Text George E. Lewis
Übersetzung Patrick Klingenschmitt
Titelbild © Tadashi Lewis
Meine kurze aber unvergessliche Zusammenarbeit mit dem Klangkunstkollektiv Ultra-Red 2012 im Whitney Museum of American Art befasste sich mit der Frage: »Wie klingt Freiheit?«
An dieses Projekt musste ich denken, als ich in Outernational das Interview »Wie klingt Kolonialismus?« mit meLê yamomo las. Mit allem Respekt gegenüber den interessanten Ideen, die sich dort finden, glaube ich doch, dass wir sehr genau wissen, wie Kolonialismus klingt. Wir hören ihn bei allzu vielen Festivals für zeitgenössische Musik weltweit, die munter und in Dauerschleife den Stereotyp exklusiven weiß-Seins rund um das Selbstbild der klassischen Musik weiterspielen. Dabei sind es nicht die Komponist:innen und Improvisateur:innen, die den Klang des Kolonialismus produzieren. Vielmehr sind es die Kurator:innen und Institutionen.
Was wir stattdessen wollen: dass die Entscheidungsträger:innen ihrem Publikum helfen zu entdecken, wie Dekolonisation klingt. Wie können wir der Verarmung und Stagnation, die aus einer fortdauernden Abwesenheit der immer gleichen ethnischen, klassenzugehörigen und gegenderten Stimmen auf Bühnen, in Medien, Musikgeschichte und professionellen Netzwerken resultieren, entgegenwirken? Wie können Musikkurator:innen anfangen, Dekolonisation zu komponieren? Wie könnte eine dekolonisierte kuratorische Praxis klingen?
Zu einem gewissen Grad wissen wir bereits seit der Documenta11 von 2002 – als der inzwischen verstorbene Okwui Enwezor aus Nigeria als erster nicht-weißer Kurator des Festivals berufen wurde – wie eine solche Praxis aussehen kann. Die Kunsthistoriker Anthony Gardner und Charles Green hielten fest, dass die Documenta11 ein Bild der zeitgenössischen Kunst als Netzwerk präsentiere, in dem New York, Lagos, London, Cape Town und Basel für einen zeitgenössischen Kanon und das Verstehen der Gegenwartskunst mehr oder weniger gleichbedeutend wichtig sind, anstatt einige Zentren als exotische Randerscheinungen und andere als originär kosmopolitisch und zeitgenössisch darzustellen. Warum nehmen sich Festivals und Institutionen im Bereich der zeitgenössischen Musik daran kein Beispiel?
Ich warte darauf, dass wir in allen klanglichen Bereichen bei kleinen und großen Festivals Dekolonisation hören können – ebenso wie es bisher mit dem Kolonialismus der Fall ist. Ich möchte dieses kurze Essay nutzen, um acht Schritte vorzuschlagen, die wir alle gemeinsam gehen können, um dieses Ziel zu erreichen.
Sara Ahmed schreibt in On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life: »Institutionelle Logik funktioniert ähnlich wie Verwandtschaftsbeziehungen: als eine Art von ›in Beziehung stehen‹ und ›in Beziehung bleiben‹ [...] Institutionellem weiß-Sein geht es im Kern um die Reproduktion von Gleichheit [...]. Institutionen sind Verwandtschaftstechnologien, um eine Art soziale Beziehungen zu reproduzieren.«1 In der Musik sind Genre und Verwandtschaft ebenfalls häufig gemeinsam anzutreffen, wie schon etymologisch in der gemeinsamen Wurzel gen- angezeigt (genetisch, Genotyp und auch Gender). Genrebegriffe wie improvisierte Musik, Klassik, zeitgenössisch/contemporary, Jazz, Neue Musik, etc. transportieren ebenfalls die Reproduktion von Gleichheit, während ihre wahre Natur gleichzeitig eher dem Bett des Prokrustes entspricht. Während diese verwandtschaftsmäßigen Diskurse wie selbstverständlich von Institutionen, Festivals und akademischen Programmen übernommen werden, werden sie gleichzeitig zunehmend zu Hindernissen für Veränderung.
Einige Förderinstitutionen und Festivals in den USA haben schon immer eine größere ethnische und Geschlechterdiversität abgebildet als andere – darunter etwa MacArthur, Alpert und United States Artists. Andere, darunter einige der prestigeträchtigsten haben noch nie einen Preis an eine:n Komponist:in der Afrikanischen Diaspora vergeben oder ein Werk eines:r solchen ins Programm genommen. Trotzdem haben es sich manche der Institutionen nicht nehmen lassen, im Zuge der Ermordung von George Floyd eine pro forma Solidaritätsbekundung mit Black Lives Matter zu veröffentlichen.
Wir haben uns schon daran gewöhnt, zu hören, dass Förder- und Programmentscheidungen ausschließlich auf Leistung basieren – tatsächlich gibt es »die oder den beste:n Komponist:in« aber nicht. Die Auswirkungen dieses falschen Leistungsdenkens in Zusammenhang mit der Besetzung von kuratorischen, mittelvergebenden und akademischen Stellen, wurzelnd in was die Theoretikerin bell hooks »weißes, suprematistisch kapitalistisches Patriarchat« nennt, führen zu Akkumulationen in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft, und komplementären Erosionen in anderen Segmenten. Diese Erosionen spiegeln sich in der sehr niedrigen Anzahl von Frauen und Personen of color, die ich in mehr als 40 Jahren und in mehreren Ländern bei der Evaluation von Bewerbungen für Hochschulen, Stipendien, akademische Positionen etc. vorgefunden habe, ebenso wie in den entschieden nicht-diversen Programmen zeitgenössischer Musik allerorten.
All das deutet darauf hin, dass das, was wir bisher privilegiertes weiß-Sein genannt haben – ein Phänomen, das übrigens keineswegs auf die USA beschränkt ist –, zu einer Art unverdienter Billigkeit wird, die intersektional Genderlinien überschreitet. Tragisch daran ist, dass unzweifelhaft brillante Komponist:innen – männlich, weiblich, nicht binär –, die durch den Zufall der Geburt von diesem Unrechtssystem profitieren, ebenso wie alle anderen unweigerlich darin gefangen sind.
Auf diese Weise können junge Komponist:innen und Performer:innen mit nicht-majoritären Hintergründen für die kompositorische und/oder musikalische Früherziehung identifiziert und rekrutiert werden. Private und öffentliche Musikprogramme bis hin zur Universitätsebene sollten über öffentlich beworbene Pläne für die Erhöhung der Diversität verfügen, mit verbindlicher Evaluation des Erfolges.
Dazu können etwa spezifische Ausschreibungen für Komponist:innen of color und kulturelle Themenschwerpunkte zählen, die nicht-majoritäre Erfahrungen in den Vordergrund stellen. Denjenigen, die darin eine Form der verhassten Quote sehen, sei gesagt: »Wenn man an Privilegien gewöhnt ist, fühlt sich Gleichheit wie Unterdrückung an.« Einmal fragte ich meine Mutter: »Wenn es Muttertag und Vatertag gibt, warum gibt es dann keinen Kindertag?« Sie antwortete: »Jeder Tag ist Kindertag.« Anstatt mich als Opfer von Diskriminierung zu sehen, hielt ich es tatsächlich für selbstverständlich, Nutznießer all der täglichen Aufmerksamkeit zu sein.
Muhal Richard Abrams, Mitbegründer der Association of the Advancement of Creative Musicians, sagte einmal: »Wir wissen, dass es verschiedene Arten von Schwarzem Leben gibt, und deshalb wissen wir, dass es verschiedene Arten von Schwarzer Musik gibt. Denn Schwarze Musik geht aus Schwarzem Leben hervor.« In ähnlicher Weise wird dekolonisierte Musik aus dekolonisiertem Leben hervorgehen. Die Kurator:innen werden anfangen müssen, ein dekolonisiertes Leben zu leben, in dem neue Verhältnisse (auch mit Blick auf Gender) neue Klänge hervorbringen werden. Das Versäumnis, diese neuen Klänge zu hören, ist nicht nur eine Form von Reizdeprivation, sondern auch eine Sucht nach Ausgrenzung-als-Identität, die – wie es oft bei Süchten der Fall ist – in der Verarmung oder sogar im Tod endet.
Viele kuratorische Entscheidungen, besonders bei den prestigeträchtigsten Festivals, sind international und nicht auf ein Land beschränkt. Es gibt keinen Grund, warum große Musikinstitutionen, die sich selbst als international verstehen, weiterhin ausschließlich weiße Programme präsentieren sollten. Es sollten Kurator:innen aus nicht-majoritären Ethnien, Geschlechtern und Regionen engagiert werden – eine Praxis, die es dem Publikum ermöglichen würde, eine größere Bandbreite an ästhetischen und methodischen Richtungen zu hören. Obwohl sie selbst weit davon entfernt sind, perfekt zu sein, können wir uns an den Best Practices großer Institutionen der Bildenden Kunst seit der Documenta11 orientieren. Es wird nicht ausreichen, das Engagement von Künstler:innen of color auf Auftragsarbeiten mit geringem Aufwand und die Wiederaufführunge kostengünstiger, bereits bestehender Werke zu beschränken, während sie gleichzeitig von wichtigen Investitionen in Neuschöpfungen ausgeschlossen bleiben.
Es müssen Wege gefunden werden, die Dekolonisation neuer Musik in Radio und Fernsehen sowie Zeitungen, Zeitschriften und akademischen Journalen zu diskutieren. Bereits 1980 veröffentlichte die Neue Zeitschrift für Musik einen Artikel von John Rockwell, in dem Diversität als wichtiger Trend in der US-Musikkuration dargestellt wurde.2 Finden Sie heraus, was in letzter Zeit zu diesem Thema veröffentlicht wurde, und regen Sie mehr an.
Das vorliegende Essay basiert auf einem Vortrag, den ich im September 2020 im Rahmen der Konferenz »Curating Diversity in Europe - Decolonizing Contemporary Music« gehalten habe. Der Text auf der Website verwies auf die Notwendigkeit, »den Diskurs über Diversität in der zeitgenössischen Musik in Europa lebendig zu halten.« Allerdings beginne ich in letzter Zeit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Diversitätsdiskurs trotz der Fortschritte, die er gemacht hat, gerade jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Ich weiß, dass viele unter uns gerade erst angefangen haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen, und wenn dann jemand daherkommt und sagt, dass es eigentlich schon durch ist, ist das mindestens nervig. Ich höre schon seit Langem Menschen von Diversität reden, und im Laufe der Jahrzehnte habe ich eine beträchtliche Skepsis gegenüber diesem Diskurs und der Art und Weise, wie Institutionen ihn führen, aufgebaut.
In westeuropäischen Ländern zum Beispiel sind Genderstatistiken leichter verfügbar als andere demografische Erhebungen, während die Weigerung der Regierungen, Daten zu race und Ethnizität zu erheben, mit dem Argument der Förderung der nationalen Einheiten und der Vermeidung von Identitätspolitik gerechtfertigt werden. Während jedoch unter jedem kolonialen Regime die Frauen einen größeren Anteil an der Unterdrückung erfahren, wird diese Unterdrückung regelmäßig in Überschneidung mit der Ethnie ausgeübt. So schreibt der französische Soziologe Patrick Simon: »Man kann sich durchaus fragen, ob die Negierung von Minderheitsidentitäten, die in Frankreich im Namen des Universalismus vorherrscht, nicht oft einfach eine Taktik ist, um die Position der dominanten Gruppen zu festigen.«3 Ein intersektionaler Ansatz zu Gender und Ethnie sollte also Misstrauen gegenüber Diskursen hervorrufen, die vorschlagen, dass wir das eine zuerst bearbeiten können, um das andere hinten anzustellen oder gar auszuschließen. Schließlich wissen wir bereits seit Dr. Martin Luther King gesagt, warum wir nicht warten können.
Lassen wir uns nicht von den Ablenkungsmanövern derjenigen täuschen, die uns dazu bringen wollen, uns im Kreis zu drehen und uns mit fadenscheinigen Fragen von »Identitätspolitik« zu beschäftigen. Solche unheilvollen Binaritäten wie »Identität oder Exzellenz« und »Qualität oder Inklusion«, die so oft als Reaktion auf Forderungen nach einer größeren und vielfältigeren Repräsentation angeführt werden, zielen darauf ab, Initiativen von Nicht-Majoritären, die Raum gewinnen wollen, präventiv auszuschließen, während Frauen und Personen of color als die einzigen Vertreter:innen von Identitätspolitik am Platz dargestellt werden.
Ich glaube, dass eine mentale »Kreolisierung« es der zeitgenössischen Musik erlauben würde, sich über ihre eurozentrische Vorstellung von musikalischer Identität hinaus zu bewegen, um eine wahrhafte Weltmusik zu werden.4 Und mit eurozentrisch meine ich nicht »Eurological« – ein Begriff, den ich immer häufiger sehe und den ich 1996 in einem Artikel erfunden habe.5 Für mich könnte das Eurologische, neben anderer kultureller Logiken, Teil eines kontinuierlich fragenden, vernetzten Projekts der Dekolonisierung werden. Das Eurozentrische erscheint dagegen vereinfachend, hegemonial, hermetisch und, wie es in in jenem älteren Artikel hieß, »ethnisch essentialistisch«.
Ich griff auf das Modell der Kreolisierung zurück, um den imaginären Klang der Dekolonisation der Neuen Musik für unser kollektives inneres Ohr hörbar zu machen. Natürlich habe ich diese Metapher ursprünglich gewählt, weil sie sich speziell auf ethnische Aspekte und das Multinationale bezieht. Eine kreolisierte zeitgenössische Musikkultur wäre sensibel für ethnische Aspekte, nicht taub dafür, und würde eine Mosaik-Identität etablieren, die historische, geografische und kulturelle Querverbindungen anerkennt – nicht so sehr, um dadurch Diversität zu erreichen, sondern um eine neue Komplexität zu ermöglichen, die eine weitaus größere kreative Tiefe verspricht.
Einige Kinder of color, die jetzt geboren werden, werden ein neues klangliches Kapitel in der Geschichte der Region und der Welt schreiben. Eines, das mit dem Philosophen Arnold I. Davidson das wahre Versprechen der Dekolonisation der Neuen Musik anerkennt: »Multiplikation der Perspektiven bedeutet Multiplikation der Möglichkeiten.« So können wir vielleicht »Diversität« in Richtung »Dekolonisierung der Neuen Musik« umlenken.
Doch was hält uns davon ab, dieses Versprechen zu verwirklichen? Das größte Hindernis ist wahrscheinlich eine Blockade des Bewusstseins. Ich fürchte, dass der Diversitätsdiskurs zu einer Prothese für Inklusion geworden ist – wie ein klobiger Knieersatz aus Metall. Wir müssen stattdessen gemeinsam ein neues, inkarnatives »Wir« erfinden, das die zeitgenössische Musik nicht als globalisierte, paneuropäische, weiße Klangdiaspora versteht, sondern eher wie den Blues, der von den unterschiedlichsten Menschen in vielen Variationen rund um die Welt praktiziert wird. Wenn dieses neue »Wir« »unserer« Zukunft optimistisch entgegenblicken kann, auch mit all ihren Turbulenzen, wenn wir uns konzeptuell in die Situation von Kreol:innen versetzen können, können wir unsere gemeinsame Menschlichkeit im Streben nach einer Dekolonisation der Neuen Musik bestärken. ¶
1 Sara Ahmed, On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life (Durham and London: Duke University Press, 2012), S. 38–39.
2 John Rockwell, »›New Music‹ in Amerika«, Neue Zeitschrift für Musik (November-December 1980): S. 546–551.
3 George E. Lewis, »The Situation of a Creole«, in: Defining Twentieth- and Twenty-First-Century Music, forum convened and edited by David Clarke, Twentieth Century Music 14:3 (2017): S. 442–46.
4 George E. Lewis, »Improvised Music After 1950: Afrological and Eurological Perspectives«, Black Music Research Journal, vol. 16, No.1 (Spring 1996): S. 91–122.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag im Rahmen von »Curating Diversity in Europe – Decolonizing Contemporary Music«, einem Symposium von Sounds Now, in Kooperation mit der Akademie der Künste Berlin, inm / field notes und Ultima festival in Oslo.
Text George E. Lewis
Übersetzung Patrick Klingenschmitt
Titelbild © Tadashi Lewis
Meine kurze aber unvergessliche Zusammenarbeit mit dem Klangkunstkollektiv Ultra-Red 2012 im Whitney Museum of American Art befasste sich mit der Frage: »Wie klingt Freiheit?«
An dieses Projekt musste ich denken, als ich in Outernational das Interview »Wie klingt Kolonialismus?« mit meLê yamomo las. Mit allem Respekt gegenüber den interessanten Ideen, die sich dort finden, glaube ich doch, dass wir sehr genau wissen, wie Kolonialismus klingt. Wir hören ihn bei allzu vielen Festivals für zeitgenössische Musik weltweit, die munter und in Dauerschleife den Stereotyp exklusiven weiß-Seins rund um das Selbstbild der klassischen Musik weiterspielen. Dabei sind es nicht die Komponist:innen und Improvisateur:innen, die den Klang des Kolonialismus produzieren. Vielmehr sind es die Kurator:innen und Institutionen.
Was wir stattdessen wollen: dass die Entscheidungsträger:innen ihrem Publikum helfen zu entdecken, wie Dekolonisation klingt. Wie können wir der Verarmung und Stagnation, die aus einer fortdauernden Abwesenheit der immer gleichen ethnischen, klassenzugehörigen und gegenderten Stimmen auf Bühnen, in Medien, Musikgeschichte und professionellen Netzwerken resultieren, entgegenwirken? Wie können Musikkurator:innen anfangen, Dekolonisation zu komponieren? Wie könnte eine dekolonisierte kuratorische Praxis klingen?
Zu einem gewissen Grad wissen wir bereits seit der Documenta11 von 2002 – als der inzwischen verstorbene Okwui Enwezor aus Nigeria als erster nicht-weißer Kurator des Festivals berufen wurde – wie eine solche Praxis aussehen kann. Die Kunsthistoriker Anthony Gardner und Charles Green hielten fest, dass die Documenta11 ein Bild der zeitgenössischen Kunst als Netzwerk präsentiere, in dem New York, Lagos, London, Cape Town und Basel für einen zeitgenössischen Kanon und das Verstehen der Gegenwartskunst mehr oder weniger gleichbedeutend wichtig sind, anstatt einige Zentren als exotische Randerscheinungen und andere als originär kosmopolitisch und zeitgenössisch darzustellen. Warum nehmen sich Festivals und Institutionen im Bereich der zeitgenössischen Musik daran kein Beispiel?
Ich warte darauf, dass wir in allen klanglichen Bereichen bei kleinen und großen Festivals Dekolonisation hören können – ebenso wie es bisher mit dem Kolonialismus der Fall ist. Ich möchte dieses kurze Essay nutzen, um acht Schritte vorzuschlagen, die wir alle gemeinsam gehen können, um dieses Ziel zu erreichen.
Sara Ahmed schreibt in On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life: »Institutionelle Logik funktioniert ähnlich wie Verwandtschaftsbeziehungen: als eine Art von ›in Beziehung stehen‹ und ›in Beziehung bleiben‹ [...] Institutionellem weiß-Sein geht es im Kern um die Reproduktion von Gleichheit [...]. Institutionen sind Verwandtschaftstechnologien, um eine Art soziale Beziehungen zu reproduzieren.«1 In der Musik sind Genre und Verwandtschaft ebenfalls häufig gemeinsam anzutreffen, wie schon etymologisch in der gemeinsamen Wurzel gen- angezeigt (genetisch, Genotyp und auch Gender). Genrebegriffe wie improvisierte Musik, Klassik, zeitgenössisch/contemporary, Jazz, Neue Musik, etc. transportieren ebenfalls die Reproduktion von Gleichheit, während ihre wahre Natur gleichzeitig eher dem Bett des Prokrustes entspricht. Während diese verwandtschaftsmäßigen Diskurse wie selbstverständlich von Institutionen, Festivals und akademischen Programmen übernommen werden, werden sie gleichzeitig zunehmend zu Hindernissen für Veränderung.
Einige Förderinstitutionen und Festivals in den USA haben schon immer eine größere ethnische und Geschlechterdiversität abgebildet als andere – darunter etwa MacArthur, Alpert und United States Artists. Andere, darunter einige der prestigeträchtigsten haben noch nie einen Preis an eine:n Komponist:in der Afrikanischen Diaspora vergeben oder ein Werk eines:r solchen ins Programm genommen. Trotzdem haben es sich manche der Institutionen nicht nehmen lassen, im Zuge der Ermordung von George Floyd eine pro forma Solidaritätsbekundung mit Black Lives Matter zu veröffentlichen.
Wir haben uns schon daran gewöhnt, zu hören, dass Förder- und Programmentscheidungen ausschließlich auf Leistung basieren – tatsächlich gibt es »die oder den beste:n Komponist:in« aber nicht. Die Auswirkungen dieses falschen Leistungsdenkens in Zusammenhang mit der Besetzung von kuratorischen, mittelvergebenden und akademischen Stellen, wurzelnd in was die Theoretikerin bell hooks »weißes, suprematistisch kapitalistisches Patriarchat« nennt, führen zu Akkumulationen in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft, und komplementären Erosionen in anderen Segmenten. Diese Erosionen spiegeln sich in der sehr niedrigen Anzahl von Frauen und Personen of color, die ich in mehr als 40 Jahren und in mehreren Ländern bei der Evaluation von Bewerbungen für Hochschulen, Stipendien, akademische Positionen etc. vorgefunden habe, ebenso wie in den entschieden nicht-diversen Programmen zeitgenössischer Musik allerorten.
All das deutet darauf hin, dass das, was wir bisher privilegiertes weiß-Sein genannt haben – ein Phänomen, das übrigens keineswegs auf die USA beschränkt ist –, zu einer Art unverdienter Billigkeit wird, die intersektional Genderlinien überschreitet. Tragisch daran ist, dass unzweifelhaft brillante Komponist:innen – männlich, weiblich, nicht binär –, die durch den Zufall der Geburt von diesem Unrechtssystem profitieren, ebenso wie alle anderen unweigerlich darin gefangen sind.
Auf diese Weise können junge Komponist:innen und Performer:innen mit nicht-majoritären Hintergründen für die kompositorische und/oder musikalische Früherziehung identifiziert und rekrutiert werden. Private und öffentliche Musikprogramme bis hin zur Universitätsebene sollten über öffentlich beworbene Pläne für die Erhöhung der Diversität verfügen, mit verbindlicher Evaluation des Erfolges.
Dazu können etwa spezifische Ausschreibungen für Komponist:innen of color und kulturelle Themenschwerpunkte zählen, die nicht-majoritäre Erfahrungen in den Vordergrund stellen. Denjenigen, die darin eine Form der verhassten Quote sehen, sei gesagt: »Wenn man an Privilegien gewöhnt ist, fühlt sich Gleichheit wie Unterdrückung an.« Einmal fragte ich meine Mutter: »Wenn es Muttertag und Vatertag gibt, warum gibt es dann keinen Kindertag?« Sie antwortete: »Jeder Tag ist Kindertag.« Anstatt mich als Opfer von Diskriminierung zu sehen, hielt ich es tatsächlich für selbstverständlich, Nutznießer all der täglichen Aufmerksamkeit zu sein.
Muhal Richard Abrams, Mitbegründer der Association of the Advancement of Creative Musicians, sagte einmal: »Wir wissen, dass es verschiedene Arten von Schwarzem Leben gibt, und deshalb wissen wir, dass es verschiedene Arten von Schwarzer Musik gibt. Denn Schwarze Musik geht aus Schwarzem Leben hervor.« In ähnlicher Weise wird dekolonisierte Musik aus dekolonisiertem Leben hervorgehen. Die Kurator:innen werden anfangen müssen, ein dekolonisiertes Leben zu leben, in dem neue Verhältnisse (auch mit Blick auf Gender) neue Klänge hervorbringen werden. Das Versäumnis, diese neuen Klänge zu hören, ist nicht nur eine Form von Reizdeprivation, sondern auch eine Sucht nach Ausgrenzung-als-Identität, die – wie es oft bei Süchten der Fall ist – in der Verarmung oder sogar im Tod endet.
Viele kuratorische Entscheidungen, besonders bei den prestigeträchtigsten Festivals, sind international und nicht auf ein Land beschränkt. Es gibt keinen Grund, warum große Musikinstitutionen, die sich selbst als international verstehen, weiterhin ausschließlich weiße Programme präsentieren sollten. Es sollten Kurator:innen aus nicht-majoritären Ethnien, Geschlechtern und Regionen engagiert werden – eine Praxis, die es dem Publikum ermöglichen würde, eine größere Bandbreite an ästhetischen und methodischen Richtungen zu hören. Obwohl sie selbst weit davon entfernt sind, perfekt zu sein, können wir uns an den Best Practices großer Institutionen der Bildenden Kunst seit der Documenta11 orientieren. Es wird nicht ausreichen, das Engagement von Künstler:innen of color auf Auftragsarbeiten mit geringem Aufwand und die Wiederaufführunge kostengünstiger, bereits bestehender Werke zu beschränken, während sie gleichzeitig von wichtigen Investitionen in Neuschöpfungen ausgeschlossen bleiben.
Es müssen Wege gefunden werden, die Dekolonisation neuer Musik in Radio und Fernsehen sowie Zeitungen, Zeitschriften und akademischen Journalen zu diskutieren. Bereits 1980 veröffentlichte die Neue Zeitschrift für Musik einen Artikel von John Rockwell, in dem Diversität als wichtiger Trend in der US-Musikkuration dargestellt wurde.2 Finden Sie heraus, was in letzter Zeit zu diesem Thema veröffentlicht wurde, und regen Sie mehr an.
Das vorliegende Essay basiert auf einem Vortrag, den ich im September 2020 im Rahmen der Konferenz »Curating Diversity in Europe - Decolonizing Contemporary Music« gehalten habe. Der Text auf der Website verwies auf die Notwendigkeit, »den Diskurs über Diversität in der zeitgenössischen Musik in Europa lebendig zu halten.« Allerdings beginne ich in letzter Zeit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Diversitätsdiskurs trotz der Fortschritte, die er gemacht hat, gerade jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Ich weiß, dass viele unter uns gerade erst angefangen haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen, und wenn dann jemand daherkommt und sagt, dass es eigentlich schon durch ist, ist das mindestens nervig. Ich höre schon seit Langem Menschen von Diversität reden, und im Laufe der Jahrzehnte habe ich eine beträchtliche Skepsis gegenüber diesem Diskurs und der Art und Weise, wie Institutionen ihn führen, aufgebaut.
In westeuropäischen Ländern zum Beispiel sind Genderstatistiken leichter verfügbar als andere demografische Erhebungen, während die Weigerung der Regierungen, Daten zu race und Ethnizität zu erheben, mit dem Argument der Förderung der nationalen Einheiten und der Vermeidung von Identitätspolitik gerechtfertigt werden. Während jedoch unter jedem kolonialen Regime die Frauen einen größeren Anteil an der Unterdrückung erfahren, wird diese Unterdrückung regelmäßig in Überschneidung mit der Ethnie ausgeübt. So schreibt der französische Soziologe Patrick Simon: »Man kann sich durchaus fragen, ob die Negierung von Minderheitsidentitäten, die in Frankreich im Namen des Universalismus vorherrscht, nicht oft einfach eine Taktik ist, um die Position der dominanten Gruppen zu festigen.«3 Ein intersektionaler Ansatz zu Gender und Ethnie sollte also Misstrauen gegenüber Diskursen hervorrufen, die vorschlagen, dass wir das eine zuerst bearbeiten können, um das andere hinten anzustellen oder gar auszuschließen. Schließlich wissen wir bereits seit Dr. Martin Luther King gesagt, warum wir nicht warten können.
Lassen wir uns nicht von den Ablenkungsmanövern derjenigen täuschen, die uns dazu bringen wollen, uns im Kreis zu drehen und uns mit fadenscheinigen Fragen von »Identitätspolitik« zu beschäftigen. Solche unheilvollen Binaritäten wie »Identität oder Exzellenz« und »Qualität oder Inklusion«, die so oft als Reaktion auf Forderungen nach einer größeren und vielfältigeren Repräsentation angeführt werden, zielen darauf ab, Initiativen von Nicht-Majoritären, die Raum gewinnen wollen, präventiv auszuschließen, während Frauen und Personen of color als die einzigen Vertreter:innen von Identitätspolitik am Platz dargestellt werden.
Ich glaube, dass eine mentale »Kreolisierung« es der zeitgenössischen Musik erlauben würde, sich über ihre eurozentrische Vorstellung von musikalischer Identität hinaus zu bewegen, um eine wahrhafte Weltmusik zu werden.4 Und mit eurozentrisch meine ich nicht »Eurological« – ein Begriff, den ich immer häufiger sehe und den ich 1996 in einem Artikel erfunden habe.5 Für mich könnte das Eurologische, neben anderer kultureller Logiken, Teil eines kontinuierlich fragenden, vernetzten Projekts der Dekolonisierung werden. Das Eurozentrische erscheint dagegen vereinfachend, hegemonial, hermetisch und, wie es in in jenem älteren Artikel hieß, »ethnisch essentialistisch«.
Ich griff auf das Modell der Kreolisierung zurück, um den imaginären Klang der Dekolonisation der Neuen Musik für unser kollektives inneres Ohr hörbar zu machen. Natürlich habe ich diese Metapher ursprünglich gewählt, weil sie sich speziell auf ethnische Aspekte und das Multinationale bezieht. Eine kreolisierte zeitgenössische Musikkultur wäre sensibel für ethnische Aspekte, nicht taub dafür, und würde eine Mosaik-Identität etablieren, die historische, geografische und kulturelle Querverbindungen anerkennt – nicht so sehr, um dadurch Diversität zu erreichen, sondern um eine neue Komplexität zu ermöglichen, die eine weitaus größere kreative Tiefe verspricht.
Einige Kinder of color, die jetzt geboren werden, werden ein neues klangliches Kapitel in der Geschichte der Region und der Welt schreiben. Eines, das mit dem Philosophen Arnold I. Davidson das wahre Versprechen der Dekolonisation der Neuen Musik anerkennt: »Multiplikation der Perspektiven bedeutet Multiplikation der Möglichkeiten.« So können wir vielleicht »Diversität« in Richtung »Dekolonisierung der Neuen Musik« umlenken.
Doch was hält uns davon ab, dieses Versprechen zu verwirklichen? Das größte Hindernis ist wahrscheinlich eine Blockade des Bewusstseins. Ich fürchte, dass der Diversitätsdiskurs zu einer Prothese für Inklusion geworden ist – wie ein klobiger Knieersatz aus Metall. Wir müssen stattdessen gemeinsam ein neues, inkarnatives »Wir« erfinden, das die zeitgenössische Musik nicht als globalisierte, paneuropäische, weiße Klangdiaspora versteht, sondern eher wie den Blues, der von den unterschiedlichsten Menschen in vielen Variationen rund um die Welt praktiziert wird. Wenn dieses neue »Wir« »unserer« Zukunft optimistisch entgegenblicken kann, auch mit all ihren Turbulenzen, wenn wir uns konzeptuell in die Situation von Kreol:innen versetzen können, können wir unsere gemeinsame Menschlichkeit im Streben nach einer Dekolonisation der Neuen Musik bestärken. ¶
1 Sara Ahmed, On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life (Durham and London: Duke University Press, 2012), S. 38–39.
2 John Rockwell, »›New Music‹ in Amerika«, Neue Zeitschrift für Musik (November-December 1980): S. 546–551.
3 George E. Lewis, »The Situation of a Creole«, in: Defining Twentieth- and Twenty-First-Century Music, forum convened and edited by David Clarke, Twentieth Century Music 14:3 (2017): S. 442–46.
4 George E. Lewis, »Improvised Music After 1950: Afrological and Eurological Perspectives«, Black Music Research Journal, vol. 16, No.1 (Spring 1996): S. 91–122.
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