Ipek Ipekçioğlu, Petra Nachtmanova und Ceyhun Kaya produzieren anatolische Volkslieder neu – und kennen das Material. Ein Interview in Neukölln
Text Merle Krafeld
Fotos Arnaud Ele
Prinzenstraße, ein paar Hundert Meter von Taner Akyols Musikatelier entfernt. Hier treffen sich die drei Musiker*innen im Studio von Ipek Ipekçioğlu, um als Karmatürji an ihrem ersten Album zu arbeiten. Eine Mischung aus elektronischer Musik, Deephouse, TripHop, Jazz und Techno – basierend auf alten Liedern aus Anatolien, zu denen sie ganz unterschiedlich Zugänge haben: Ipek Ipekçioğlu ist Produzentin und DJ, eine der ersten, die in Berlin türkische Musik aufgelegt haben. Seit fast 20 Jahren ist sie für das musikalische Konzept der homo-oriental Gayhane-Partyreihe im Kreuzberger SO36 mitverantwortlich und tritt international in diversen Clubs und auf Festivals auf, sie selbst organisiert auch Festivals. Ihren Stil nennt sie »Eklektik BerlinIstan«. Wie der Multi-Instrumentalist Ceyhun Kaya (Klarinette, Sopransaxophon, Trompete, Bağlama) ist sie mit anatolischen Volksliedern aufgewachsen – anders als Petra Nachtmanova, die diese Musik erst vor einigen Jahren in Berlin entdeckte. Bei Nevzat Akpinar und Taner Akyol hat sie Bağlama gelernt (über die sie gemeinsam mit Regisseur Stephan Talneau die Doku SAZfilm gedreht hat, Release Ende 2018 auf arte) und in Istanbul Türkisch, das sie mittlerweile fließend und so gut wie akzentfrei spricht. Sie tritt als Solokünstlerin mit Gesang und Bağlama auf oder mit anderen Bandprojekten wie Oko, zusammen mit Ceyhun organisiert sie außerdem die Konzertreihe Beynel Milel.
Kein wirklicher Karmatürji-Track, aber auch eine Zusammenarbeit von Ipek und Petra: »Uyan Uyan«, nach dem Gedicht »Ötme Bülbül Ötme« von Pir Sultan Abdal, einem fahrenden Poeten und Sänger des 16. Jahrhunderts, erschienen 2016 auf Katermukke.
Ipek, dem Renk-Magazin hast du gesagt: ›Petra ist die richtige Lady, wenn es darum geht, alte Lieder mit einem gewissen Respekt zu singen.‹ Was genau meinst du damit?
Ipek: Sie kennt den Background. Wir ›Türkeistämmige‹ singen die Lieder oft, weil wir sie von klein auf kennen, denken aber nicht darüber nach, was sie bedeuten, woher sie kommen, wer sie geschrieben hat, vor welchem Background sie damals gesungen wurden. Pir Sultan Abdal [auf dessen Lied Ötme Bülbül Ötme der Track Uyan Uyan basiert, d. Red] zum Beispiel steht für eine bestimmte politische, systemkritische Haltung. Das wissen wir oft gar nicht, Petra schon. Weil sie nicht einfach daherkommt und sich kulturimperialistisch diese Lieder nimmt und sagt: ›Ach, is ja schick, ma wat anderet, sing ich ma.‹
Ich hab gelesen, dass du, Petra, angefangen hast Bağlama zu spielen, weil dir der Klang so gefällt. Kannst du genauer beschreiben, was dich an dem Klang fasziniert?
Petra: Ich komme aus der klassischen Ecke, habe vorher Oboe gespielt und klassisch gesungen, bin eigentlich viel mehr Sängerin als Instrumentalistin. Ich hab immer viel Barock-Musik gehört, viel Cembalo. Für mich gibt es da vom Klang her schon Parallelen zur Bağlama – es ist relativ schrill.
Bağlama spiele ich seit ungefähr 2011, mit Unterbrechungen. Angefangen habe ich hier in Berlin, weil ich erst hier mitbekommen habe, dass es solche Musik überhaupt gibt. Ich bin dann erst zu einem Kurs gegangen mit lauter Jugendlichen und danach nach Istanbul um Türkisch zu lernen, damit ich die Texte, die ich singe, auch verstehen kann.
Wie hast Du dich mit den Vierteltönen und Rhythmen dieser Lieder vertraut gemacht, die du ja nicht von klein auf gewohnt bist?
Petra: Alle ›Europäer‹, die sich mit außereuropäischer Musik beschäftigen, haben irgendwann mit Rhythmen, Modi und Tonleitern zu tun, die in Europa nicht existieren, die erstmal nicht im Ohr sind. Wenn du das dann aber fünf Jahre lang jeden Tag hörst – dann imitierst du es halt. Du musst ein bisschen zurück in eine Kindes-Mentalität. Aber es ist schon die Frage: Wie weit kann ich das so verstehen oder interpretieren wie jemand, der damit wirklich aufgewachsen ist?
Gibt es bei deinen Konzerten, die du ja nicht nur in Berlin spielst, sondern zum Beispiel auch in der Türkei, manchmal Leute, die nachher ankommen und etwas sagen wie: ›Dieses oder jenes hast du aber nicht ganz verstanden‹?
Petra: Das gibt es, aber das kommt nicht oft vor. Meistens sagen die Leute eher: ›Das hast du aber gut gemacht!‹ Sie freuen sich, dass sich jemand für ihre Volksmusik interessiert – relativ erschreckend, dass das immer noch so selten vorkommt anscheinend. Aber die kritischen Kommentare sind auch sehr wichtig und interessant, man lernt aus ihnen, wo man steht, welchen Weg man noch gehen muss.
Ipek: Die Menschen nehmen oft erstmal die Haltung ein: ›Na, mal gucken, ob sie das überhaupt singen kann.‹ Und dann sind sie total beeindruckt, wie du singen und Bağlama spielen kannst – und dass du dich so gut auskennst.
Petra: Wenn man da so tief eintaucht wie ich, dann merkt man: Man kann diese Lieder nicht einfach so singen. Das ist kulturell so vielschichtig, dahinter stehen eine ganze Philosophie und religiöse Ebenen. Man muss sich damit auseinandersetzen, sonst kann es sein, dass man wirklich falsche Dinge tut.
Ipek: Es ist sehr selten, dass eine ›Europäerin‹ anatolische Musik – auch noch aus einer ganz bestimmten Nische, alevitische Lieder – spielt. Da sind die Menschen zum Teil vor dem Konzert erstmal kritischer – nach dem Motto: Kann sie das denn auch wirklich?
Petra: Am Anfang hatte ich schon Situationen, in denen ich irgendwo ankam zum Spielen und da standen 15 Typen im Raum ... (ahmt eine abwehrende Haltung mit verschränkten Armen nach)
Ipek: ... und sehen: Da kommt jetzt eine Frau, eine Saz-Spielerin! ...
Perta: ... und dann war es wirklich so: ›Na, jetzt zeig mal!‹ Aber das gibt es immer weniger.
Ipek: Jetzt bist du etablierter, hast einen Namen.
Petra: Viele kennen mich auch von Youtube und sprechen mich an: ›Ey, bist du Petra von Youtube?‹
Ipek, du meinstest eben, Petra singt vor allem Lieder aus einer bestimmten Nische. Kannst du genauer erklären, was du damit meinst?
Ipek: Petra singt vor allem alevitische Gesänge, Deyiş-Gesänge, die sehr stark auf einem Singer-Songwriter-Prinzip beruhen: Männer, die von einem Ort zu anderen gezogen sind und über das Leid der Gesellschaft geklagt haben. Sie gehörten der Glaubensrichtung der Aleviten an, kann man das so sagen, Petra?
Petra: Ja, irgendwie. Das Wort ›Alevit‹ gibt es erst seit den 60er- oder 70er-Jahren wirklich, davor ist es sehr undefiniert. Und die Lieder sind ja meist viel älter. Aber man kann sagen, dass es Leute beschreibt, die sich der Bağlama sehr verbunden fühlen und irgendwie zum Islam gehören, aber nicht so ganz. Sie sind zum Beispiel vorislamischen Kulturen etwas näher.
Ipek: Das ist ein großer Streitpunkt! Aber Türküs wie Ötme Bülbül Ötme von Pir Sultan Abdal wurden von allen gehört, ob alevitisch oder sunnitisch, links oder rechts.
Petra: Neşet Ertaş wäre vielleicht ein noch besseres Beispiel für jemanden, dessen Lieder nicht alevitisch konnotiert sind, obwohl sie aus so einer Tradition kommen. Ötme Bülbül Ötme von Pir Sultan Abdal ist schon sehr alevitisch. Hinter allem steht so viel Politisches ...
Ceyhun: Die Lieder von Pir Sultan Abdal sind mündlich überlieferte Geschichte, sie erzählen vom Alltag und den Problemen der Menschen damals. Volkslieder entstehen ja immer in Kontexten, aus gewissen Bedürfnissen der Leute, die sie singen, heraus. Natürlich gibt es auch viele Liebeslieder, aber eben auch solche, die von Revolution erzählen, vom Widerstand gegen den Feudalherren, die die Solidarität der Menschen untereinander stärken. Aufgeschrieben werden die Lieder dann erst im 20. Jahrhundert. Die Türkei gibt es als Staat ja auch erst seit 1923. Und in diesen nationalen Strömungen im 20. Jahrhundert muss man dann wirklich sehr detailliert gucken: Wer singt was warum?
Es gibt auf jeden Fall viel Politisches im Hintergrund, das ist ein riesiges Thema, das kann man jetzt so schnell gar nicht erklären.
Ipek, Ceyhun und Petra
Wenn ihr die Lieder heute als Karmatürji spielt, fügt ihr ihnen dann neue politische Dimensionen hinzu?
Ipek: Eher sozialkritische. Wir sind keine Polit-Band.
Ceyhun: Wenn man mit anatolischen Volksliedern arbeitet, ist es automatisch politisch.
Petra: Wir können die Musik für unsere Probleme hier bedeutend machen. Wenn du etwas liest über Ungerechtigkeit in einem bestimmten Kontext, kannst du das übertragen auf Menschen, die heute unterdrückt werden.
Petra: Jemand, der Türküs richtig politisch macht, ist Adir Jan.
Der schreibt auf die alten kurdischen Lieder seine eigenen Texte ...
Ipek: ... LGBTI-Texte, auch auf kurdisch ...
Petra: ... und spielt Saz dazu.
Ipek: »Ich hab jetzt auch einige Frauen aufgezählt, damit es nicht so eine Männer-lastige Geschichte wird.«
Petra: »Es ist aber eigentlich eine Männer-lastige Geschichte!«
Taner Akyol meinte im Gespräch mit Elisa Erkelenz, dass er bei allem Neuen, was er mit der Bağlama macht, einiges wie die Makamlar [die Modi] oder die Vierteltöne nicht antastet. Gibt es auch bei euch etwas, wo ihr sagt: Das ist der Kern eines Liedes und das muss so bleiben?
Ipek: Bei Ötme Bülbül Ötme haben wir zum Beispiel den Ablauf des Songs beibehalten, die Melodie und den Makam.
Petra: Aber wenn ich es in einem Moment als richtig empfinde, dann kann mich keiner daran hindern, die Melodie zu ändern – weil Veränderung auch Teil dieser Tradition ist, weil viele zum Beispiel auch die Gedichte nochmal anders vertont oder die Zeilen umgestellt haben. Das ist ja eine Volkskunst, oft gibt es von einem Lied verschiedene Versionen. Man ist also flexibel innerhalb der Tradition, weil sie sich immer verändert und entwickelt hat. Deswegen kann ich mir auch vorstellen, dass wir Dinge komplett ändern, wenn es sich richtig anfühlt. Und dann gibt es ja auch noch den Spiegel: Wie nehmen es die Leute an? Habe ich es der Tradition gemäß verändert oder bin ich zu weit gegangen?
Karmatürji
... bei einem Konzert im Juli 2017
Wie sind denn die Rückmeldungen?
Ipek: Bei Uyan Uyan gab es ziemlich viel Feedback. Der Track war auf Beatport Platz fünf aller von Katermukke verkaufter Songs – was toll ist. Am meisten wurde er in Istanbul gehört. Aber auch viele Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation hören diese Lieder, weil sie dadurch einen anderen Bezug zu Musik aus der Türkei bekommen, zu Liedern, die sie von ihren Eltern mit Saz kennen, sehr traditionell. Die denken: Wow, in dieser Version, mit Baseline, Beats, im Club-Zusammenhang, hab ich das noch nie gehört. Oft kommt dann: ›Vielen Dank, jetzt kriege ich einen anderen Zugang zu dieser Türkü-Tradition.‹ Wir sind aber auch noch in einer Entwicklungsphase, auf der Suche nach einem eigenen Sound.
Ceyhun: Das, was wir machen, ist eine Reise, ein Weg. Unterwegs finden wir ganz viele Bausteine und schauen dann, wie sich das fügt. Noch wissen wir nicht, ob es sich überhaupt fügt.
Funktioniert der Türkü-Gesang rein stimmtechnisch anders als ›europäischer‹ klassischer oder Pop-Gesang?
Petra: Es ist ein anderer Stimmansatz. Wie gut ich den meistere, weiß ich nicht. Aber ich verwende verschiedene Ansätze. Wir mischen, probieren Sachen aus. Bei Ey Aşk Eri singe ich am Anfang überhaupt nicht wie Türkü, sondern mit einem anderen Ansatz und Vocoder.
Ipek: Türkü ist nur eine der Musikrichtungen, mit denen wir arbeiten, aber nicht die einzige. Und wir haben eigene Kompositionen, aber auch da beziehen wir Türkü-Elemente stark ein: Eine bestimmte Form von Gesang, von Beats, ein bestimmter Aufbau der Lieder. ›Karma‹ bedeutet eigentlich ›gemischt‹, ›tür‹ bedeutet ›Style‹. Wir wollen uns einfach musikalisch offen halten. Die Tradition ist ja dafür da, dass sie erweitert wird.
Petra: Alles in einem gewissen Maß. Vor allem, wenn man ›Europäerin‹ ist, muss man immer gucken, wie weit man gehen darf.
Ipek: Als ›Almancı‹ ja auch! (lacht) Wir bringen eben auch unsere eigenen Kulturen ein. Dazu gehört, dass ich eine Frau bin, Feministin, lesbisch, ›Türkeistämmige‹, vielen Minderheiten in der Türkei zugehörig bin, hier in Deutschland aufgewachsen bin und elektronische Musik produziere.
Petra: Ich bringe Polnisches, Tschechisches, Österreichisches mit ein.
Ipek: Und Ceyhun kommt aus Ankara, ist am Schwarzen Meer aufgewachsen, hat georgische Backgrounds, hat jahrelang in Istanbul gelebt, spielt seine Instrumente aber eher experimentell-jazzig.
Petra: ... und singt! Sehr charakteristisch, osmanisch, arabesk.
Jetzt lebt ihr alle drei in Berlin. Und auch hier gibt es ja ein paar sogenannte Türkü-Bars. Könnt ihr erklären, was da passiert?
Ipek: In der traditionellen Türkü-Bar hast du einen Saz-Spieler, der spielt und singt und ab und zu singst du mit.
Petra: ... und der muss alles können, bestimmt 500 Lieder! Wie eine Live-Jukebox.
Welche Türkü-Bar ist die beste Berlins?
Petra: Divan in Kreuzberg, am Wochenende.
Gibt es bestimmte Codes oder Regeln, die ich kennen muss, bevor ich da hingehe?
Ipek: Nein! Das ist ein ganz normaler Laden, du musst keine Angst haben, dich nicht verkleiden, einfach hingehen. Am besten einen Tisch reservieren, weil es voll ist.
Petra: Für dich scheint das so, Ipek! Aber ich kann mich erinnern, dass es, als ich zum ersten Mal in einer Türkü-Bar war, echt eine andere Dimension war. Total abgespacet! Da ist dann auch wahrscheinlich sonst kein ›Europäer‹. Man fühlt sich sehr ›anders‹, fremd. Die Leute gucken schon, wer da kommt, aber auf eine sehr freundliche Art, die freuen sich, wenn man interessiert ist. Am besten ist es, in einer Gruppe hinzugehen. Türkü-Bar ist was Gemeinschaftliches.
Ipek: Und du musst Rakı trinken für das richtige Türkü-Bar Gefühl! (lacht) ¶
Wir nutzen die von dir eingegebene E-Mail-Adresse, um dir in regelmäßigen Abständen unseren Newsletter senden zu können. Falls du es dir mal anders überlegst und keine Newsletter mehr von uns bekommen möchtest, findest du in jeder Mail in der Fußzeile einen Unsubscribe-Button. Damit kannst du deine E-Mail-Adresse aus unserem Verteiler löschen. Weitere Infos zum Thema Datenschutz findest du in unserer Datenschutzerklärung.
OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
Wir nutzen die von dir eingegebene E-Mail-Adresse, um dir in regelmäßigen Abständen unseren Newsletter senden zu können. Falls du es dir mal anders überlegst und keine Newsletter mehr von uns bekommen möchtest, findest du in jeder Mail in der Fußzeile einen Unsubscribe-Button. Damit kannst du deine E-Mail-Adresse aus unserem Verteiler löschen. Weitere Infos zum Thema Datenschutz findest du in unserer Datenschutzerklärung.
OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.