Timothy Morton schreibt Ökologiekritik als Popliteratur und gilt als Star unter den neuen Philosoph:innen. Sein Denken ist musikalisch geprägt, enge Zusammenarbeiten verbinden ihn mit Björk, Laurie Anderson und Jennifer Walshe. Mit Blick auf die ökologische Krise sagt er, dass nicht Daten und Faktoide unser Denken verändern können. Stattdessen begreift er die Kunst als Instrument für Transformationen – ob mit Blick auf den Klimawandel oder die Dekolonisierung unseres Denkens.
Sie sprechen und schreiben oft davon, dass uns Daten und Fakten nicht dabei helfen werden, die Welt zu verändern bzw. das globale Artensterben zu stoppen. Wie meinen Sie das?
Ich glaube, gewisse alte patriarchale Methoden, sich in der Welt zurechtzufinden, funktionieren nicht mehr. Das Problem mit den Daten und Fakten, die uns derzeit überall anschreien, ist, dass sie uns nicht dabei helfen, unsere Einstellung zu verändern. Wir kennen sie, doch wir schaffen es nicht, den Wandel herbeizuführen, den wir brauchen.
Die Gründe dafür sind vielfältig und tiefgreifend: Wir sind in unserem Denken – so auch in der Geschichte der westlichen Philosophie – immer noch sehr von Konzepten wie »passiv versus aktiv« geprägt. Auch, dass wir Zeit messen und annehmen, dass es nur eine einzige mögliche, richtige Zeit gibt, ist eine koloniale Ideologie. Diese Konstrukte sind dazu gemacht, Menschen und andere Spezies zu beherrschen. Auch Faktoide haben diese Eigenschaft. Sie können gewaltvoll sein.
Welche Rolle können Kunst und Musik dabei spielen, diese Muster aufzubrechen?
Wenn wir an die Zukunft denken, sollten wir von den Gefühlen ausgehen. Gefühle sind aus der Zukunft. Kunsterfahrungen liefern ein Modell, mit dessen Hilfe wir unsere Gefühle erkennen können. Denken Sie zum Beispiel an »Drone Music«, an Resonanz. Alles Handeln ist eine Art von Vibration. Das ist für mich die Essenz des Lebendigen. Es ist still, aber nie statisch. Alles hat eine spezifische Schwingung, auch ohne gepusht oder kontrolliert zu werden. Das bedeutet, dass wirklich neue Dinge geschehen können. Diese Dinge folgen keiner bestimmten Mechanik. Hier kommen wir von der Kunst zur Quantentheorie. Die Quantentheorie ist freundlich, sie verbindet uns mit allem Lebendigen, sie ist also eigentlich politisch sehr fortschrittlich. Sie kann uns und unserer Wahrnehmung helfen, die Trennung von Menschlichem und Nichtmenschlichem zu überwinden.
Wenn ich zum Beispiel einen Vortrag halte, höre ich nicht nur die Worte, ich höre ihren Klang. Wir, also meine Studierenden oder mein Publikum und ich koexistieren in einem Raum. Im ersten Schritt ist es wichtig, uns unserer schlichten Existenz bewusst zu werden. Zum Beispiel über den Klang.
Ihre Eltern sind beide Musiker:innen. Gibt es musikalische Erfahrungen, die für Sie eine besondere Rolle gespielt haben?
Oh ja! Wenn ich an meine Kindheit denke, fällt mir meine erste Begegnung mit Stockhausen ein, das war in meinem Musikkurs. Mein Vater hasste Stockhausens Musik, mich hat sie umgehauen. Das nächste, was mir einfällt, ist »Imagine« von John Lennon. Er wurde ermordet und das Video ging um die Welt, da war ich 11. Es war zutiefst erschütternd. Diese sehr einfache Musik – als würde man von der Wahrheit erstochen. »Imagine there’s no progress« – es tötet die Dinge, es tötet den Planeten. »Imagine« ist wie der Klang einer Art des Todes. Es gibt verschiedene Arten des Todes – es gibt die Discomusik und es gibt das Loslassen. Als Neil Young sagte: »It’s better to burn out than to fade away«, hat Lennon ihn dafür gehasst. Für mich steht »Imagine« für diese andere Art des Todes, das Verblassen, das Loslassen, Dinge auf eine andere Weise sterben zu lassen. »Imagine there’s no heaven« – stell dir vor, du stirbst, und dann ist es das. Wahrscheinlich bemerkst du es gar nicht. Es ist das buddhistische Sterben. Und ein drittes Stück, das mir spontan einfällt, ist Laurie Andersons »O Superman« aus dem Jahr 1981, das ich zum ersten Mal beim Zähneputzen gehört habe...
Ich habe vorher noch nie so darüber nachgedacht, aber ich glaube, was diese Erfahrungen verbindet, ist, dass sie alle von der Möglichkeit handeln, dass die Dinge anders sein könnten. Dass eine andere Welt möglich ist. Es ist eine Art fremde Welt, aber nur, weil wir unseren politischen Kräften so entfremdet sind.
Brechen Sie eine Lanze für die Utopie?
Das Utopische gilt heute als das Dumme, während die Intelligenz mit Kritik verbunden ist. Doch die reine Kritik wird uns nicht helfen.
An anderer Stelle haben Sie gesagt: »Das Problem mit dem ökologischen Bewusstsein besteht nicht darin, dass es so schrecklich schwierig ist. Es ist so einfach.« Können Sie das erklären?
Viele Intellektuelle beweisen sich damit, dass sie uns aufzeigen, wie paralysiert wir scheinbar sind. Wie wenig sich ändern kann. Es ist leicht, den Abgrund groß zu machen, um zu zeigen, wie schlau wir sind und wie recht wir haben. Diesen Stachel könnten wir zynische Vernunft nennen. Ist es nicht seltsam, dass sich die Linke selbst in diese Position der Entmachtung hinein argumentiert? Es ist seltsam und ironisch.
Zum Beispiel denke ich gerade an »Occupy«, Anfang der 2010er Jahre. Erst haben einige Leute vor einer Bank demonstriert, ohne großen Effekt, niemand hat ihnen zugehört. Dann kam David Graeber auf die sehr einfache Idee zu sagen: »Wir ziehen jetzt um in den Park und schlagen dort unsere Zelte auf.« Tausende haben sich ihm angeschlossen. Wir müssen nicht auf irgendeinen erstaunlichen Einfall kommen, um die Dinge zu verändern.
Oder gucken wir aktuell auf den Ausbruch von politischem Aktivismus in Amerika und auf der ganzen Welt, ausgelöst durch den Mord an George Floyd. Es gibt ein neues Gefühl der Veränderung, wir wissen noch nicht, was das ist. Es ist ein globales Phänomen, anders als beispielsweise die Riots 1992 in den USA, wo fast nur Schwarze auf den Straßen waren. Die Presse hat sie damals sehr negativ dargestellt. Jetzt ist es anders – es ist ein Wandel zu spüren, auch wenn uns noch die Worte dafür fehlen.
Kommen wir nochmal zurück zur politischen Rolle der Kunst. Sie sprechen ja explizit nicht von politischer Kunst, wenn Sie sie als Instrument beschreiben, das uns zu einem Umdenken bewegen kann.
Ich rede nicht davon, dass wir einen brennenden Regenwald malen oder Listen bedrohter Tierarten ausstellen. Das sind auch wieder explizite Daten, ihnen fehlt das Kunstvolle. Stattdessen kann uns Kunst als Erfahrung dabei helfen, unsere Beziehung zum Nichtmenschlichen zu verstehen. Wenn ich heute Musik höre, die mich im Innersten bewegt, dann habe ich morgen vielleicht Mitgefühl mit einem Seevogel oder einem Igel im Garten. Empathie ist der erste Schritt, mich mit anderen, nichtmenschlichen Dingen verbunden zu fühlen.
Das beschreibt auch die »Object Oriented Ontology«, der ich anhänge. Die OOO behauptet, dass es nie einen vollständigen Zugang zu einer Sache gibt. Man kann die Dinge nicht an sich begreifen. Das Denken ist keineswegs der Hauptzugang – genauso kann sich ein schnüffelnder Dachs einer Sache nähern.
Oder denken wir an Schopenhauer! Der meinte, dass die Musik die höchste der Künste ist, weil sie nirgendwo hinführt. Es ist wie in einer Art Meditation, bei der man das Drehen im Kopf einfach geschehen lässt. Es ist der Kern von dem, was die Buddhisten Nirwana nennen. Es ist eine andere Art, in der Welt zu sein.
Promoviert haben Sie als Literaturwissenschaftler über Mary und Percy Shalley. Haben Sie auch zur Musik der Romantik einen Bezug? Und was können wir heute aus dieser Zeit ziehen?
Das ist lustig: Ich liebe romantische Literatur, unter anderem auch, weil sie in sich sehr musikalisch ist. Aber mit romantischer Musik, von Beethoven oder Brahms zum Beispiel, habe ich größere Probleme, die dann bei Wagner eskalieren. Ich glaube, es liegt daran, dass sie so anthropozentrisch ist. Es ist, als würde man eine Geschichte erzählen, und in dieser Geschichte geht es einzig und allein um menschliche Emotionen.
Was ich jedoch liebe, ist alles, was danach kommt, die Spätromantik von Mahler, Schönberg, Berg, Webern… Hier höre ich andere Wesen im Klang durchschimmern.
Ich würde sagen, wir können viel lernen aus dieser Strömung. Der Hang zum Ekel zum Beispiel ist sehr ökologisch. Die Erkenntnis, dass die Schönheit immer von einem leichten Ekel umstrahlt sein muss. Wie ein Darmbakterium, ein Virus… Der Weg aus dem stumpfen Konsumismus unserer Zeit liegt in diesem zweideutigen Raum von Schönheit und Ekel, im »ennui«. Anstatt also völlig angewidert davon zu sein, wie anders die Welt ist, interessiert man sich für sie.
Neulich hörte ich zum Beispiel diesen Biologen im Radio. Er war sehr berührt und weinte, als er davon sprach, wie ihm eine Seelöwenmutter ihre Liebe zeigte. Die Art, wie sie das tat, war, ihn mit toten Pinguinen zu füttern. Das mag Ekel in uns hervorrufen. Wir haben gelernt, die Natur auszubeuten – oder sie zu verherrlichen. Doch wir sind Teil von ihr. Diese Erkenntnis ist die Basis für eine gewaltfreie Existenz, für eine Ausweitung der Demokratie auf alle Lebewesen, und auch für eine Überwindung von Rassismus.
Inwiefern sehen Sie Ihre Gedanken in der postkolonialen Tradition?
Mein Ziel ist es, die westliche Kultur zu dekonstruieren, statt mir andere Kulturen anzueignen. Das hat viel mit dem Loslassen von Bewertung und Beherrschung zu tun. Hier muss ich wieder auf die Meditation als Praxis kommen. Nicht als Beruhigung, sondern als Zustand. Nicht als »Achtsamkeit«, wie sie derzeit in Mode ist, sondern als Erkenntnis. Warum sollten wir uns in diesen Zeiten beruhigen, während wir das größte Artensterben erleben oder Schwarze Menschen auf unseren Straßen erschossen werden? Wir sollten wütend sein. Und zuhören. Was mich interessiert, ist, inwiefern das Denken letztlich eine Praxis des Zuhörers ist und sein kann. Manchmal ist das Zuhören gewaltiger als das Tun.
In der westlichen Philosophie ging es oft darum, die Dinge zu sehen und zu erfassen, damit sie real sind. Dadurch ist die Vergangenheit überall, wohin Sie blicken. Und wir sehen dabei nur das Elend. Die Zukunft und das, was anders sein könnte, ist damit nicht real. Wir scheinen der Idee anzuhängen, alles besitzen, beherrschen und uns aneignen zu können, doch im Grunde genommen sind wir dann einfach Pacman. Aber wir sollten das Universum nicht essen, sondern es schätzen. ¶
Timothy Morton schreibt Ökologiekritik als Popliteratur und gilt als Star unter den neuen Philosoph:innen. Sein Denken ist musikalisch geprägt, enge Zusammenarbeiten verbinden ihn mit Björk, Laurie Anderson und Jennifer Walshe. Mit Blick auf die ökologische Krise sagt er, dass nicht Daten und Faktoide unser Denken verändern können. Stattdessen begreift er die Kunst als Instrument für Transformationen – ob mit Blick auf den Klimawandel oder die Dekolonisierung unseres Denkens.
Sie sprechen und schreiben oft davon, dass uns Daten und Fakten nicht dabei helfen werden, die Welt zu verändern bzw. das globale Artensterben zu stoppen. Wie meinen Sie das?
Ich glaube, gewisse alte patriarchale Methoden, sich in der Welt zurechtzufinden, funktionieren nicht mehr. Das Problem mit den Daten und Fakten, die uns derzeit überall anschreien, ist, dass sie uns nicht dabei helfen, unsere Einstellung zu verändern. Wir kennen sie, doch wir schaffen es nicht, den Wandel herbeizuführen, den wir brauchen.
Die Gründe dafür sind vielfältig und tiefgreifend: Wir sind in unserem Denken – so auch in der Geschichte der westlichen Philosophie – immer noch sehr von Konzepten wie »passiv versus aktiv« geprägt. Auch, dass wir Zeit messen und annehmen, dass es nur eine einzige mögliche, richtige Zeit gibt, ist eine koloniale Ideologie. Diese Konstrukte sind dazu gemacht, Menschen und andere Spezies zu beherrschen. Auch Faktoide haben diese Eigenschaft. Sie können gewaltvoll sein.
Welche Rolle können Kunst und Musik dabei spielen, diese Muster aufzubrechen?
Wenn wir an die Zukunft denken, sollten wir von den Gefühlen ausgehen. Gefühle sind aus der Zukunft. Kunsterfahrungen liefern ein Modell, mit dessen Hilfe wir unsere Gefühle erkennen können. Denken Sie zum Beispiel an »Drone Music«, an Resonanz. Alles Handeln ist eine Art von Vibration. Das ist für mich die Essenz des Lebendigen. Es ist still, aber nie statisch. Alles hat eine spezifische Schwingung, auch ohne gepusht oder kontrolliert zu werden. Das bedeutet, dass wirklich neue Dinge geschehen können. Diese Dinge folgen keiner bestimmten Mechanik. Hier kommen wir von der Kunst zur Quantentheorie. Die Quantentheorie ist freundlich, sie verbindet uns mit allem Lebendigen, sie ist also eigentlich politisch sehr fortschrittlich. Sie kann uns und unserer Wahrnehmung helfen, die Trennung von Menschlichem und Nichtmenschlichem zu überwinden.
Wenn ich zum Beispiel einen Vortrag halte, höre ich nicht nur die Worte, ich höre ihren Klang. Wir, also meine Studierenden oder mein Publikum und ich koexistieren in einem Raum. Im ersten Schritt ist es wichtig, uns unserer schlichten Existenz bewusst zu werden. Zum Beispiel über den Klang.
Ihre Eltern sind beide Musiker:innen. Gibt es musikalische Erfahrungen, die für Sie eine besondere Rolle gespielt haben?
Oh ja! Wenn ich an meine Kindheit denke, fällt mir meine erste Begegnung mit Stockhausen ein, das war in meinem Musikkurs. Mein Vater hasste Stockhausens Musik, mich hat sie umgehauen. Das nächste, was mir einfällt, ist »Imagine« von John Lennon. Er wurde ermordet und das Video ging um die Welt, da war ich 11. Es war zutiefst erschütternd. Diese sehr einfache Musik – als würde man von der Wahrheit erstochen. »Imagine there’s no progress« – es tötet die Dinge, es tötet den Planeten. »Imagine« ist wie der Klang einer Art des Todes. Es gibt verschiedene Arten des Todes – es gibt die Discomusik und es gibt das Loslassen. Als Neil Young sagte: »It’s better to burn out than to fade away«, hat Lennon ihn dafür gehasst. Für mich steht »Imagine« für diese andere Art des Todes, das Verblassen, das Loslassen, Dinge auf eine andere Weise sterben zu lassen. »Imagine there’s no heaven« – stell dir vor, du stirbst, und dann ist es das. Wahrscheinlich bemerkst du es gar nicht. Es ist das buddhistische Sterben. Und ein drittes Stück, das mir spontan einfällt, ist Laurie Andersons »O Superman« aus dem Jahr 1981, das ich zum ersten Mal beim Zähneputzen gehört habe...
Ich habe vorher noch nie so darüber nachgedacht, aber ich glaube, was diese Erfahrungen verbindet, ist, dass sie alle von der Möglichkeit handeln, dass die Dinge anders sein könnten. Dass eine andere Welt möglich ist. Es ist eine Art fremde Welt, aber nur, weil wir unseren politischen Kräften so entfremdet sind.
Brechen Sie eine Lanze für die Utopie?
Das Utopische gilt heute als das Dumme, während die Intelligenz mit Kritik verbunden ist. Doch die reine Kritik wird uns nicht helfen.
An anderer Stelle haben Sie gesagt: »Das Problem mit dem ökologischen Bewusstsein besteht nicht darin, dass es so schrecklich schwierig ist. Es ist so einfach.« Können Sie das erklären?
Viele Intellektuelle beweisen sich damit, dass sie uns aufzeigen, wie paralysiert wir scheinbar sind. Wie wenig sich ändern kann. Es ist leicht, den Abgrund groß zu machen, um zu zeigen, wie schlau wir sind und wie recht wir haben. Diesen Stachel könnten wir zynische Vernunft nennen. Ist es nicht seltsam, dass sich die Linke selbst in diese Position der Entmachtung hinein argumentiert? Es ist seltsam und ironisch.
Zum Beispiel denke ich gerade an »Occupy«, Anfang der 2010er Jahre. Erst haben einige Leute vor einer Bank demonstriert, ohne großen Effekt, niemand hat ihnen zugehört. Dann kam David Graeber auf die sehr einfache Idee zu sagen: »Wir ziehen jetzt um in den Park und schlagen dort unsere Zelte auf.« Tausende haben sich ihm angeschlossen. Wir müssen nicht auf irgendeinen erstaunlichen Einfall kommen, um die Dinge zu verändern.
Oder gucken wir aktuell auf den Ausbruch von politischem Aktivismus in Amerika und auf der ganzen Welt, ausgelöst durch den Mord an George Floyd. Es gibt ein neues Gefühl der Veränderung, wir wissen noch nicht, was das ist. Es ist ein globales Phänomen, anders als beispielsweise die Riots 1992 in den USA, wo fast nur Schwarze auf den Straßen waren. Die Presse hat sie damals sehr negativ dargestellt. Jetzt ist es anders – es ist ein Wandel zu spüren, auch wenn uns noch die Worte dafür fehlen.
Kommen wir nochmal zurück zur politischen Rolle der Kunst. Sie sprechen ja explizit nicht von politischer Kunst, wenn Sie sie als Instrument beschreiben, das uns zu einem Umdenken bewegen kann.
Ich rede nicht davon, dass wir einen brennenden Regenwald malen oder Listen bedrohter Tierarten ausstellen. Das sind auch wieder explizite Daten, ihnen fehlt das Kunstvolle. Stattdessen kann uns Kunst als Erfahrung dabei helfen, unsere Beziehung zum Nichtmenschlichen zu verstehen. Wenn ich heute Musik höre, die mich im Innersten bewegt, dann habe ich morgen vielleicht Mitgefühl mit einem Seevogel oder einem Igel im Garten. Empathie ist der erste Schritt, mich mit anderen, nichtmenschlichen Dingen verbunden zu fühlen.
Das beschreibt auch die »Object Oriented Ontology«, der ich anhänge. Die OOO behauptet, dass es nie einen vollständigen Zugang zu einer Sache gibt. Man kann die Dinge nicht an sich begreifen. Das Denken ist keineswegs der Hauptzugang – genauso kann sich ein schnüffelnder Dachs einer Sache nähern.
Oder denken wir an Schopenhauer! Der meinte, dass die Musik die höchste der Künste ist, weil sie nirgendwo hinführt. Es ist wie in einer Art Meditation, bei der man das Drehen im Kopf einfach geschehen lässt. Es ist der Kern von dem, was die Buddhisten Nirwana nennen. Es ist eine andere Art, in der Welt zu sein.
Promoviert haben Sie als Literaturwissenschaftler über Mary und Percy Shalley. Haben Sie auch zur Musik der Romantik einen Bezug? Und was können wir heute aus dieser Zeit ziehen?
Das ist lustig: Ich liebe romantische Literatur, unter anderem auch, weil sie in sich sehr musikalisch ist. Aber mit romantischer Musik, von Beethoven oder Brahms zum Beispiel, habe ich größere Probleme, die dann bei Wagner eskalieren. Ich glaube, es liegt daran, dass sie so anthropozentrisch ist. Es ist, als würde man eine Geschichte erzählen, und in dieser Geschichte geht es einzig und allein um menschliche Emotionen.
Was ich jedoch liebe, ist alles, was danach kommt, die Spätromantik von Mahler, Schönberg, Berg, Webern… Hier höre ich andere Wesen im Klang durchschimmern.
Ich würde sagen, wir können viel lernen aus dieser Strömung. Der Hang zum Ekel zum Beispiel ist sehr ökologisch. Die Erkenntnis, dass die Schönheit immer von einem leichten Ekel umstrahlt sein muss. Wie ein Darmbakterium, ein Virus… Der Weg aus dem stumpfen Konsumismus unserer Zeit liegt in diesem zweideutigen Raum von Schönheit und Ekel, im »ennui«. Anstatt also völlig angewidert davon zu sein, wie anders die Welt ist, interessiert man sich für sie.
Neulich hörte ich zum Beispiel diesen Biologen im Radio. Er war sehr berührt und weinte, als er davon sprach, wie ihm eine Seelöwenmutter ihre Liebe zeigte. Die Art, wie sie das tat, war, ihn mit toten Pinguinen zu füttern. Das mag Ekel in uns hervorrufen. Wir haben gelernt, die Natur auszubeuten – oder sie zu verherrlichen. Doch wir sind Teil von ihr. Diese Erkenntnis ist die Basis für eine gewaltfreie Existenz, für eine Ausweitung der Demokratie auf alle Lebewesen, und auch für eine Überwindung von Rassismus.
Inwiefern sehen Sie Ihre Gedanken in der postkolonialen Tradition?
Mein Ziel ist es, die westliche Kultur zu dekonstruieren, statt mir andere Kulturen anzueignen. Das hat viel mit dem Loslassen von Bewertung und Beherrschung zu tun. Hier muss ich wieder auf die Meditation als Praxis kommen. Nicht als Beruhigung, sondern als Zustand. Nicht als »Achtsamkeit«, wie sie derzeit in Mode ist, sondern als Erkenntnis. Warum sollten wir uns in diesen Zeiten beruhigen, während wir das größte Artensterben erleben oder Schwarze Menschen auf unseren Straßen erschossen werden? Wir sollten wütend sein. Und zuhören. Was mich interessiert, ist, inwiefern das Denken letztlich eine Praxis des Zuhörers ist und sein kann. Manchmal ist das Zuhören gewaltiger als das Tun.
In der westlichen Philosophie ging es oft darum, die Dinge zu sehen und zu erfassen, damit sie real sind. Dadurch ist die Vergangenheit überall, wohin Sie blicken. Und wir sehen dabei nur das Elend. Die Zukunft und das, was anders sein könnte, ist damit nicht real. Wir scheinen der Idee anzuhängen, alles besitzen, beherrschen und uns aneignen zu können, doch im Grunde genommen sind wir dann einfach Pacman. Aber wir sollten das Universum nicht essen, sondern es schätzen. ¶
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