich zu einer Praxis, die sich mit der akustischen Konvergenz zwischen Stimme, Instrumenten und Formen der Technologie befasst.
Robert Machiri: Um 2014/15 gab es bereits ein Echo zwischen dem, was ich in Johannesburg machte, und Memorys Arbeit. Mein Hintergrund ist vor allem Malerei und Zeichnen, was ich nach meinem Studium in Simbabwe weitergeführt habe, also diese grundlegenden Medien der Kunst.
Hier und da arbeitete ich als Künstler, doch fand ich mich in Johannesburg in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten wieder, die weit über die Rolle des visuellen Künstlers hinausgingen – unter anderem war das die Musik. Für Musik interessiere ich mich seit meiner Kindheit, hauptsächlich für das Hören und Konsumieren von Musik. Um 2013/14 ging ich all diesen anderen Ideen nach: etwa Treffen und Veranstaltungen rund um Musik abzuhalten, mit Menschen zusammenzuarbeiten. In dieser Zeit gab es viele sporadische, experimentelle Bewegungen und Bands rund um Johannesburg. Mit diesen Leuten arbeiteten wir, indem wir entweder Veranstaltungen und Partys oder so etwas wie Underground-Bewegungen organisierten, die sich aus Leuten aus der allgemeinen Kulturszene zusammensetzten.
Ich denke, die Verbindung zur Geschichte kommt durch mein Interesse am Sammeln von Musik, dem Sammeln sogenannter ›indigener‹ oder ›traditioneller‹ Musik und diesem ganz bewussten Schwerpunkt auf der Mbira. Ich sagte zu Memory: ›Ich habe gehört, du interessierst dich für Klang-Bibliotheken, Archive, Geschichte und so weiter. Du arbeitest mit Performance und bringst Menschen und die Öffentlichkeit zusammen.‹ Von da an nahm das Gespräch seinen Lauf, über die Idee, Menschen und die Öffentlichkeit zusammenzubringen, letztendlich um zuzuhören. Unsere Zusammenarbeit ist etwas Organisches, das sich aus der Idee des Zuhörens entwickelt hat. Mein Interesse für Musik liegt vor allem im Sammeln und Hören, mehr als im Machen. Hören ist eine Denkweise für sich, und so brachten wir das Projekt Listening to a Listening auf den Weg. Von da aus hat sich alles weiterentwickelt.
Robert 'Chi' Machiri
… geboren 1978 in Simbabwe, lebt in Johannesburg, Südafrika. Machiri ist DJ und Sammler von Dingen, inspiriert von seiner Musiksammlung und seinem Interesse an klangbezogenen Objekten. Seine Arbeit befindet sich an der Schnittstelle zweier Praxisbereiche: seine kuratorischen Konzepte und eine multidisziplinäre Produktion von Kunstwerken, die sich auf dekoloniale Diskurse stützen, die durch verkörperte Kritik, Lernen und Verlernen dargestellt werden, wobei Klang, Musik und Bildgestaltung miteinander verwoben werden. Sein aktuelles Werk präsentiert sich in einer Dialektik zwischen Objekt und Subjekt, mit intermedialen Erfahrungen von Klang und Bild.
Wie verhält sich der Name Pungwe (›Wache‹ auf Shona) zu der Idee, einen Raum zu schaffen?
RM: Die Pungwe-Idee ist ein universelles Konzept, das man in vielen Kulturen finden kann: diese Idee der Totenwache, die vor allem in Ritualen, Mythen, religiösen Ereignissen und Themen wurzelt. Diese spezielle Idee des Pungwe aber ist ein Narrativ, das während der Befreiungskämpfe in Simbabwe populär war bzw. dadurch aufkam. Während jener Kämpfe waren diese Totenwachen sehr wichtig, um Menschen zusammenzubringen, für die Spiritualität und für das Konsultieren der Ahnen. Es gibt diese Idee von einem Raum der Geschichtsschreibung, der Dokumentation, aber auch diese militärische Literatur, die durch Musik, Geschichten und Tanz entsteht, als ob wir einen Moment in unserer spirituellen Geschichte in Shona erleben würden. Pungwe ist ein heiliger, besonderer Ort in der Geschichte der spirituellen Musik in Simbabwe.
Daraus ergeben sich viele Geschichten, zum Beispiel über den Bau von geheimen Bunkern, wo die sogenannten Kameraden, die Soldaten, Strategien oder geheime Missionen in diesen Zusammenkünften mit Musik ausheckten. Es gibt auch Lieder, die speziell dafür geschrieben wurden, um Informationen zu verschlüsseln, etwa Statements gegen das Kolonialreich. Aus all dem schöpfen wir, um diese Idee von Pungwe zu entwickeln.
Wir betreiben keine Formalstudie, sondern etwas, mit dem wir schon lange leben. Wir hörten davon, als wir aufwuchsen, also haben wir es einfach genommen und als Konzept benutzt, um über Raum und Johannesburg nachzudenken. Als ich Pungwe 2014 mit einem Kollegen ins Leben rief, ging es allein darum, diese alternativen Orte zu schaffen, an die die Menschen gewissermaßen fließend kommen können. Es eine Art Suche nach einem befreienden Raum jenseits dieser kulturellen Hegemonie – mit ihren Spielstätten-, Bar-, Theaterbesitzer*innen – wir machen das alles unabhängig davon. So begann es und setzte sich als Projekt fort, an dem wir – Memory und ich – weiterarbeiteten.
MB: Ich möchte die Geschichte einer Totenwache im südlichen Afrika aufgreifen. Auch dort, wo ich herkomme – Südnamibia – ist eine Totenwache etwas, wo man hingeht, wenn jemand beerdigt wird und man den Stammbaum dieser Person nacherzählt und ihre Lebenswelt mit den Menschen um sie herum verbindet. Eine Totenwache ist ein Ort der Stärkung. Sie soll Menschen stärken, das Erbe der verstorbenen Person weitertragen, sie aber auch mit den Lebenden verbinden.
Wir singen die ganze Nacht bis in den Morgen hinein, um den Körper zu trösten oder bei ihm zu sein. Es ist eine Vergemeinschaftung zwischen der verstorbenen Person und den Lebenden. Im historischen Namibia dient die Totenwache einem sehr wichtigen Zweck: Viele Helden flohen insbesondere in der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft in andere Länder und manchmal wurden ihre Körper zurückgebracht. In diesen Momenten der Bestattung oder der Totenwache konnten sich die Menschen mit einer Vergangenheit verbinden, die versteckt und in der Öffentlichkeit nicht gestattet war. Beerdigungen und Friedhöfe waren die einzigen Gelegenheiten und Orte, an denen Menschen zusammenkommen konnten, denn dort durfte man sich auch im Apartheid-System treffen. An diesen Orten konnten sich die Menschen nicht nur mit den Geschichten ihrer Familien und der Gemeinschaft verbinden, sondern auch Widerstand leisten und über Strategien nachdenken, wie man sich gegen die Herrschaft des weißen, kapitalistischen Patriarchats wehren könnte. Diese Totenwachen wurden zu heiligen Orten.
DB: Das ist sehr interessant.
Memory Biwa
… wurde 1979 in Windhoek, Namibia, geboren. Ihre Arbeit befasst sich mit der Geschichte des Kolonialkriegs und des Völkermords in Namibia, wobei der Schwerpunkt auf transnationalen Gedenk- und Wiedergutmachungsprozessen liegt. Biwas Forschungen zu mündlichen Erzählungen und Performance als Archiv dienen als Grundlage für Konzepte der Subjektivität und der Neuzentrierung alternativer Epistemologien und Imaginationen. Ihre Postdoc-Forschung zu einer sprachlich-klanglichen Sammlung, die im Namibia der 1950er Jahre inszeniert wurde, erweiterte sich zu einer Praxis, die sich mit der akustischen Konvergenz zwischen Stimme, Instrumenten und Formen der Technologie befasst.
Woher stammen die Quellen, mit denen ihr arbeitet, das Klangmaterial? Nehmt ihr selbst auf? Arbeitet ihr hauptsächlich mit Archivmaterial?
RM: Es gibt eine sehr konkrete Sammlung von Klängen, von Quellen. Ich denke aber, dass wir vor allem nach Bedeutungsströmen suchen, nach einer Klanglichkeit, die es in den herkömmlichen Wissensräumen nicht gibt. Es ist eine Art Blick jenseits der formellen Konventionen dessen, was Klang ist. Wie verarbeitet man die Mbira, wie hört man ihr zu? Wie nimmt man sie jenseits dieses ethnographischen Blickwinkels wahr? Wie denkt man über diese Archivklänge jenseits anthropologischer oder kolonialer Vorstellungen? Wie denkt man über die Menschen in den Archiven jenseits des eigentlichen Archivobjekts? Wie kann man diesen Klang hören, ihn verarbeiten oder gar dokumentieren?
Auch wenn ich selbst Musik mache und sie benutze, stellt sich ebenfalls die Frage: Wie platziert man sie draußen, in einem Raum der Jetztzeit? Also ja, es gibt diese Archivklänge, es gibt Instrumente, es gibt Fieldrecordings, doch da ist auch immer dieser Drang danach, eine Weise zu finden, sie auch außerhalb zu beschreiben. Nennt man sie ›indigene Musik‹, spricht man von ›prä-modernen‹ Klängen? Und warum platziert man sie in diesem Kontext?
So würde ich den Klang beschreiben und die Idee von Klang sogar über die Idee des Auditiven hinausrücken. Es ist etwas, das meiner Ansicht nach in andere wissenschaftliche Ideen, Bedeutungen und Philosophien kippt. Denkt man an Wissen aus dem sogenannten Globalen Süden, dann ist das Spiritualität. Es ist eine besondere Art von Wissenschaft, die dazu dient, Klanglichkeit an sich zu entschlüsseln, so wie es die Psychologie tut. In unseren Sprachsystemen gibt es eine besondere Weise, wie sich der Atem zum Geist verhält. Atem und Geist sind miteinander verbunden und stehen in Beziehung zu Klang und Echo, Hall und Sprache.
Da kommt der Klang also her. Und all dies erfährt Unterstützung durch die Idee eines nicht-disziplinären Arbeitens. Ich arbeite mit Bildern, ich arbeite mit der Öffentlichkeit als Medium, es gibt nicht die eine Sache.
MB: Mir gefällt, was du über Atem und Sprache gesagt hast. In all unseren Sprachen musst du konstant ein- und ausatmen, dein Körper wird zu dieser Kammer. Du bist in deinem Rachen und deinen Ohren, und dein Kopf wird zu dieser Kammer. Wenn du also ein Instrument spielst, ist das, was die Leute hören, nur ein Bruchteil dessen, was du fühlst, da dein Körper zum Resonator wird.
Das war unsere Grundlage, als wir über Klang nachdachten. Wir sprachen über unsere Körper, dachten über unsere Sprache nach und darüber, wie sie mit uns resoniert. Viel von dieser Arbeit ist wirklich subjektiv und mit unserem Leben, unseren Welten, unserer Kosmologie verbunden, mit der Art und Weise, wie wir über Sprache oder Instrumente nachdenken. Wenn du dir unsere Instrumente anschaust, auch sie sind Resonatoren. Der Bogen ist ein Resonator. Die Mbira hat einen Resonanzkörper.
Viel von der Musik, die wir spielen, stammt offensichtlich aus diesem Archiv aus den 1950er-Jahren, durch das ich stöberte, aber es geht nicht wirklich um das Archiv. Vielmehr geht es, sagen wir, um die Sprachen, die man in dem Archiv hört, um die Geschichten, den Klang, und wie wir dies mit anderen Aufnahmen verbinden, die wir anderswo finden. Das ist unsere Methode.
Zu den Eigenschaften des aufgezeichneten Klangs gehört, dass er tragbar wird, übertragbar in andere Kontexte. Aufgenommene Stimmen und Instrumente werden von ihrem ursprünglich klingenden Körper abgeschnitten und anderswo eingebettet. Wie geht ihr mit dieser De- und Re-Kontextualisierung in eurer Arbeit um?
MB: Wir versuchen, uns vom Gedanken der entkörperlichten Stimme wegzubewegen, indem wir verschiedene Arten von Maschinen verwenden, und diese Stimmen neu akzentuieren. Ein Beispiel dafür: Für das Stück von Julius Eastman, Regginigger: A Play on Eastman’s Wor(l)ds of Divinity, das wir im SAVVY Contemporary 2018 performt haben, wollten wir Julius Eastmans Stimme ins Zentrum rücken, weil sie eigentlich alles trägt, was er tut. Als wir seiner Stimme lauschten, erschien sie uns überlebensgroß, sodass sie nur auf einer großen Anzahl von Phonographen gespielt werden konnte, um sie wirklich in diesen Raum zu bringen. Die körperlose Stimme, wurde durch die Maschinen und die Form der Medien, die wir benutzen, wieder verkörpert. Diese Vorstellung, dass etwas unsichtbar ist, wie Eastman als unsichtbare Person, hat ihn sogar in der Geschichte der elektronischen Musik unsichtbar gemacht, aber wenn er auf bestimmten Instrumenten gespielt wird, stellt seine eigene Stimme tatsächlich die Größe, die Großartigkeit dessen dar, wer er ist. Und Robert ist ein Meister im Schneiden und Montieren von Sounds.
RM: Ich denke, das ist die Macht des ›détournement‹. Es ist eine Art, über Informationstechnologie oder Information im Allgemeinen zu sprechen. Ich denke, bei jedem Instrument, das Menschen erfunden haben, geht es darum, etwas zu finden und zu nehmen, es zu einer anderen Person zu bringen, es auszuweiten, zu gestalten, oder gar zu stehlen.
Für diese Idee haben wir Interesse entwickelt, ob in echter Materialität oder bloßer Theorie. Wie nimmt man etwas, das erschaffen wurde, das man hört, und verwandelt es in Bilder, in eine andere Form? Es ging darum, diese Theorie zu verschieben und umzugestalten, um eine Art befreiendes Werkzeug zu finden.
MB: Mir gefällt die Idee des ›Stehlens‹. Das haben wir schon als Kinder getan, als wir aus dem Radio aufgenommen haben. Wir haben den Sound aus dem Radio gestohlen und wieder abgespielt. Das ist eine Form des Diebstahls, aber auch der Selbstermächtigung, denn anderweitig hätten wir uns die Musik nicht leisten können.
RM: Ja, genau. Es geht um Remix und all das, Appropriation, kulturelle Aneignung – das ist, was wir die ganze Zeit tun, insbesondere in unseren Live-Sets.
Wie verbindet ihr Geschichte mit der direkten Präsenz von Klang? Die Fluidität von Sound, das Ephemere und Vergängliche, steht im Gegensatz zum statischen Charakter von Tonaufnahmen. Tonaufnahmen sind bloße Fragmente des aufgezeichneten Moments, nicht nur aufgrund der frühen Aufnahmetechniken. Somit sind Archive Sammlungen materialistischer Klangfragmente. Wie könnt ihr eine Geschichte anhand dieser fragilen Fragmente nachzeichnen?
MB: Ich denke, es ist müßig, darüber nachzudenken, ob man einen ursprünglichen Moment nachvollziehen kann. Du hast es schon gesagt, das ist die Spannung, die in einer Aufnahme liegt: Es ist bereits geschehen. Das Original ist Vergangenheit. Womöglich war es noch nicht einmal klanggetreu aufgenommen, womöglich fehlt etwas aufgrund des Equipments, und so weiter. Es gibt also diese Spannung zwischen dem Hören in ein Zurück und dem gleichzeitigen Nachdenken darüber, wie dies Teil eines zukünftigen Moments sein kann.
Wir denken dabei eher an die Zukunft. Wenn wir gestalten, schaffen wir etwas Neues und versuchen, voranzuschreiten. Uns geht es nicht darum, nostalgisch die Geschichte nachzuzeichnen. Diese Spannung ist ohnehin multidirektional, Vergangenheit und Zukunft sind ständig im Austausch miteinander. Uns interessiert es mehr, über die Zukunft nachzudenken. Auch das, was uns die Technologie ermöglicht, soll etwas Neues sein.
RM: Ich erinnere mich an dieses Gespräch mit einer Archivarin. Sie digitalisierte Material für das Archiv. Ich fragte sie, was mit all dem tun würde. Es geht ja immer darum, die Artefakte zu schützen, oder? Und dann ist da noch die Sache mit der Zeit und den Archiven. Die Zeit in diesem Archiv wird die Lebenszeit dieser Frau auf der Erde überdauern – was soll sie also mit all dem tun? Wird sie es überhaupt anhören? Und was dann?
Mir wurde klar, dass ein Archiv bloß ein politisches Denkmal ist. Man hält einfach an etwas fest. Ich glaube, Menschen geben sie deshalb immer wieder weiter, weil sie diese Macht haben. Man hat persönlich das Gefühl, diese Macht an jemanden weitergeben zu können. Es ist dieses Konzept, diese Idee, diese Theorie von Eigentum.
Ich denke, es gibt einen Zusammenhang dazwischen, wie Erfindungen und Technologie eine bloße Spielart der Macht werden, und wie die Technologie, sich etwas zu ergattern, ein bloßes Ding der Macht wird. Du hast es schon gesagt, es fehlt immer vieles. Die frühesten Tonaufnahmen sagen nicht die Wahrheit darüber, wie es wirklich war. Und dann geht es immer um diese Frage: Was ist Wahrheit und was nicht?
Deswegen habe ich vom Strömungen gesprochen. Ich würde Archive gerne in Klang-Bibliotheken umwandeln. Ein Ort, in den man hineingehen, in dem man sich etwas nehmen oder anhören und dann wieder hinausgehen kann – anstatt dieser Hierachien.
Das stimmt. So wie all diese Klangarchive kuratiert und aufbereitet worden sind, geht es immer darum, einen bestimmten Kanon oder ein bestimmtes kulturelles Erbe zu sichern – ein einziges Machtspiel.
MB: Neulich sprachen wir mit einer Archivarin hier auf Schloss Solitude. Einige der Stipendiat:innen hier denken über Klangarchive und die Arbeit damit nach, insbesondere über jene aus Namibia. Die Archivarin sagte: ›Wenn wir neue Archive anlegen, wo bringen wir sie dann unter?‹ Sie war so besorgt darum, wo die Dinge im Internet hinkommen sollten, und ich dachte nur: ›Es wäre doch ganz gut, denn so entstehen verschiedene Wege und Zugänge.‹
Ja, Archivierung ist eine Wissenschaft für sich. Archivar*innen kümmern sich um die richtige Lagerung, die richtige Temperatur, die richtige Kategorisierung, die richtigen Namen und Schubladen für Dinge. Das ist eine ungeheuer detaillierte Struktur, allein zum Erhalt der Artefakte. Leider steht dies oft in Verbindung zu einer bestimmten essentialistischen Vorstellung von Geschichte. Ein anderes Problem, das ich bei Klangarchiven sehe – insbesondere in Deutschland, wenn man an das Phonogrammarchiv, das Lautarchiv usw. denkt, ist: Wo und wie wurde das Material gesammelt? Könnt ihr mir etwas mehr darüber erzählen, wie ihr mit der ethischen Komponente der Archive umgeht und ob euch die gleichen Probleme auch in den Klangarchiven des südlichen Afrikas begegnen?
MB: Unser Zugriff auf Archive hat viel mit einem Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen Archiven und der Wegnahme menschlicher Überreste und heiliger Objekte zu tun, denn sie kamen auf dieselbe Weise nach Europa. Menschliche Körper wurden neben Tonaufnahmen und neben heiligen Gegenständen gesammelt. Das gleiche Sammeln wird im Umfeld von Museen und Universitäten betrieben, wie an der Universität, an der Robert studiert hat, der Rhodes University, Makhanda, in der südafrikanischen Provinz Ostkap. Rhodes verfügt über eine sehr bedeutsame Sammlung von Aufnahmen und Klängen aus der ganzen Region, die sich meines Wissens sogar bis nach Ostafrika ausstreckt, und hier gibt es dieselben Probleme. Betrachtet man die Geschichte des Sammelns, mit der wir es zu tun haben, auch im südlichen Afrika, ist da immer diese Kolonialgeschichte. Aber dann gibt es auch die andere Geschichte, für die wir uns interessieren. Viele Künstler:innen, die während der Apartheid keine Möglichkeit hatten, die Lieder aufzunehmen, die sie aufnehmen wollten, taten dies, indem sie nach Europa auswanderten. Die meisten ihrer Platten lassen sich dort finden. Dieser Aspekt kommt also auch hinzu. Man denke nur an Musiker:innen wie Jackson Kaujeua oder Stella Chiweshe.
Es gibt diese Art der Aufzeichnungsgeschichte, die uns auch interessiert – nicht nur die koloniale und unethische, sondern auch die späteren, die auf politischer Ebene ebenso unethisch waren, als Menschen im Land Musik und Klang nicht kulturell reproduzieren konnten und wo diese Archive gelandet, wo diese Sammlungen geblieben sind. Und dann ist da auch die Politik der Neuveröffentlichungen heutzutage, wo all diese Labels Musik aus Afrika oder anderen Teilen der Welt neu auflegen. Wir denken über das Urheberrecht nach, darüber, wie viele dieser Musiker:innen in Armut gestorben sind. Und nun ist ihre Musik einfach draußen und man nennt sie Fieldrecordings. All das sind Themen, die sich aus den unethischen Sammlungen der Kolonialzeit ergeben.
Euer ethischer Horizont ist also sehr breit. In diesem Zusammenhang verstehe ich eure Praxis auch als einen Beitrag zum (de)kolonialen Diskurs. In diesem Moment einer globalen Verschiebung ist es meiner Meinung nach wichtiger denn je, Klänge und Stimme aus anderen Narrativen zum Sprechen zu bringen, und Narrative auf andere Art zu re-inszenieren, so wie ihr es mit euren Performances macht. Könnt ihr etwas mit der Idee der Dekolonialisierung anfangen?
RM: Ich denke, für uns ist es wichtig, zu erlauben, dass es vielfältige oder plurale Dimensionen gibt, in denen unsere Arbeit geschieht. So gesehen ist es für mich eine berechtigte Perspektive, von der aus man darauf blicken kann. Andererseits weiß ich nicht, ob es irgendeine Besonderheit in der Art und Weise gibt, wie wir über Veränderungen oder Verschiebungen nachdenken. Ich denke, es geht auch darum, es einfach zu tun. Man kann auch einfach davon ausgehen, dass ein Großteil unserer Arbeit schlichtweg eine menschliche Praxis ist.
MB: Dem würde ich zustimmen. Oft wird unsere Arbeit in diesen dekolonialen Rahmen eingepresst. Wie Robert bereits gesagt hat, entwickeln wir einen Raum durch Öffentlichkeit, durch öffentliche Zusammenkünfte, ein öffentliches Verständnis durch Klang. Ich denke, das kann man nicht nur als Dekonstruktion des Materials sehen, mit dem wir arbeiten, sondern auch als ein spezifisches Nachdenken über Raum. Um ehrlich zu sein, finde ich es immer problematisch, in dieses dekoloniale Raster gequetscht zu werden, denn das bedeutet in Deutschland etwas anderes als im südlichen Afrika. Außerdem finde ich es nicht spezifisch genug. Robert hat ein schönes, großes Wort benutzt: ›Spezifität‹. Es passieren noch viel mehr Dinge, die es auszupacken gilt. Und die Kategorisierung macht es zu allgemein.
Das ist eine wirklich wichtige Klarstellung. Es ist wahrscheinlich ein häufiges Versagen aus deutscher Sicht, also auch aus meiner persönlichen Sicht, die Dinge zu schnell in eine Schublade zu stecken, besonders in diesem dekolonialen Prozess. Es ist gut, dass ihr mich und unsere Leser*innen daran erinnert, dass da mehr dahintersteckt. Und dass wir genauer lesen müssen, spezifischer lesen müssen. Vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in Eure Arbeit! ¶
Text Dahlia Borsche
Übersetzt aus dem Englischen von Friedemann Dupelius
Anfang Juli 2021 treffe ich Memory Biwa und Robert Machiri zu einem Zoom-Gespräch über ihre Arbeit. Für ihr Projekt Listening At Pungwe erhielten sie 2021 ein Stipendium des DAAD. Aufgrund der anhaltenden Reisebeschränkungen durch die COVID-19-Pandemie sitzt Machiri in Johannesburg fest, wo er lebt und arbeitet. Biwa, die in Namibia lebt, konnte bereits nach Deutschland reisen, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews auf Schloss Solitude in Stuttgart untergebracht ist. Memory Biwa und Robert Machiri wurden gemeinsam zu einem Aufenthalt auf Solitude eingeladen, um in den Archiven der Donaueschinger Musiktage zu stöbern. Anlässlich seines 100. Jubiläums beauftragte das Festival Listening At Pungwe, aus dem Archivmaterial ein Stück zu entwickeln.
Biwa und Machiri kommen nicht nur aus verschiedenen Ländern, sondern auch aus unterschiedlichen Praktiken und Disziplinen. Biwa beschäftigt sich als Historikerin hauptsächlich mit Gedächtnisforschung und Archivtheorien. Machiri, ursprünglich aus Simbabwe und nun in Johannesburg beheimatet, arbeitet als interdisziplinärer Künstler und Kurator. Als Listening At Pungwe verschmelzen die beiden Künstler:innen afrikanische Klänge, Fieldrecordings, Schallplatten sowie die Diskurse und Orte zeitgenössischer Kunst zu partizipativen öffentlichen Plattformen.
Dahlia Borsche: Wie habt ihr euch kennengelernt?
Memory Biwa: Ich bin viel damit beschäftigt, mir die innere Historikerin ›abzutrainieren‹, und damit auch meine Herangehensweise an Archive und Dokumente. Als ich anfing, über Namibia zu recherchieren, interessierte ich mich für den Kolonialkrieg in den Jahren 1903–08. Diese Zeit wurde in der Öffentlichkeit kaum thematisiert, obgleich sie eine einzige Katastrophe war: Sie hat die gesamte Landschaft und die Ökonomie der Menschen verändert. Sie verschob die Migrationswege vom ländlichen in den urbanen Raum. Sie veränderte, wie die Menschen arbeiteten, welche Art von Jobs sie hatten, und brachte tiefgreifende Verschiebungen in der Wirtschaft, der Politik und Gesellschaft mit sich.
Um mehr über diese Zeit herauszufinden, musste ich die Archive aufsuchen, aber ein Großteil der Dokumentation der namibischen Kolonialzeit, insbesondere der frühen Phase, ist auf Deutsch verfasst – und nicht auf irgendeinem Deutsch, sondern in der alten deutschen Schrift. Ich kann kein Deutsch und hätte das alles zwei- und dreifach lesen müssen. Also ging ich nach Kapstadt in die englischsprachigen Archive, dort konnte ich zumindest die Dokumente lesen. Ich zog alte Zeitungen und andere Akten heran, aber es handelt sich dabei ja immer um indirekte Informationen. Welchen Einfluss hatte all das auf meinen Herkunftsort, den Ort, wo meine Eltern aufgewachsen sind, meine Großeltern, Bekannte meine Familie? Ich war unzufrieden und für mich lag es auf der Hand, dass ich mündliche Befragungen durchführen musste, denn das ist das Gegenstück zur Archivarbeit.
Als ich jünger war, feierten wir Feste in verschiedenen Dörfern. Die Menschen verkleideten sich und stellten nach, wie sie an bestimmten Orten in Süd-Namibia gegen die Deutschen gekämpft hatten. Ich begann, Interviews für eine mündliche Geschichtsschreibung zu sammeln und interessierte mich für die Unterschiede und Brüche zwischen den schriftlichen Dokumenten, die ich gelesen hatte, und den mündlichen Überlieferungen. Letztere hatten eine andere Form. Sie waren verkörpert, besaßen andere Gesten. Der Körper war Teil der Geschichte. Er war Teil der Erinnerung der Menschen an ihr Leben – sogar, wie sich die Menschen kleideten, wie das mit den Liedern zusammenhing, die sie sangen, und den Geschichten, die sie erzählten. Es ist eine andere Art, die Geschichte zu lesen.
Das brachte mich dazu, über Tonaufnahmen und mündliche Überlieferungen im Allgemeinen nachzudenken. Ich suchte nach einer alternativen Genese historischen Wissens, nach einer anderen Epistemologie, einem anderen Wissenssystem. Wie beanspruchen Menschen Raum und Land durch Lieder, durch Verkörperung, durch Reenactment für sich?
Ungefähr zu dieser Zeit lernte ich Robert Machiri kennen. Ich forschte als Post-Doktorandin an der University of Cape Town und war Teil einer Sound-Studies-Gruppe mit verschiedenen Leuten. Ich untersuchte diese Aufnahmen aus Namibia aus den 1950er-Jahren und dachte über andere Paradigmen nach, mit denen ich zu einem Wissen über Klang und Sprache gelangen konnte. Die Aufnahmen wurden an verschiedenen Missionsstationen in Zentralnamibia in den 1950ern gesammelt und waren als ›linguistische Archive‹ gelabelt. Mich interessierten vor allem die Aufnahmen von Menschen. Sie drückten das Leben in Namibia sehr anschaulich aus, als würde man mit ihnen in einem Raum sitzen. Ich hörte dieses Archiv auch mit meiner Familie, meinen Eltern, Schwestern, Cousins und Cousinen an. Sie – insbesondere meine Eltern – konnten mir sogar noch Dinge erklären oder mich auf welche aufmerksam machen, die ich gar nicht hörte oder verstand. Das war interessant für mich, nicht nur generationenübergreifend, sondern auch mit Menschen zusammen zu sein, die die Nuancen in der Sprache und Betonung anders wahrnehmen.
Zu dieser Zeit war auch Robert in Kapstadt. Ich wohnte in einer Gegend namens Observatory, das Woodstock Observatory. Wir trafen uns anlässlich eines Festivals und fingen an, uns über unsere Arbeit zu unterhalten. Wir sprachen über Oralität und wie sich Musik durch verschiedene Instrumente überträgt, über die Übersetzung von und das Nachdenken über indigene Musik, über Stimme, über Formen der Instrumentation, Phonographen, DJing, Turntables – all diese Themen. Das war der zündende Funke für unseren allgemeinen Austausch.
Memory Biwa
… wurde 1979 in Windhoek, Namibia, geboren. Ihre Arbeit befasst sich mit der Geschichte des Kolonialkriegs und des Völkermords in Namibia, wobei der Schwerpunkt auf transnationalen Gedenk- und Wiedergutmachungsprozessen liegt. Biwas Forschungen zu mündlichen Erzählungen und Performance als Archiv dienen als Grundlage für Konzepte der Subjektivität und der Neuzentrierung alternativer Epistemologien und Imaginationen. Ihre Postdoc-Forschung zu einer sprachlich-klanglichen Sammlung, die im Namibia der 1950er Jahre inszeniert wurde, erweiterte sich zu einer Praxis, die sich mit der akustischen Konvergenz zwischen Stimme, Instrumenten und Formen der Technologie befasst.
Robert Machiri: Um 2014/15 gab es bereits ein Echo zwischen dem, was ich in Johannesburg machte, und Memorys Arbeit. Mein Hintergrund ist vor allem Malerei und Zeichnen, was ich nach meinem Studium in Simbabwe weitergeführt habe, also diese grundlegenden Medien der Kunst.
Hier und da arbeitete ich als Künstler, doch fand ich mich in Johannesburg in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten wieder, die weit über die Rolle des visuellen Künstlers hinausgingen – unter anderem war das die Musik. Für Musik interessiere ich mich seit meiner Kindheit, hauptsächlich für das Hören und Konsumieren von Musik. Um 2013/14 ging ich all diesen anderen Ideen nach: etwa Treffen und Veranstaltungen rund um Musik abzuhalten, mit Menschen zusammenzuarbeiten. In dieser Zeit gab es viele sporadische, experimentelle Bewegungen und Bands rund um Johannesburg. Mit diesen Leuten arbeiteten wir, indem wir entweder Veranstaltungen und Partys oder so etwas wie Underground-Bewegungen organisierten, die sich aus Leuten aus der allgemeinen Kulturszene zusammensetzten.
Ich denke, die Verbindung zur Geschichte kommt durch mein Interesse am Sammeln von Musik, dem Sammeln sogenannter ›indigener‹ oder ›traditioneller‹ Musik und diesem ganz bewussten Schwerpunkt auf der Mbira. Ich sagte zu Memory: ›Ich habe gehört, du interessierst dich für Klang-Bibliotheken, Archive, Geschichte und so weiter. Du arbeitest mit Performance und bringst Menschen und die Öffentlichkeit zusammen.‹ Von da an nahm das Gespräch seinen Lauf, über die Idee, Menschen und die Öffentlichkeit zusammenzubringen, letztendlich um zuzuhören. Unsere Zusammenarbeit ist etwas Organisches, das sich aus der Idee des Zuhörens entwickelt hat. Mein Interesse für Musik liegt vor allem im Sammeln und Hören, mehr als im Machen. Hören ist eine Denkweise für sich, und so brachten wir das Projekt Listening to a Listening auf den Weg. Von da aus hat sich alles weiterentwickelt.
Robert 'Chi' Machiri
… geboren 1978 in Simbabwe, lebt in Johannesburg, Südafrika. Machiri ist DJ und Sammler von Dingen, inspiriert von seiner Musiksammlung und seinem Interesse an klangbezogenen Objekten. Seine Arbeit befindet sich an der Schnittstelle zweier Praxisbereiche: seine kuratorischen Konzepte und eine multidisziplinäre Produktion von Kunstwerken, die sich auf dekoloniale Diskurse stützen, die durch verkörperte Kritik, Lernen und Verlernen dargestellt werden, wobei Klang, Musik und Bildgestaltung miteinander verwoben werden. Sein aktuelles Werk präsentiert sich in einer Dialektik zwischen Objekt und Subjekt, mit intermedialen Erfahrungen von Klang und Bild.
Wie verhält sich der Name Pungwe (›Wache‹ auf Shona) zu der Idee, einen Raum zu schaffen?
RM: Die Pungwe-Idee ist ein universelles Konzept, das man in vielen Kulturen finden kann: diese Idee der Totenwache, die vor allem in Ritualen, Mythen, religiösen Ereignissen und Themen wurzelt. Diese spezielle Idee des Pungwe aber ist ein Narrativ, das während der Befreiungskämpfe in Simbabwe populär war bzw. dadurch aufkam. Während jener Kämpfe waren diese Totenwachen sehr wichtig, um Menschen zusammenzubringen, für die Spiritualität und für das Konsultieren der Ahnen. Es gibt diese Idee von einem Raum der Geschichtsschreibung, der Dokumentation, aber auch diese militärische Literatur, die durch Musik, Geschichten und Tanz entsteht, als ob wir einen Moment in unserer spirituellen Geschichte in Shona erleben würden. Pungwe ist ein heiliger, besonderer Ort in der Geschichte der spirituellen Musik in Simbabwe.
Daraus ergeben sich viele Geschichten, zum Beispiel über den Bau von geheimen Bunkern, wo die sogenannten Kameraden, die Soldaten, Strategien oder geheime Missionen in diesen Zusammenkünften mit Musik ausheckten. Es gibt auch Lieder, die speziell dafür geschrieben wurden, um Informationen zu verschlüsseln, etwa Statements gegen das Kolonialreich. Aus all dem schöpfen wir, um diese Idee von Pungwe zu entwickeln.
Wir betreiben keine Formalstudie, sondern etwas, mit dem wir schon lange leben. Wir hörten davon, als wir aufwuchsen, also haben wir es einfach genommen und als Konzept benutzt, um über Raum und Johannesburg nachzudenken. Als ich Pungwe 2014 mit einem Kollegen ins Leben rief, ging es allein darum, diese alternativen Orte zu schaffen, an die die Menschen gewissermaßen fließend kommen können. Es eine Art Suche nach einem befreienden Raum jenseits dieser kulturellen Hegemonie – mit ihren Spielstätten-, Bar-, Theaterbesitzer*innen – wir machen das alles unabhängig davon. So begann es und setzte sich als Projekt fort, an dem wir – Memory und ich – weiterarbeiteten.
MB: Ich möchte die Geschichte einer Totenwache im südlichen Afrika aufgreifen. Auch dort, wo ich herkomme – Südnamibia – ist eine Totenwache etwas, wo man hingeht, wenn jemand beerdigt wird und man den Stammbaum dieser Person nacherzählt und ihre Lebenswelt mit den Menschen um sie herum verbindet. Eine Totenwache ist ein Ort der Stärkung. Sie soll Menschen stärken, das Erbe der verstorbenen Person weitertragen, sie aber auch mit den Lebenden verbinden.
Wir singen die ganze Nacht bis in den Morgen hinein, um den Körper zu trösten oder bei ihm zu sein. Es ist eine Vergemeinschaftung zwischen der verstorbenen Person und den Lebenden. Im historischen Namibia dient die Totenwache einem sehr wichtigen Zweck: Viele Helden flohen insbesondere in der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft in andere Länder und manchmal wurden ihre Körper zurückgebracht. In diesen Momenten der Bestattung oder der Totenwache konnten sich die Menschen mit einer Vergangenheit verbinden, die versteckt und in der Öffentlichkeit nicht gestattet war. Beerdigungen und Friedhöfe waren die einzigen Gelegenheiten und Orte, an denen Menschen zusammenkommen konnten, denn dort durfte man sich auch im Apartheid-System treffen. An diesen Orten konnten sich die Menschen nicht nur mit den Geschichten ihrer Familien und der Gemeinschaft verbinden, sondern auch Widerstand leisten und über Strategien nachdenken, wie man sich gegen die Herrschaft des weißen, kapitalistischen Patriarchats wehren könnte. Diese Totenwachen wurden zu heiligen Orten.
DB: Das ist sehr interessant.
Memory Biwa
… wurde 1979 in Windhoek, Namibia, geboren. Ihre Arbeit befasst sich mit der Geschichte des Kolonialkriegs und des Völkermords in Namibia, wobei der Schwerpunkt auf transnationalen Gedenk- und Wiedergutmachungsprozessen liegt. Biwas Forschungen zu mündlichen Erzählungen und Performance als Archiv dienen als Grundlage für Konzepte der Subjektivität und der Neuzentrierung alternativer Epistemologien und Imaginationen. Ihre Postdoc-Forschung zu einer sprachlich-klanglichen Sammlung, die im Namibia der 1950er Jahre inszeniert wurde, erweiterte sich zu einer Praxis, die sich mit der akustischen Konvergenz zwischen Stimme, Instrumenten und Formen der Technologie befasst.
Woher stammen die Quellen, mit denen ihr arbeitet, das Klangmaterial? Nehmt ihr selbst auf? Arbeitet ihr hauptsächlich mit Archivmaterial?
RM: Es gibt eine sehr konkrete Sammlung von Klängen, von Quellen. Ich denke aber, dass wir vor allem nach Bedeutungsströmen suchen, nach einer Klanglichkeit, die es in den herkömmlichen Wissensräumen nicht gibt. Es ist eine Art Blick jenseits der formellen Konventionen dessen, was Klang ist. Wie verarbeitet man die Mbira, wie hört man ihr zu? Wie nimmt man sie jenseits dieses ethnographischen Blickwinkels wahr? Wie denkt man über diese Archivklänge jenseits anthropologischer oder kolonialer Vorstellungen? Wie denkt man über die Menschen in den Archiven jenseits des eigentlichen Archivobjekts? Wie kann man diesen Klang hören, ihn verarbeiten oder gar dokumentieren?
Auch wenn ich selbst Musik mache und sie benutze, stellt sich ebenfalls die Frage: Wie platziert man sie draußen, in einem Raum der Jetztzeit? Also ja, es gibt diese Archivklänge, es gibt Instrumente, es gibt Fieldrecordings, doch da ist auch immer dieser Drang danach, eine Weise zu finden, sie auch außerhalb zu beschreiben. Nennt man sie ›indigene Musik‹, spricht man von ›prä-modernen‹ Klängen? Und warum platziert man sie in diesem Kontext?
So würde ich den Klang beschreiben und die Idee von Klang sogar über die Idee des Auditiven hinausrücken. Es ist etwas, das meiner Ansicht nach in andere wissenschaftliche Ideen, Bedeutungen und Philosophien kippt. Denkt man an Wissen aus dem sogenannten Globalen Süden, dann ist das Spiritualität. Es ist eine besondere Art von Wissenschaft, die dazu dient, Klanglichkeit an sich zu entschlüsseln, so wie es die Psychologie tut. In unseren Sprachsystemen gibt es eine besondere Weise, wie sich der Atem zum Geist verhält. Atem und Geist sind miteinander verbunden und stehen in Beziehung zu Klang und Echo, Hall und Sprache.
Da kommt der Klang also her. Und all dies erfährt Unterstützung durch die Idee eines nicht-disziplinären Arbeitens. Ich arbeite mit Bildern, ich arbeite mit der Öffentlichkeit als Medium, es gibt nicht die eine Sache.
MB: Mir gefällt, was du über Atem und Sprache gesagt hast. In all unseren Sprachen musst du konstant ein- und ausatmen, dein Körper wird zu dieser Kammer. Du bist in deinem Rachen und deinen Ohren, und dein Kopf wird zu dieser Kammer. Wenn du also ein Instrument spielst, ist das, was die Leute hören, nur ein Bruchteil dessen, was du fühlst, da dein Körper zum Resonator wird.
Das war unsere Grundlage, als wir über Klang nachdachten. Wir sprachen über unsere Körper, dachten über unsere Sprache nach und darüber, wie sie mit uns resoniert. Viel von dieser Arbeit ist wirklich subjektiv und mit unserem Leben, unseren Welten, unserer Kosmologie verbunden, mit der Art und Weise, wie wir über Sprache oder Instrumente nachdenken. Wenn du dir unsere Instrumente anschaust, auch sie sind Resonatoren. Der Bogen ist ein Resonator. Die Mbira hat einen Resonanzkörper.
Viel von der Musik, die wir spielen, stammt offensichtlich aus diesem Archiv aus den 1950er-Jahren, durch das ich stöberte, aber es geht nicht wirklich um das Archiv. Vielmehr geht es, sagen wir, um die Sprachen, die man in dem Archiv hört, um die Geschichten, den Klang, und wie wir dies mit anderen Aufnahmen verbinden, die wir anderswo finden. Das ist unsere Methode.
Zu den Eigenschaften des aufgezeichneten Klangs gehört, dass er tragbar wird, übertragbar in andere Kontexte. Aufgenommene Stimmen und Instrumente werden von ihrem ursprünglich klingenden Körper abgeschnitten und anderswo eingebettet. Wie geht ihr mit dieser De- und Re-Kontextualisierung in eurer Arbeit um?
MB: Wir versuchen, uns vom Gedanken der entkörperlichten Stimme wegzubewegen, indem wir verschiedene Arten von Maschinen verwenden, und diese Stimmen neu akzentuieren. Ein Beispiel dafür: Für das Stück von Julius Eastman, Regginigger: A Play on Eastman’s Wor(l)ds of Divinity, das wir im SAVVY Contemporary 2018 performt haben, wollten wir Julius Eastmans Stimme ins Zentrum rücken, weil sie eigentlich alles trägt, was er tut. Als wir seiner Stimme lauschten, erschien sie uns überlebensgroß, sodass sie nur auf einer großen Anzahl von Phonographen gespielt werden konnte, um sie wirklich in diesen Raum zu bringen. Die körperlose Stimme, wurde durch die Maschinen und die Form der Medien, die wir benutzen, wieder verkörpert. Diese Vorstellung, dass etwas unsichtbar ist, wie Eastman als unsichtbare Person, hat ihn sogar in der Geschichte der elektronischen Musik unsichtbar gemacht, aber wenn er auf bestimmten Instrumenten gespielt wird, stellt seine eigene Stimme tatsächlich die Größe, die Großartigkeit dessen dar, wer er ist. Und Robert ist ein Meister im Schneiden und Montieren von Sounds.
RM: Ich denke, das ist die Macht des ›détournement‹. Es ist eine Art, über Informationstechnologie oder Information im Allgemeinen zu sprechen. Ich denke, bei jedem Instrument, das Menschen erfunden haben, geht es darum, etwas zu finden und zu nehmen, es zu einer anderen Person zu bringen, es auszuweiten, zu gestalten, oder gar zu stehlen.
Für diese Idee haben wir Interesse entwickelt, ob in echter Materialität oder bloßer Theorie. Wie nimmt man etwas, das erschaffen wurde, das man hört, und verwandelt es in Bilder, in eine andere Form? Es ging darum, diese Theorie zu verschieben und umzugestalten, um eine Art befreiendes Werkzeug zu finden.
MB: Mir gefällt die Idee des ›Stehlens‹. Das haben wir schon als Kinder getan, als wir aus dem Radio aufgenommen haben. Wir haben den Sound aus dem Radio gestohlen und wieder abgespielt. Das ist eine Form des Diebstahls, aber auch der Selbstermächtigung, denn anderweitig hätten wir uns die Musik nicht leisten können.
RM: Ja, genau. Es geht um Remix und all das, Appropriation, kulturelle Aneignung – das ist, was wir die ganze Zeit tun, insbesondere in unseren Live-Sets.
Wie verbindet ihr Geschichte mit der direkten Präsenz von Klang? Die Fluidität von Sound, das Ephemere und Vergängliche, steht im Gegensatz zum statischen Charakter von Tonaufnahmen. Tonaufnahmen sind bloße Fragmente des aufgezeichneten Moments, nicht nur aufgrund der frühen Aufnahmetechniken. Somit sind Archive Sammlungen materialistischer Klangfragmente. Wie könnt ihr eine Geschichte anhand dieser fragilen Fragmente nachzeichnen?
MB: Ich denke, es ist müßig, darüber nachzudenken, ob man einen ursprünglichen Moment nachvollziehen kann. Du hast es schon gesagt, das ist die Spannung, die in einer Aufnahme liegt: Es ist bereits geschehen. Das Original ist Vergangenheit. Womöglich war es noch nicht einmal klanggetreu aufgenommen, womöglich fehlt etwas aufgrund des Equipments, und so weiter. Es gibt also diese Spannung zwischen dem Hören in ein Zurück und dem gleichzeitigen Nachdenken darüber, wie dies Teil eines zukünftigen Moments sein kann.
Wir denken dabei eher an die Zukunft. Wenn wir gestalten, schaffen wir etwas Neues und versuchen, voranzuschreiten. Uns geht es nicht darum, nostalgisch die Geschichte nachzuzeichnen. Diese Spannung ist ohnehin multidirektional, Vergangenheit und Zukunft sind ständig im Austausch miteinander. Uns interessiert es mehr, über die Zukunft nachzudenken. Auch das, was uns die Technologie ermöglicht, soll etwas Neues sein.
RM: Ich erinnere mich an dieses Gespräch mit einer Archivarin. Sie digitalisierte Material für das Archiv. Ich fragte sie, was mit all dem tun würde. Es geht ja immer darum, die Artefakte zu schützen, oder? Und dann ist da noch die Sache mit der Zeit und den Archiven. Die Zeit in diesem Archiv wird die Lebenszeit dieser Frau auf der Erde überdauern – was soll sie also mit all dem tun? Wird sie es überhaupt anhören? Und was dann?
Mir wurde klar, dass ein Archiv bloß ein politisches Denkmal ist. Man hält einfach an etwas fest. Ich glaube, Menschen geben sie deshalb immer wieder weiter, weil sie diese Macht haben. Man hat persönlich das Gefühl, diese Macht an jemanden weitergeben zu können. Es ist dieses Konzept, diese Idee, diese Theorie von Eigentum.
Ich denke, es gibt einen Zusammenhang dazwischen, wie Erfindungen und Technologie eine bloße Spielart der Macht werden, und wie die Technologie, sich etwas zu ergattern, ein bloßes Ding der Macht wird. Du hast es schon gesagt, es fehlt immer vieles. Die frühesten Tonaufnahmen sagen nicht die Wahrheit darüber, wie es wirklich war. Und dann geht es immer um diese Frage: Was ist Wahrheit und was nicht?
Deswegen habe ich vom Strömungen gesprochen. Ich würde Archive gerne in Klang-Bibliotheken umwandeln. Ein Ort, in den man hineingehen, in dem man sich etwas nehmen oder anhören und dann wieder hinausgehen kann – anstatt dieser Hierachien.
Das stimmt. So wie all diese Klangarchive kuratiert und aufbereitet worden sind, geht es immer darum, einen bestimmten Kanon oder ein bestimmtes kulturelles Erbe zu sichern – ein einziges Machtspiel.
MB: Neulich sprachen wir mit einer Archivarin hier auf Schloss Solitude. Einige der Stipendiat:innen hier denken über Klangarchive und die Arbeit damit nach, insbesondere über jene aus Namibia. Die Archivarin sagte: ›Wenn wir neue Archive anlegen, wo bringen wir sie dann unter?‹ Sie war so besorgt darum, wo die Dinge im Internet hinkommen sollten, und ich dachte nur: ›Es wäre doch ganz gut, denn so entstehen verschiedene Wege und Zugänge.‹
Ja, Archivierung ist eine Wissenschaft für sich. Archivar*innen kümmern sich um die richtige Lagerung, die richtige Temperatur, die richtige Kategorisierung, die richtigen Namen und Schubladen für Dinge. Das ist eine ungeheuer detaillierte Struktur, allein zum Erhalt der Artefakte. Leider steht dies oft in Verbindung zu einer bestimmten essentialistischen Vorstellung von Geschichte. Ein anderes Problem, das ich bei Klangarchiven sehe – insbesondere in Deutschland, wenn man an das Phonogrammarchiv, das Lautarchiv usw. denkt, ist: Wo und wie wurde das Material gesammelt? Könnt ihr mir etwas mehr darüber erzählen, wie ihr mit der ethischen Komponente der Archive umgeht und ob euch die gleichen Probleme auch in den Klangarchiven des südlichen Afrikas begegnen?
MB: Unser Zugriff auf Archive hat viel mit einem Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen Archiven und der Wegnahme menschlicher Überreste und heiliger Objekte zu tun, denn sie kamen auf dieselbe Weise nach Europa. Menschliche Körper wurden neben Tonaufnahmen und neben heiligen Gegenständen gesammelt. Das gleiche Sammeln wird im Umfeld von Museen und Universitäten betrieben, wie an der Universität, an der Robert studiert hat, der Rhodes University, Makhanda, in der südafrikanischen Provinz Ostkap. Rhodes verfügt über eine sehr bedeutsame Sammlung von Aufnahmen und Klängen aus der ganzen Region, die sich meines Wissens sogar bis nach Ostafrika ausstreckt, und hier gibt es dieselben Probleme. Betrachtet man die Geschichte des Sammelns, mit der wir es zu tun haben, auch im südlichen Afrika, ist da immer diese Kolonialgeschichte. Aber dann gibt es auch die andere Geschichte, für die wir uns interessieren. Viele Künstler:innen, die während der Apartheid keine Möglichkeit hatten, die Lieder aufzunehmen, die sie aufnehmen wollten, taten dies, indem sie nach Europa auswanderten. Die meisten ihrer Platten lassen sich dort finden. Dieser Aspekt kommt also auch hinzu. Man denke nur an Musiker:innen wie Jackson Kaujeua oder Stella Chiweshe.
Es gibt diese Art der Aufzeichnungsgeschichte, die uns auch interessiert – nicht nur die koloniale und unethische, sondern auch die späteren, die auf politischer Ebene ebenso unethisch waren, als Menschen im Land Musik und Klang nicht kulturell reproduzieren konnten und wo diese Archive gelandet, wo diese Sammlungen geblieben sind. Und dann ist da auch die Politik der Neuveröffentlichungen heutzutage, wo all diese Labels Musik aus Afrika oder anderen Teilen der Welt neu auflegen. Wir denken über das Urheberrecht nach, darüber, wie viele dieser Musiker:innen in Armut gestorben sind. Und nun ist ihre Musik einfach draußen und man nennt sie Fieldrecordings. All das sind Themen, die sich aus den unethischen Sammlungen der Kolonialzeit ergeben.
Euer ethischer Horizont ist also sehr breit. In diesem Zusammenhang verstehe ich eure Praxis auch als einen Beitrag zum (de)kolonialen Diskurs. In diesem Moment einer globalen Verschiebung ist es meiner Meinung nach wichtiger denn je, Klänge und Stimme aus anderen Narrativen zum Sprechen zu bringen, und Narrative auf andere Art zu re-inszenieren, so wie ihr es mit euren Performances macht. Könnt ihr etwas mit der Idee der Dekolonialisierung anfangen?
RM: Ich denke, für uns ist es wichtig, zu erlauben, dass es vielfältige oder plurale Dimensionen gibt, in denen unsere Arbeit geschieht. So gesehen ist es für mich eine berechtigte Perspektive, von der aus man darauf blicken kann. Andererseits weiß ich nicht, ob es irgendeine Besonderheit in der Art und Weise gibt, wie wir über Veränderungen oder Verschiebungen nachdenken. Ich denke, es geht auch darum, es einfach zu tun. Man kann auch einfach davon ausgehen, dass ein Großteil unserer Arbeit schlichtweg eine menschliche Praxis ist.
MB: Dem würde ich zustimmen. Oft wird unsere Arbeit in diesen dekolonialen Rahmen eingepresst. Wie Robert bereits gesagt hat, entwickeln wir einen Raum durch Öffentlichkeit, durch öffentliche Zusammenkünfte, ein öffentliches Verständnis durch Klang. Ich denke, das kann man nicht nur als Dekonstruktion des Materials sehen, mit dem wir arbeiten, sondern auch als ein spezifisches Nachdenken über Raum. Um ehrlich zu sein, finde ich es immer problematisch, in dieses dekoloniale Raster gequetscht zu werden, denn das bedeutet in Deutschland etwas anderes als im südlichen Afrika. Außerdem finde ich es nicht spezifisch genug. Robert hat ein schönes, großes Wort benutzt: ›Spezifität‹. Es passieren noch viel mehr Dinge, die es auszupacken gilt. Und die Kategorisierung macht es zu allgemein.
Das ist eine wirklich wichtige Klarstellung. Es ist wahrscheinlich ein häufiges Versagen aus deutscher Sicht, also auch aus meiner persönlichen Sicht, die Dinge zu schnell in eine Schublade zu stecken, besonders in diesem dekolonialen Prozess. Es ist gut, dass ihr mich und unsere Leser*innen daran erinnert, dass da mehr dahintersteckt. Und dass wir genauer lesen müssen, spezifischer lesen müssen. Vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in Eure Arbeit! ¶
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