Seit März sitzen 25 junge Musiker:innen aus Bolivien im Alter von 17–35 Jahren in Brandenburg fest. Eigentlich hätten die Mitglieder des 1980 gegründeten Experimentalorchesters für indigene Instrumente in Rheinsberg für die Eröffnung der MaerzMusik proben sollen, für ein gemeinsames Projekt mit dem phønix Ensemble. Dann kam Corona und das Schloss wurde für die jungen Bolivianer:innen vorerst zur Sackgasse. Wann sie den Rückflug nach La Paz antreten können, steht noch in den Sternen. Zeit für ein Porträt eines in jeder Hinsicht revolutionären Orchesters.
Text Martina Seeber
Titelbild © Timo Kreuser
»Ich träume von einem Bolivien, frei von teuflischen Riten, die Stadt ist nicht für Indios, sollen sie abhauen ins Hochland oder in den Chaco!« Dieser Satz stammt nicht etwa aus der Kolonialzeit, sondern von der amtierenden Übergangspräsidentin Boliviens. Die Hassbotschaft, die Jeanine Áñez 2013 ins Internet stellte, sorgt nun, da Áñez an der Macht ist, unter der indigenen Bevölkerung für Angst. Bis heute sind rassistische Vorurteile und Vorbehalte der weißen christlichen Bevölkerung gegen Volksgruppen wie die Aymara oder Quechua allgegenwärtig. »Wenn in den Kirchen Menschen mit indigenen Musikinstrumenten abgebildet sind, hat das meist mit der Hölle und mit dem Teufel zu tun«, erzählt Tatiana Lopez, die zum Leitungsteam des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN) gehört und mit dem Ensemble im Schloss Rheinsberg eine Zwangsresidenz verbringt. Die Mutter von Tatiana Lopez gehört zum Volk der Aymara, hat ihr aber weder die Sprache noch die Musik vermittelt. Erst das OEIN hat ihr Wege geöffnet, sich mit der Kultur ihrer Vorfahren auseinanderzusetzen.
Auch als Tatiana Lopez im Herbst 2019 mit dem OEIN und dem Berliner Vokalkollektiv phønix zum ersten Mal für das gemeinsame Projekt Environment in La Paz proben wollte, war der Konflikt, der Bolivien bis heute spaltet, präsent. Nach schweren Vorwürfen der Wahlmanipulation hatte sich der erste Präsident aus der Volksgruppe der Aymara gerade nach Mexiko zurückgezogen. In Bolivien wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. An Proben in La Paz war nicht zu denken. Dank der Hilfe des Goethe Instituts trafen sich die Musiker:innen immerhin im Hochland von Peru.
Environment sollte ein Gemeinschaftsprojekt des OEIN und des Vokalensembles phønix werden. Mit neuen Kompositionen der in Berlin lebenden Mexikanerin Marisol Jimenez und des Bolivianers Carlos Gutierrez. Dazu haben die Musiker:innen zwei elektronische Kompositionen von Beatriz Ferreyra und Bernard Parmegiani für indigene Instrumente und Stimmen bearbeitet. »Wir wollten Stücke spielen, die für beide Ensembles eine Herausforderung darstellen«, erklärt Timo Kreuser, künstlerischer Leiter des Berliner Sängerkollektivs.
Was die bolivianische Seite unter Herausforderung versteht, schildert der Komponist Carlos Gutierrez, der zum Leitungsteam des OEIN gehört: »Als ich 2018 als Stipendiat des DAAD in Berlin war, ist mir bewusst geworden, wie verschieden die musikalischen Produktionsprozesse in beiden Ländern sind. Unsere Orchestermitglieder bekommen kein Geld, wir haben keine institutionelle Unterstützung. Die jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, wollen indigene Musik spielen. So versuchen wir, unsere Geschichte zu verstehen und zu erhalten. Wir bieten ihnen eine musikalische Ausbildung und ermöglichen Kreativität. In meiner Komposition wollte ich darauf eingehen. Ich wollte, dass die Musiker:innen von phønix verstehen, wie ich Musik begreife. Wenn ich komponiere, geht es immer um die Interaktion der Musiker:innen, um Begegnungen. Ich weiß, dass die Sänger:innen von phønix Solist:innen sind und wollte sie hier auf andere Weise fordern. In den Proben habe ich die Sänger:innen gebeten, über Musik aus ihrer Kindheit zu improvisieren.« Nicht nur der Arbeitsprozess, auch der Raum hat bei Carlos Gutierrez eine Bedeutung. In der indigenen Musik gibt es keine Konzertbühnen. In seiner Komposition spielen die Interpret:innen nur selten auf dem Podium, umso mehr im Saal und in angrenzenden Räumen, auch das Publikum nimmt unterschiedliche Hörperspektiven ein. Die Mitglieder des OEIN sind mit der dezentralen Kommunikation vertraut. Dirigent:innen brauchen sie nicht. Sie konzentrieren sich auf die Musiker:innen in der näheren Umgebung, interpretieren vorgegebene Reaktionsketten. Für phønix, berichtet Timo Kreuser, war vor allem neu, dass die traditionelle Musik der Andenvölker nicht den Prinzipien der westlichen Musik gehorcht, es keine Solist:innen gibt: »Es geht um die Gemeinschaft und um die innere Organisation eines Kollektivs, in dem alles ineinander greift.«
Dass die Kultur der Aymara und Quechua heute überhaupt noch in Teilen überliefert wird, ist dem Komponisten und Dirigenten Cergio Prudencio zu verdanken, der 1980 in La Paz das erste experimentelle Orchester aus traditionellen Andeninstrumenten gründete, zu dem auch Musikschulprogramme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gehörten. Auch Carlos Gutierrez und Tatiana Lopez haben im OEIN begonnen, die Flötenarten Sicu und Zampogna zu spielen, sie haben die Interlocking-Techniken studiert, die dem Panflötenspiel eigen sind. Die doppelreihigen Flöten werden in den Andenkulturen oft in zwei Hälften geteilt und von zwei interagierenden Musikern geblasen.
Als er das OEIN gründete, hatte der damals 35jährige, politisch engagierte Cergio Prudencio eine Vision: ein Orchester aus indigenen Instrumenten, das zeitgenössische Musik spielt. Denn während seines Musikstudiums in Bolivien war nicht ein einziges Mal von Instrumenten wie Sicu oder Tarca die Rede. Als Lateinamerika missioniert wurde, war Musik ein grundlegendes Mittel der religiösen Umerziehung. Indigene Musik wurde verboten, Instrumente wie Pan- und Schnabelflöten vernichtet.
Die Gründung des OEIN bedeutete in Bolivien eine kulturelle Revolution, die Gegner:innen auf den Plan rief. Aber nicht nur aus dem Lager der westlich orientierten, klassisch akademischen Musiker:innen schlug Cergio Prudencio Kritik und Hass entgegen. Auch der politischen Linken passte das Konzept nicht. Gerade Anhänger:innen der radikalen Linkspartei sollen es gewesen sein, die 1980 das erste Konzert des Orchesters in der staatlichen Universität ausgepfiffen haben. Der Vorwurf lautete, der Gründer manipuliere die Musik und die alten Instrumente der Aymara und setze die Unterdrückung mit anderen Mitteln fort. Auf dem Programm stand damals Cergio Prudencios La Ciudad, die ersten Komposition für das OEIN. Zur Besetzung gehören neben den Panflöten die Längsflöten Tarca, die großen Querflöten Monocenio, die Andenflöte Quena und Schlagwerk.
Carlos Gutierrez, Jahrgang 1982, hat La Ciudad erst Jahre nach der Uraufführung gehört. Für ihn war das Werk ein Erweckungserlebnis. Er nahm Unterricht beim OEIN und begriff nach und nach, »wie wichtig das Statement des Orchesters für unsere Gesellschaft und unsere Identität ist. Die Situation in Bolivien ist komplex. Wir Komponist:innen und Musiker:innen leben in einem Land, in dem es zwei Arten gibt, die Welt zu verstehen. Die meisten Menschen versuchen noch immer, den Einfluss der indigenen Kultur zu verneinen.«
Seit der Gründung des OEIN haben Komponist:innen wie Graciela Paraskevaidis, Fernando Cabrera, Natalia Solomonoff, Oskar Bazan, Tato Taborda, Alejandro Cardona Sawutanaka oder Mischa Käser für das Ensemble geschrieben. Nachdem sich Cergio Prudencio 2016 aus der Leitung zurückgezogen hat, übernahm eine Gruppe junger Musiker:innen Orchester und Musikschulen. Obwohl die Vereinigung inzwischen auch andere Wege einschlägt, verteidigt Carlos Gutierrez das Konzept des Gründers: »Wir glauben, dass jede Komposition nur ein Vorschlag und damit der Versuch einer Antwort ist. Wir suchen nach einem Weg, die beiden kulturellen Einflüsse anzunehmen, mit denen wir leben. Und aus der Begegnung der oft widersprüchlichen Einflüsse etwas Neues entstehen zu lassen.« Die sozialen Probleme sind nach 35 Jahren noch immer dieselben, konstatiert er. Dennoch sucht die neue Generation auch nach neuen Wegen der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Erbe der Andenkulturen. Sein Mentor sei mit den Instrumenten immer sehr vorsichtig umgegangen, stellt Gutierrez rückblickend fest: »Wir sind bei aller Bewunderung weniger respektvoll. Wir erfinden auch eigene Instrumente.«
Cergio Prudencio wollte mit dem Orchester eine Brücke zwischen zwei Welten bauen. Carlos Gutierrez sieht die Aufgabe heute in der Suche nach gemeinsamen, neuen Welten, aber zugleich auch in der Erforschung des kulturellen Erbes: »Hinter dem Klang verbergen sich Wissen, Weisheit und Techniken. Wie lernen die Musiker:innen zu interagieren, wie arbeiten die Gruppen, die Tropas, wie komponieren sie?«
Das bolivianische OEIN-Orchestra ist im Rheinsberger Schloss gefangen.
Zeit für ein Portrait des revolutionären Orchesters in @vanmusik #outernational #7
Für Carlos Gutierrez kam es einem Kulturschock gleich, als er die Tänze der indigenen Völker zum ersten Mal erlebte: »Ihre Kostüme, ihre Symbole. Es war mehr als nur Musik.« Auch Animismus und Schamanismus spielen in der Musik der Aymara und Quechua eine Rolle. Die Instrumente sind in Zeremonien, Riten, Feste und damit in den Jahreslauf eingebunden. Es gibt Musik für die Trockenzeit, für die Regenzeit oder die Ernte. Manche Instrumente werden überhaupt nur zu bestimmten Jahreszeiten gespielt.
Die Mitglieder des OEIN forschen, fragen und finden Antworten, die mit dem westlichen Musikverständnis nur wenig zu tun haben. Als Tatiana Lopez im Departement von La Paz unterwegs war und Gemeindemitglieder nach ihren Kompositionen gefragt hat, bekam sie Antworten wie diese: »Man muss zum Fluss gehen und dem Wind lauschen. Der Wind gibt uns die Musik.« Auch von mystischen Erfahrungen ist die Rede. Für das OEIN spielen diese Erkenntnisse eine wachsende Rolle.
Carlos Gutierrez hat mit dem Ensemble 2015 seine Komposition ch‘ipa erarbeitet. In der In der Sprache der Aymara bedeutet ch‘ipa »Netz«, aber auch »Unordnung« und »Wirrwarr«. In diesem Werk geht es um die Schaffung eines solchen Netzes aus Fragen und Antworten, erläutert Gutierrez: »Es gibt keinen Dirigenten. Jeder kann der Bezugspunkt sein. Du musst nur entscheiden, an welchem Bezugspunkt du dich orientieren willst.« In ch'ipa arbeitet Carlos Gutierrez mit den dezentralen Kommunikationsstrukturen, wie sie die traditionelle Musik der Andenvölker prägen. Zu den Instrumenten, die er verwendet, gehören selbst gebaute Panflöten, die aus zwei ineinander gesteckten Röhren mit unterschiedlichen Durchmessern bestehen. Wenn man stark hineinbläst, hört man zwei sehr ähnliche Töne zugleich. Für Gutierrez sind die Instrumente der Aymara und Quechua nicht mehr sakrosankt. Die Musikkultur des Andenhochlands birgt ein Potential, mit dem er auf seine Weise arbeitet.
Auch für das Konzertprojekt Environment mit dem Ensemble phønix – vor allem für die Adaptionen der elektronischen Kompositionen von Beatriz Ferreyra und Bernard Parmegiani – haben die jungen Musiker:innen des OEIN neue Instrumente entworfen: »Jede:r hat darüber nachgedacht, wie sich der Sound reproduzieren oder interpretieren lässt«, beschreibt Carlos Gutierrez den Entstehungsprozess.
OEIN betreibt zunehmend auch Forschungen. Dank der jungen Musiker:innen aus La Paz kehrt verloren geglaubtes musikalisches Erbe zurück in die Dörfer. So hat eine Gruppe des OEIN die Musik der Dorfgemeinschaft von Upinhaya erforscht, acht Autostunden nördlich von La Paz. Seit fast fünfzig Jahren wurde die traditionelle Tuaillu-Musik dort nicht mehr gespielt, da in den 1970er-Jahren Adventisten in die Dorfgemeinschaft gekommen waren, die Instrumente vernichtet und die Musik verboten hatten. Seither verblasste die Erinnerung. Während geraubte Kunstschätze oft noch in westlichen Museen erhalten werden, sterben mündlich überlieferte Musiktraditionen binnen kurzer Zeit aus.
Auf der Suche nach Dokumenten der Tuaillu-Musik wurden die jungen Musiker:innen des OEIN in der französischen Nationalbibliothek in Paris fündig. Sie entdecken Transkriptionen und Aufnahmen, die sie zum Teil mit dem Handy mitschneiden mussten, um sie zurück nach Bolivien zu bringen, sie einstudieren zu können und sie in die Gemeinden zu bringen. Als sie zu spielen begannen, stimmten ein paar alte Menschen ein, erinnert sich Carlos Gutierrez. Sie sagten: »Ihr bringt unser Gedächtnis zurück.« Diese Art der Forschung, so Carlos Gutierrez, wird in Zukunft eine wichtige Rolle in der Arbeit des OEIN spielen: »Man hat uns gewarnt, vorsichtig zu sein, weil es für die Gemeinde ein sehr heikles und sensibles Thema ist. Wir waren respektvoll und haben um Erlaubnis gebeten, und die Antwort der Mehrheit war positiv. Das war für uns ein Wendepunkt.« ¶
Seit März sitzen 25 junge Musiker:innen aus Bolivien im Alter von 17–35 Jahren in Brandenburg fest. Eigentlich hätten die Mitglieder des 1980 gegründeten Experimentalorchesters für indigene Instrumente in Rheinsberg für die Eröffnung der MaerzMusik proben sollen, für ein gemeinsames Projekt mit dem phønix Ensemble. Dann kam Corona und das Schloss wurde für die jungen Bolivianer:innen vorerst zur Sackgasse. Wann sie den Rückflug nach La Paz antreten können, steht noch in den Sternen. Zeit für ein Porträt eines in jeder Hinsicht revolutionären Orchesters.
Text Martina Seeber
Titelbild © Timo Kreuser
»Ich träume von einem Bolivien, frei von teuflischen Riten, die Stadt ist nicht für Indios, sollen sie abhauen ins Hochland oder in den Chaco!« Dieser Satz stammt nicht etwa aus der Kolonialzeit, sondern von der amtierenden Übergangspräsidentin Boliviens. Die Hassbotschaft, die Jeanine Áñez 2013 ins Internet stellte, sorgt nun, da Áñez an der Macht ist, unter der indigenen Bevölkerung für Angst. Bis heute sind rassistische Vorurteile und Vorbehalte der weißen christlichen Bevölkerung gegen Volksgruppen wie die Aymara oder Quechua allgegenwärtig. »Wenn in den Kirchen Menschen mit indigenen Musikinstrumenten abgebildet sind, hat das meist mit der Hölle und mit dem Teufel zu tun«, erzählt Tatiana Lopez, die zum Leitungsteam des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN) gehört und mit dem Ensemble im Schloss Rheinsberg eine Zwangsresidenz verbringt. Die Mutter von Tatiana Lopez gehört zum Volk der Aymara, hat ihr aber weder die Sprache noch die Musik vermittelt. Erst das OEIN hat ihr Wege geöffnet, sich mit der Kultur ihrer Vorfahren auseinanderzusetzen.
Auch als Tatiana Lopez im Herbst 2019 mit dem OEIN und dem Berliner Vokalkollektiv phønix zum ersten Mal für das gemeinsame Projekt Environment in La Paz proben wollte, war der Konflikt, der Bolivien bis heute spaltet, präsent. Nach schweren Vorwürfen der Wahlmanipulation hatte sich der erste Präsident aus der Volksgruppe der Aymara gerade nach Mexiko zurückgezogen. In Bolivien wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. An Proben in La Paz war nicht zu denken. Dank der Hilfe des Goethe Instituts trafen sich die Musiker:innen immerhin im Hochland von Peru.
Environment sollte ein Gemeinschaftsprojekt des OEIN und des Vokalensembles phønix werden. Mit neuen Kompositionen der in Berlin lebenden Mexikanerin Marisol Jimenez und des Bolivianers Carlos Gutierrez. Dazu haben die Musiker:innen zwei elektronische Kompositionen von Beatriz Ferreyra und Bernard Parmegiani für indigene Instrumente und Stimmen bearbeitet. »Wir wollten Stücke spielen, die für beide Ensembles eine Herausforderung darstellen«, erklärt Timo Kreuser, künstlerischer Leiter des Berliner Sängerkollektivs.
Was die bolivianische Seite unter Herausforderung versteht, schildert der Komponist Carlos Gutierrez, der zum Leitungsteam des OEIN gehört: »Als ich 2018 als Stipendiat des DAAD in Berlin war, ist mir bewusst geworden, wie verschieden die musikalischen Produktionsprozesse in beiden Ländern sind. Unsere Orchestermitglieder bekommen kein Geld, wir haben keine institutionelle Unterstützung. Die jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, wollen indigene Musik spielen. So versuchen wir, unsere Geschichte zu verstehen und zu erhalten. Wir bieten ihnen eine musikalische Ausbildung und ermöglichen Kreativität. In meiner Komposition wollte ich darauf eingehen. Ich wollte, dass die Musiker:innen von phønix verstehen, wie ich Musik begreife. Wenn ich komponiere, geht es immer um die Interaktion der Musiker:innen, um Begegnungen. Ich weiß, dass die Sänger:innen von phønix Solist:innen sind und wollte sie hier auf andere Weise fordern. In den Proben habe ich die Sänger:innen gebeten, über Musik aus ihrer Kindheit zu improvisieren.« Nicht nur der Arbeitsprozess, auch der Raum hat bei Carlos Gutierrez eine Bedeutung. In der indigenen Musik gibt es keine Konzertbühnen. In seiner Komposition spielen die Interpret:innen nur selten auf dem Podium, umso mehr im Saal und in angrenzenden Räumen, auch das Publikum nimmt unterschiedliche Hörperspektiven ein. Die Mitglieder des OEIN sind mit der dezentralen Kommunikation vertraut. Dirigent:innen brauchen sie nicht. Sie konzentrieren sich auf die Musiker:innen in der näheren Umgebung, interpretieren vorgegebene Reaktionsketten. Für phønix, berichtet Timo Kreuser, war vor allem neu, dass die traditionelle Musik der Andenvölker nicht den Prinzipien der westlichen Musik gehorcht, es keine Solist:innen gibt: »Es geht um die Gemeinschaft und um die innere Organisation eines Kollektivs, in dem alles ineinander greift.«
Dass die Kultur der Aymara und Quechua heute überhaupt noch in Teilen überliefert wird, ist dem Komponisten und Dirigenten Cergio Prudencio zu verdanken, der 1980 in La Paz das erste experimentelle Orchester aus traditionellen Andeninstrumenten gründete, zu dem auch Musikschulprogramme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gehörten. Auch Carlos Gutierrez und Tatiana Lopez haben im OEIN begonnen, die Flötenarten Sicu und Zampogna zu spielen, sie haben die Interlocking-Techniken studiert, die dem Panflötenspiel eigen sind. Die doppelreihigen Flöten werden in den Andenkulturen oft in zwei Hälften geteilt und von zwei interagierenden Musikern geblasen.
Als er das OEIN gründete, hatte der damals 35jährige, politisch engagierte Cergio Prudencio eine Vision: ein Orchester aus indigenen Instrumenten, das zeitgenössische Musik spielt. Denn während seines Musikstudiums in Bolivien war nicht ein einziges Mal von Instrumenten wie Sicu oder Tarca die Rede. Als Lateinamerika missioniert wurde, war Musik ein grundlegendes Mittel der religiösen Umerziehung. Indigene Musik wurde verboten, Instrumente wie Pan- und Schnabelflöten vernichtet.
Die Gründung des OEIN bedeutete in Bolivien eine kulturelle Revolution, die Gegner:innen auf den Plan rief. Aber nicht nur aus dem Lager der westlich orientierten, klassisch akademischen Musiker:innen schlug Cergio Prudencio Kritik und Hass entgegen. Auch der politischen Linken passte das Konzept nicht. Gerade Anhänger:innen der radikalen Linkspartei sollen es gewesen sein, die 1980 das erste Konzert des Orchesters in der staatlichen Universität ausgepfiffen haben. Der Vorwurf lautete, der Gründer manipuliere die Musik und die alten Instrumente der Aymara und setze die Unterdrückung mit anderen Mitteln fort. Auf dem Programm stand damals Cergio Prudencios La Ciudad, die ersten Komposition für das OEIN. Zur Besetzung gehören neben den Panflöten die Längsflöten Tarca, die großen Querflöten Monocenio, die Andenflöte Quena und Schlagwerk.
Carlos Gutierrez, Jahrgang 1982, hat La Ciudad erst Jahre nach der Uraufführung gehört. Für ihn war das Werk ein Erweckungserlebnis. Er nahm Unterricht beim OEIN und begriff nach und nach, »wie wichtig das Statement des Orchesters für unsere Gesellschaft und unsere Identität ist. Die Situation in Bolivien ist komplex. Wir Komponist:innen und Musiker:innen leben in einem Land, in dem es zwei Arten gibt, die Welt zu verstehen. Die meisten Menschen versuchen noch immer, den Einfluss der indigenen Kultur zu verneinen.«
Seit der Gründung des OEIN haben Komponist:innen wie Graciela Paraskevaidis, Fernando Cabrera, Natalia Solomonoff, Oskar Bazan, Tato Taborda, Alejandro Cardona Sawutanaka oder Mischa Käser für das Ensemble geschrieben. Nachdem sich Cergio Prudencio 2016 aus der Leitung zurückgezogen hat, übernahm eine Gruppe junger Musiker:innen Orchester und Musikschulen. Obwohl die Vereinigung inzwischen auch andere Wege einschlägt, verteidigt Carlos Gutierrez das Konzept des Gründers: »Wir glauben, dass jede Komposition nur ein Vorschlag und damit der Versuch einer Antwort ist. Wir suchen nach einem Weg, die beiden kulturellen Einflüsse anzunehmen, mit denen wir leben. Und aus der Begegnung der oft widersprüchlichen Einflüsse etwas Neues entstehen zu lassen.« Die sozialen Probleme sind nach 35 Jahren noch immer dieselben, konstatiert er. Dennoch sucht die neue Generation auch nach neuen Wegen der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Erbe der Andenkulturen. Sein Mentor sei mit den Instrumenten immer sehr vorsichtig umgegangen, stellt Gutierrez rückblickend fest: »Wir sind bei aller Bewunderung weniger respektvoll. Wir erfinden auch eigene Instrumente.«
Cergio Prudencio wollte mit dem Orchester eine Brücke zwischen zwei Welten bauen. Carlos Gutierrez sieht die Aufgabe heute in der Suche nach gemeinsamen, neuen Welten, aber zugleich auch in der Erforschung des kulturellen Erbes: »Hinter dem Klang verbergen sich Wissen, Weisheit und Techniken. Wie lernen die Musiker:innen zu interagieren, wie arbeiten die Gruppen, die Tropas, wie komponieren sie?«
Das bolivianische OEIN-Orchestra ist im Rheinsberger Schloss gefangen.
Zeit für ein Portrait des revolutionären Orchesters in @vanmusik #outernational #7
Für Carlos Gutierrez kam es einem Kulturschock gleich, als er die Tänze der indigenen Völker zum ersten Mal erlebte: »Ihre Kostüme, ihre Symbole. Es war mehr als nur Musik.« Auch Animismus und Schamanismus spielen in der Musik der Aymara und Quechua eine Rolle. Die Instrumente sind in Zeremonien, Riten, Feste und damit in den Jahreslauf eingebunden. Es gibt Musik für die Trockenzeit, für die Regenzeit oder die Ernte. Manche Instrumente werden überhaupt nur zu bestimmten Jahreszeiten gespielt.
Die Mitglieder des OEIN forschen, fragen und finden Antworten, die mit dem westlichen Musikverständnis nur wenig zu tun haben. Als Tatiana Lopez im Departement von La Paz unterwegs war und Gemeindemitglieder nach ihren Kompositionen gefragt hat, bekam sie Antworten wie diese: »Man muss zum Fluss gehen und dem Wind lauschen. Der Wind gibt uns die Musik.« Auch von mystischen Erfahrungen ist die Rede. Für das OEIN spielen diese Erkenntnisse eine wachsende Rolle.
Carlos Gutierrez hat mit dem Ensemble 2015 seine Komposition ch‘ipa erarbeitet. In der In der Sprache der Aymara bedeutet ch‘ipa »Netz«, aber auch »Unordnung« und »Wirrwarr«. In diesem Werk geht es um die Schaffung eines solchen Netzes aus Fragen und Antworten, erläutert Gutierrez: »Es gibt keinen Dirigenten. Jeder kann der Bezugspunkt sein. Du musst nur entscheiden, an welchem Bezugspunkt du dich orientieren willst.« In ch'ipa arbeitet Carlos Gutierrez mit den dezentralen Kommunikationsstrukturen, wie sie die traditionelle Musik der Andenvölker prägen. Zu den Instrumenten, die er verwendet, gehören selbst gebaute Panflöten, die aus zwei ineinander gesteckten Röhren mit unterschiedlichen Durchmessern bestehen. Wenn man stark hineinbläst, hört man zwei sehr ähnliche Töne zugleich. Für Gutierrez sind die Instrumente der Aymara und Quechua nicht mehr sakrosankt. Die Musikkultur des Andenhochlands birgt ein Potential, mit dem er auf seine Weise arbeitet.
Auch für das Konzertprojekt Environment mit dem Ensemble phønix – vor allem für die Adaptionen der elektronischen Kompositionen von Beatriz Ferreyra und Bernard Parmegiani – haben die jungen Musiker:innen des OEIN neue Instrumente entworfen: »Jede:r hat darüber nachgedacht, wie sich der Sound reproduzieren oder interpretieren lässt«, beschreibt Carlos Gutierrez den Entstehungsprozess.
OEIN betreibt zunehmend auch Forschungen. Dank der jungen Musiker:innen aus La Paz kehrt verloren geglaubtes musikalisches Erbe zurück in die Dörfer. So hat eine Gruppe des OEIN die Musik der Dorfgemeinschaft von Upinhaya erforscht, acht Autostunden nördlich von La Paz. Seit fast fünfzig Jahren wurde die traditionelle Tuaillu-Musik dort nicht mehr gespielt, da in den 1970er-Jahren Adventisten in die Dorfgemeinschaft gekommen waren, die Instrumente vernichtet und die Musik verboten hatten. Seither verblasste die Erinnerung. Während geraubte Kunstschätze oft noch in westlichen Museen erhalten werden, sterben mündlich überlieferte Musiktraditionen binnen kurzer Zeit aus.
Auf der Suche nach Dokumenten der Tuaillu-Musik wurden die jungen Musiker:innen des OEIN in der französischen Nationalbibliothek in Paris fündig. Sie entdecken Transkriptionen und Aufnahmen, die sie zum Teil mit dem Handy mitschneiden mussten, um sie zurück nach Bolivien zu bringen, sie einstudieren zu können und sie in die Gemeinden zu bringen. Als sie zu spielen begannen, stimmten ein paar alte Menschen ein, erinnert sich Carlos Gutierrez. Sie sagten: »Ihr bringt unser Gedächtnis zurück.« Diese Art der Forschung, so Carlos Gutierrez, wird in Zukunft eine wichtige Rolle in der Arbeit des OEIN spielen: »Man hat uns gewarnt, vorsichtig zu sein, weil es für die Gemeinde ein sehr heikles und sensibles Thema ist. Wir waren respektvoll und haben um Erlaubnis gebeten, und die Antwort der Mehrheit war positiv. Das war für uns ein Wendepunkt.« ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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