Rhythmus ist alles. Er prägt das gesamte Leben auf der Erde mit ihrem Zyklus aus Tag und Nacht und das Leben aller Menschen, in dem es überall wiederkehrende Muster zu entdecken gibt. Rhythmen können Menschen konditionieren, zu bestimmten Zeiten zu arbeiten und zu schlafen, aber sie können auch befreiend sein, etwa, wenn sie die üblichen Pfade verlassen und Raum und Zeit neu verschieben – und so die Wahrnehmung völlig neu justieren. Diesen Zustand löst die Musik des Berliner Musikers und Komponisten Mohammad Reza Mortazavi aus.
Text Philipp Rhensius
Fotos & Videos © Florian Schmuck
Mohammad Reza Mortazavi entlockt seinen beiden Instrumenten, der Tombak, einer persischen Kelchtrommel, und der Daf, einer persischen Rahmentrommel, komplexe Polyrhythmen, die ganze Geschichten erzählen, ohne dass auch nur ein Wort oder eine »Melodie« im klassischen Sinne erklingt. Mortazavis Kompositionen wirken wie avancierte Clubmusik, bei der programmierte Loops aus gleich mehreren Drumcomputern zugleich agieren – nur dass alles rein akustisch erzeugt wird und die ungeraden Takte das im Club übliche 4/4-Takt-Diktat radikal unterlaufen. Seine letzten Solo-EP Ritme Jaavdanegi ist im 11/8-Takt gehalten. Hier kulminiert der organische Klang der beiden jahrtausendealten Instrumente aus der klassischen persischen Musik dank Mortazavis innovativer Spielweisen zu einem zeitlosen, irgendwie futuristischen und ortlosen Musik- und Klangerlebnis. Immer wieder entstehen neue Mikro-Rhythmen oder -töne unter den Obertönen der Trommelfelle, wiederholen sich, klingen plötzlich leicht verschoben und daher in jeder Sekunde anders. Dieser tranceartige Zustand zwischen Loslassen und hoher Konzentration ist ein wesentlicher Motor in Mortazavis Schaffen, erzählt er an einem verregneten Sommer-Vormittag im »Ouyon«, einem Kulturzentrum in Berlin-Neukölln. »Wenn ich spiele, bin ich konzentriert, aber nicht verkopft. Ich nehme die Musik genau wahr und spiele mit ihr, während sie sich weiterentwickelt. Es ist ein Zustand zwischen Wachsein und Schlafen.« Laufe es bei einem Konzert gut, dann höre er sich selbst zu und seine Hände würden wie von alleine funktionieren. Wichtig sei dabei vor allem die Balance zwischen rechts und links. Kurz darauf demonstriert er ein paar Takte auf der Daf, die er für das Interview mitgebracht hat. Das helfe, sich für das Gespräch aufzuwärmen. »Die Sprache des Trommelns« beherrsche er am besten, sagt er und lächelt.
Dass sich einer der besten Perkussionisten der Welt, wie er in diversen Medien bezeichnet wird, nicht zu schade ist, in der klinischen Atmosphäre des Seminarraums seine Spielkunst zu präsentieren, zeigt, was das Phänomen Mortazavi ausmacht: Es geht ihm weniger um die Performance, das Ausstellen seiner Virtuosität, sondern vorrangig um die Musik. »Die Musik ist immer schon da und sie sollte durch mich durchkommen, nicht von mir. Das soll für das Publikum spürbar sein«, sagt er und legt die Daf wieder zurück.
Dass die Musik immer schon da ist, klingt plausibel – scheinen manche seiner Stücke eigentlich keinen Anfang und kein Ende zu haben. Ein Prinzip, das in seiner jüngsten EP zum Programm wird: Ritme Jaavdanegi ist persisch und heißt: Rhythmen der Ewigkeit. Dass die Musik durch ihn kommt, nicht von ihm, ist eine bemerkenswerte Aussage in einer Zeit, in der das Ego im Zentrum steht und das, was dessen Dasein erst ermöglicht, sei es die Gesellschaft, die Mistreiter:innen oder in diesem Falle die Kunst, auf die hinteren Ränge verbannt oder gleich ganz ignoriert.
Vor jedem Gig bittet Mortazavi stets darum, das Licht zu dimmen, damit er nicht so sehr exponiert ist. Um live genügend Energie zu erzeugen, sei ein gemeinsames Licht wichtig, das keine Grenze zwischen Bühne und Publikum zieht. Letzteres sei ohnehin immer auch Teil der Musik. Und es ist, ließe sich hinzufügen, so unterschiedlich wie die Kontexte, in denen Mortazavi auftritt, von den Philharmonien in Sydney oder Berlin bis zum Fusion Festival, auf dem elektronische Dancemusic und das freie Ausleben eines hedonistischen Lebensstils im Vordergrund steht. Mortazavi schlägt Brücken zwischen Kunstmusik und Popkultur, und damit auch zwischen Konzertgänger:innen und Raver:innen.
Das ist auch 2020 noch sehr ungewöhnlich. Doch wo und in welchem Rahmen spielt er am liebsten? Er mache keine Unterschiede. Bei jedem Konzert sei es zwar immer dieselbe Musik, doch sie erzeuge stets eine andere Energie. Vor einigen Jahren hatte er ein Konzert in einer Kirche in der Nähe von Frankfurt a. M., an das er sich gerne erinnert.
»Es war komplett ausverkauft, aber es kamen viele junge Leute ohne Tickets. Die Veranstalter haben dann eine Soundbox nach draußen gestellt, weil die Tür zur Kirche geschlossen werden musste. Nach dem Konzert haben mir die Veranstalter erzählt, dass die Leute draußen getanzt hätten, während die Leute drinnen gesessen und die Augen geschlossen hatten, um ganz intensiv zu hören.« Eine Situation, die zeigt, wie willkürlich Rezeptionsweisen sind.
Mortazavi wird zwecks schneller Kategorisierung von den Medien gerne mit Superlativen überladen. Beliebteste Schlagzeile: Er habe die »schnellsten Hände der Welt«. Auch wenn energetische Stücke wie Dancing Eleven oder Taken by the wind auf seiner jüngsten Solo-Platte derartiges nahelegen, will dieses Label doch nicht recht zu seiner Kunst passen. Schaut man seinen Händen und Fingern genau zu, wirkt es, als sei das schnelle Spielen zugleich sehr langsam, wie ein Helikopter, bei dem die Rotorblätter sich bei genauem Hinsehen wie in Zeitlupe zu drehen scheinen. Die optische Täuschung ist gewissermaßen die Voraussetzung der tieferen akustischen Wahrnehmung – so offenbaren sich in der vermeintlichen Langsamkeit die zunächst monoton wirkenden Klänge der Daf als mehrstimmig. Denn mit den unorthodoxen Spielweisen, mit denen sich der Musiker von den strengen traditionellen Techniken, die eine eingeschränkte Klangfülle zur Folge haben, emanzipiert hat – vom Klopfen mit den einzelnen Fingerknöcheln oder -kuppen bis zum Streicheln mit den Handballen – entlockt er seinen Instrumenten multiple Obertöne, die sich zu mikrotonalen Quasi-Symphonien verdichten.
Mortazavi unterscheidet nicht zwischen Rhythmus und Melodie. Beides gehöre zusammen. Man müsse nur genau hinhören, dann finde man überall Töne. »Rhythmus und Melodie sind dasselbe, wie Körper und Geist.« Er lächelt und klopft zur Demonstration ein bisschen auf seinem Stuhl. Eine Melodie sei immer auch ein Rhythmus. Und was ist ein guter Rhythmus? »Einer, der sich wiederholt, und zugleich stets verändert und nicht nur aus einem reinen Puls besteht.« Für ihn bringe jeder neue Tag einen neuen Rhythmus und damit eine neue Chance, die Welt zu sehen. Im Universum gebe es »viele Nummern, mehr als 4/4.« Für ihn bringe jeder Rhythmus eine neue Resonanz und eine neue Bewegung. Mortazavi lässt darum kein gutes Haar am gewinnträchtigsten Musikexport seiner Stadt: »Im Techno geht es angeblich um die Befreiung von Konventionen, aber ich bin nicht sicher, ob Techno die junge Generation befreit hat. Für mich klingt es eher wie ein lautes Metronom, das ein Metrum vorgibt.« Ein solcher Puls sei zwar auch für ihn wichtig, aber nur, wenn er mit anderen Musiker:innen zusammenspiele, zur gemeinsamen Orientierung.
Mit der stetigen Suche nach neuen, ungeraden Rhythmen, etwa, wenn er auf Reisen im Flugzeug auf seinen Beinen trommelt, erlebe er immer am eigenen Leib, wie er dabei stets »jemand anderes wird«. Wiederholungen, die immer wieder leicht verändert werden, und die zyklischen, ungeraden Rhythmen sind es auch, die Mortazavi mit dem Kölner Elektronik-Musiker Burnt Friedman verbinden, auf dessen Label »Nonplace« im Juni 2020 mit Yek2 die zweite EP ihres gleichnamigen Duos erschienen ist.
Mit seiner künstlerischen Vision, eine Musik zu schaffen, die nicht streng irgendwelchen Traditionen folgt, trifft Friedman bei Mortazavi auf offene Ohren, hatte sich der im Iran geborene Musiker doch einst ganz bewusst von jeglichen Konventionen gelöst. »Ich versuche, mich seit vielen Jahren von dogmatischen Traditionen zu befreien, aber Traditionen sind auch Basis für neue Entwicklungen. Sie müssen sich stets verändern.« Für die Instrumente Tombak und Daf gelten im Iran strikte Regeln, wie sie zu spielen sind und vor allem, zu welchem Zweck, nämlich als Begleitinstrument. Er hingegen habe als Kind schon nicht aufhören können, zu experimentieren und immer »weiter zu spielen«. »Wenn wir nicht in der Musik frei sind, wo sonst?« Er ist dann aus Isfahan weggegangen – und lebt seit 23 Jahren in Deutschland.
Auch der Anspruch, sich vom Denken in Herkunft und Nationen zu lösen, verbindet ihn mit Friedman. »Wenn Musik sich als globale Kunst ausdrückt, hat sie die Chance, nie alt zu werden.« Für ihn sei der ideale Zustand, mit uralten Instrumenten neue Sounds und Klänge zu schaffen. Genau das löst die Kollaboration ein. In der Kombination von Mortazavis zyklischen Mustern auf der Tombak und Friedmans elektronischen Soundfetzen und Klangwolken entstehen Parallelwelten, die keine Vergangenheit und keine Zukunft zu kennen scheinen und völlig im Jetzt verankert sind.
»Ich bin nicht sicher, ob Techno die junge Generation befreit hat.«
Der Komponist, Tombak- und Daf-Virtuose Mohammad Reza Mortazavi über komplexe Polyrhythmen in @vanmusik #outernational #9
Dass Mortazavi vorwiegend solo oder in Duos spielt, liegt daran, dass er Freiraum benötigt. »Ich habe viel mit Orchestern oder Jazzmusikern gespielt, doch irgendwann bemerkt, dass ich mich dort nicht komplett frei ausdrücken kann.« Musik sei immer ein Dialog, aber die Tombak und Daf würden wie alle Schlaginstrumente immer noch oft als Begleitinstrument gesehen, nicht als gleichberechtigtes Instrument. Das sei ein Dogma, an das nicht nur Komponist:innen, sondern auch Perkussionist:innen bis heute glauben würden.
Es mache ihn glücklich, dass er seit Jahren auf aller Welt gebucht werde – und Nationalität oder Alter dabei immer weniger eine Rolle spielen. Er wird oft »solo« gebucht, obwohl dieser Begriff nicht wirklich passe. Solo sei es ja eigentlich nur, wenn er ohne Publikum spiele. Bei seinen Konzerten aber spielten alle Menschen mit, die sich im Raum befinden.
Ist Mortazavis perkussive, abstrakte, von eindeutigen Emotionen losgelöste Musik eine Utopie, in der es keine binäre Unterscheidung zwischen Künstler-Ego und Publikum gibt? Und in der Herkunft und Genre keine Rolle mehr spielen? Wenn das so ist, scheint die Welt noch nicht ganz bereit zu sein. Es ist immer noch ein weiter Weg, bis perkussive Musik wie die des Berliners überall als eigenständige Kompositionen und ja: Musik, wahrgenommen wird. Damit jedoch ist er wahrer Pionier: Er befreit nicht nur seine Instrumente von der Bürde, nur Begleitung zu sein, sondern auch den Rhythmus von seinem Schicksal in einer Welt, die von Melodien, von schnellen Antworten, dominiert wird. ¶
Rhythmus ist alles. Er prägt das gesamte Leben auf der Erde mit ihrem Zyklus aus Tag und Nacht und das Leben aller Menschen, in dem es überall wiederkehrende Muster zu entdecken gibt. Rhythmen können Menschen konditionieren, zu bestimmten Zeiten zu arbeiten und zu schlafen, aber sie können auch befreiend sein, etwa, wenn sie die üblichen Pfade verlassen und Raum und Zeit neu verschieben – und so die Wahrnehmung völlig neu justieren. Diesen Zustand löst die Musik des Berliner Musikers und Komponisten Mohammad Reza Mortazavi aus.
Text Philipp Rhensius
Fotos & Videos © Florian Schmuck
Mohammad Reza Mortazavi entlockt seinen beiden Instrumenten, der Tombak, einer persischen Kelchtrommel, und der Daf, einer persischen Rahmentrommel, komplexe Polyrhythmen, die ganze Geschichten erzählen, ohne dass auch nur ein Wort oder eine »Melodie« im klassischen Sinne erklingt. Mortazavis Kompositionen wirken wie avancierte Clubmusik, bei der programmierte Loops aus gleich mehreren Drumcomputern zugleich agieren – nur dass alles rein akustisch erzeugt wird und die ungeraden Takte das im Club übliche 4/4-Takt-Diktat radikal unterlaufen. Seine letzten Solo-EP Ritme Jaavdanegi ist im 11/8-Takt gehalten. Hier kulminiert der organische Klang der beiden jahrtausendealten Instrumente aus der klassischen persischen Musik dank Mortazavis innovativer Spielweisen zu einem zeitlosen, irgendwie futuristischen und ortlosen Musik- und Klangerlebnis. Immer wieder entstehen neue Mikro-Rhythmen oder -töne unter den Obertönen der Trommelfelle, wiederholen sich, klingen plötzlich leicht verschoben und daher in jeder Sekunde anders. Dieser tranceartige Zustand zwischen Loslassen und hoher Konzentration ist ein wesentlicher Motor in Mortazavis Schaffen, erzählt er an einem verregneten Sommer-Vormittag im »Ouyon«, einem Kulturzentrum in Berlin-Neukölln. »Wenn ich spiele, bin ich konzentriert, aber nicht verkopft. Ich nehme die Musik genau wahr und spiele mit ihr, während sie sich weiterentwickelt. Es ist ein Zustand zwischen Wachsein und Schlafen.« Laufe es bei einem Konzert gut, dann höre er sich selbst zu und seine Hände würden wie von alleine funktionieren. Wichtig sei dabei vor allem die Balance zwischen rechts und links. Kurz darauf demonstriert er ein paar Takte auf der Daf, die er für das Interview mitgebracht hat. Das helfe, sich für das Gespräch aufzuwärmen. »Die Sprache des Trommelns« beherrsche er am besten, sagt er und lächelt.
Dass sich einer der besten Perkussionisten der Welt, wie er in diversen Medien bezeichnet wird, nicht zu schade ist, in der klinischen Atmosphäre des Seminarraums seine Spielkunst zu präsentieren, zeigt, was das Phänomen Mortazavi ausmacht: Es geht ihm weniger um die Performance, das Ausstellen seiner Virtuosität, sondern vorrangig um die Musik. »Die Musik ist immer schon da und sie sollte durch mich durchkommen, nicht von mir. Das soll für das Publikum spürbar sein«, sagt er und legt die Daf wieder zurück.
Dass die Musik immer schon da ist, klingt plausibel – scheinen manche seiner Stücke eigentlich keinen Anfang und kein Ende zu haben. Ein Prinzip, das in seiner jüngsten EP zum Programm wird: Ritme Jaavdanegi ist persisch und heißt: Rhythmen der Ewigkeit. Dass die Musik durch ihn kommt, nicht von ihm, ist eine bemerkenswerte Aussage in einer Zeit, in der das Ego im Zentrum steht und das, was dessen Dasein erst ermöglicht, sei es die Gesellschaft, die Mistreiter:innen oder in diesem Falle die Kunst, auf die hinteren Ränge verbannt oder gleich ganz ignoriert.
Vor jedem Gig bittet Mortazavi stets darum, das Licht zu dimmen, damit er nicht so sehr exponiert ist. Um live genügend Energie zu erzeugen, sei ein gemeinsames Licht wichtig, das keine Grenze zwischen Bühne und Publikum zieht. Letzteres sei ohnehin immer auch Teil der Musik. Und es ist, ließe sich hinzufügen, so unterschiedlich wie die Kontexte, in denen Mortazavi auftritt, von den Philharmonien in Sydney oder Berlin bis zum Fusion Festival, auf dem elektronische Dancemusic und das freie Ausleben eines hedonistischen Lebensstils im Vordergrund steht. Mortazavi schlägt Brücken zwischen Kunstmusik und Popkultur, und damit auch zwischen Konzertgänger:innen und Raver:innen.
Das ist auch 2020 noch sehr ungewöhnlich. Doch wo und in welchem Rahmen spielt er am liebsten? Er mache keine Unterschiede. Bei jedem Konzert sei es zwar immer dieselbe Musik, doch sie erzeuge stets eine andere Energie. Vor einigen Jahren hatte er ein Konzert in einer Kirche in der Nähe von Frankfurt a. M., an das er sich gerne erinnert.
»Es war komplett ausverkauft, aber es kamen viele junge Leute ohne Tickets. Die Veranstalter haben dann eine Soundbox nach draußen gestellt, weil die Tür zur Kirche geschlossen werden musste. Nach dem Konzert haben mir die Veranstalter erzählt, dass die Leute draußen getanzt hätten, während die Leute drinnen gesessen und die Augen geschlossen hatten, um ganz intensiv zu hören.« Eine Situation, die zeigt, wie willkürlich Rezeptionsweisen sind.
Mortazavi wird zwecks schneller Kategorisierung von den Medien gerne mit Superlativen überladen. Beliebteste Schlagzeile: Er habe die »schnellsten Hände der Welt«. Auch wenn energetische Stücke wie Dancing Eleven oder Taken by the wind auf seiner jüngsten Solo-Platte derartiges nahelegen, will dieses Label doch nicht recht zu seiner Kunst passen. Schaut man seinen Händen und Fingern genau zu, wirkt es, als sei das schnelle Spielen zugleich sehr langsam, wie ein Helikopter, bei dem die Rotorblätter sich bei genauem Hinsehen wie in Zeitlupe zu drehen scheinen. Die optische Täuschung ist gewissermaßen die Voraussetzung der tieferen akustischen Wahrnehmung – so offenbaren sich in der vermeintlichen Langsamkeit die zunächst monoton wirkenden Klänge der Daf als mehrstimmig. Denn mit den unorthodoxen Spielweisen, mit denen sich der Musiker von den strengen traditionellen Techniken, die eine eingeschränkte Klangfülle zur Folge haben, emanzipiert hat – vom Klopfen mit den einzelnen Fingerknöcheln oder -kuppen bis zum Streicheln mit den Handballen – entlockt er seinen Instrumenten multiple Obertöne, die sich zu mikrotonalen Quasi-Symphonien verdichten.
Mortazavi unterscheidet nicht zwischen Rhythmus und Melodie. Beides gehöre zusammen. Man müsse nur genau hinhören, dann finde man überall Töne. »Rhythmus und Melodie sind dasselbe, wie Körper und Geist.« Er lächelt und klopft zur Demonstration ein bisschen auf seinem Stuhl. Eine Melodie sei immer auch ein Rhythmus. Und was ist ein guter Rhythmus? »Einer, der sich wiederholt, und zugleich stets verändert und nicht nur aus einem reinen Puls besteht.« Für ihn bringe jeder neue Tag einen neuen Rhythmus und damit eine neue Chance, die Welt zu sehen. Im Universum gebe es »viele Nummern, mehr als 4/4.« Für ihn bringe jeder Rhythmus eine neue Resonanz und eine neue Bewegung. Mortazavi lässt darum kein gutes Haar am gewinnträchtigsten Musikexport seiner Stadt: »Im Techno geht es angeblich um die Befreiung von Konventionen, aber ich bin nicht sicher, ob Techno die junge Generation befreit hat. Für mich klingt es eher wie ein lautes Metronom, das ein Metrum vorgibt.« Ein solcher Puls sei zwar auch für ihn wichtig, aber nur, wenn er mit anderen Musiker:innen zusammenspiele, zur gemeinsamen Orientierung.
Mit der stetigen Suche nach neuen, ungeraden Rhythmen, etwa, wenn er auf Reisen im Flugzeug auf seinen Beinen trommelt, erlebe er immer am eigenen Leib, wie er dabei stets »jemand anderes wird«. Wiederholungen, die immer wieder leicht verändert werden, und die zyklischen, ungeraden Rhythmen sind es auch, die Mortazavi mit dem Kölner Elektronik-Musiker Burnt Friedman verbinden, auf dessen Label »Nonplace« im Juni 2020 mit Yek2 die zweite EP ihres gleichnamigen Duos erschienen ist.
Mit seiner künstlerischen Vision, eine Musik zu schaffen, die nicht streng irgendwelchen Traditionen folgt, trifft Friedman bei Mortazavi auf offene Ohren, hatte sich der im Iran geborene Musiker doch einst ganz bewusst von jeglichen Konventionen gelöst. »Ich versuche, mich seit vielen Jahren von dogmatischen Traditionen zu befreien, aber Traditionen sind auch Basis für neue Entwicklungen. Sie müssen sich stets verändern.« Für die Instrumente Tombak und Daf gelten im Iran strikte Regeln, wie sie zu spielen sind und vor allem, zu welchem Zweck, nämlich als Begleitinstrument. Er hingegen habe als Kind schon nicht aufhören können, zu experimentieren und immer »weiter zu spielen«. »Wenn wir nicht in der Musik frei sind, wo sonst?« Er ist dann aus Isfahan weggegangen – und lebt seit 23 Jahren in Deutschland.
Auch der Anspruch, sich vom Denken in Herkunft und Nationen zu lösen, verbindet ihn mit Friedman. »Wenn Musik sich als globale Kunst ausdrückt, hat sie die Chance, nie alt zu werden.« Für ihn sei der ideale Zustand, mit uralten Instrumenten neue Sounds und Klänge zu schaffen. Genau das löst die Kollaboration ein. In der Kombination von Mortazavis zyklischen Mustern auf der Tombak und Friedmans elektronischen Soundfetzen und Klangwolken entstehen Parallelwelten, die keine Vergangenheit und keine Zukunft zu kennen scheinen und völlig im Jetzt verankert sind.
Dass Mortazavi vorwiegend solo oder in Duos spielt, liegt daran, dass er Freiraum benötigt. »Ich habe viel mit Orchestern oder Jazzmusikern gespielt, doch irgendwann bemerkt, dass ich mich dort nicht komplett frei ausdrücken kann.« Musik sei immer ein Dialog, aber die Tombak und Daf würden wie alle Schlaginstrumente immer noch oft als Begleitinstrument gesehen, nicht als gleichberechtigtes Instrument. Das sei ein Dogma, an das nicht nur Komponist:innen, sondern auch Perkussionist:innen bis heute glauben würden.
Es mache ihn glücklich, dass er seit Jahren auf aller Welt gebucht werde – und Nationalität oder Alter dabei immer weniger eine Rolle spielen. Er wird oft »solo« gebucht, obwohl dieser Begriff nicht wirklich passe. Solo sei es ja eigentlich nur, wenn er ohne Publikum spiele. Bei seinen Konzerten aber spielten alle Menschen mit, die sich im Raum befinden.
Ist Mortazavis perkussive, abstrakte, von eindeutigen Emotionen losgelöste Musik eine Utopie, in der es keine binäre Unterscheidung zwischen Künstler-Ego und Publikum gibt? Und in der Herkunft und Genre keine Rolle mehr spielen? Wenn das so ist, scheint die Welt noch nicht ganz bereit zu sein. Es ist immer noch ein weiter Weg, bis perkussive Musik wie die des Berliners überall als eigenständige Kompositionen und ja: Musik, wahrgenommen wird. Damit jedoch ist er wahrer Pionier: Er befreit nicht nur seine Instrumente von der Bürde, nur Begleitung zu sein, sondern auch den Rhythmus von seinem Schicksal in einer Welt, die von Melodien, von schnellen Antworten, dominiert wird. ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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