Text Arnaud Robert
Übersetzung Mirka Lankamp
Fotos © Christopher Smolkovic
Unvermittelt erscheint Kamilya Jubran auf dem Bildschirm. Man könnte meinen, sie hat die Szenerie geplant. Hinter ihr, auf einem Bett, ruht eine Oud, die alt aussieht und den Anschein erweckt, dass sie zwischen zwei Proben ein kurzes Nickerchen braucht. »Mein Vater hat sie für mich gebaut. Ich besitze noch zwei Lauten aus seiner Herstellung, mehr nicht.«
Vor einigen Monaten, lange vor der Pandemie, hat Kamilya Jubran mit dem Trompeter und Pionier der elektronischen Musik Werner Hasler ein Album mit dem Titel Wa veröffentlicht: ein langes, ausschweifendes Stück von 46 Minuten, Gebete in Ostinato, elektronische spektrale Klänge, Jubrans Stimme bisweilen schreiend – gemeinsam mit der Oud schwillt sie an und fällt wieder ab ohne je ganz zu verstummen.
In dieser Musik prallen die Grenzerfahrungen des Sufismus auf bruitistische Avantgarde. Ein Oratorium an eine Erde ohne Katasteramt. »Wir haben vier Jahre lang an der Platte gearbeitet«, erklärt Hasler. »Eine Musik in mehreren, sich überlagernden Schichten. Kamilya und ich können zwei Jahre lang an einer Idee für ein Stück herumprobieren, sie aufgeben, bevor sie dann an anderer Stelle in veränderter Form wieder auftaucht. Wir haben uns in dieser experimentellen Suche gefunden. Es gibt nicht viele Musiker:innen, mit denen man so weit gehen kann. Wir sind Perfektionisten; nicht in dem Sinne, dass wir uns an Details festbeißen, sondern weil wir unglaublich ausdauernd sind.«
Jubran und Hasler arbeiten seit nahezu 20 Jahren zusammen, seit dem Album Mahattaat, das von einer Reise von Ort zu Ort erzählt, mit elektronischen Klängen und Bildern von Michael Spahr. Auch die französische Kontrabassistin Sarah Murcia begleitet Jubran seit dieser Zeit. Als sie in Europa ankam, hat Jubran sehr schnell eine kleine Entdecker:innen-Truppe um sich geschart, die bis heute treu bleibt.
Kamilya Jubran erinnert sich sehr gut an diesen Wendepunkt in ihrem Leben: »Ich war 39 Jahre alt, als ich beschlossen habe, Jerusalem zu verlassen. Das war zwar spät, aber nicht zu spät, um ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die schweizerische Kulturstiftung Pro Helvetia hatte mich für einen dreimonatigen Aufenthalt eingeladen. Ich wusste damals noch nicht, dass ich nicht zurückkehren würde. Im Land meiner Kindheit fühlte ich mich eingeschränkt, leer. Ich wollte meine Suche erweitern, vertiefen. Ich wollte Neues lernen, andere kulturelle Wirkungskreise kennenlernen, Konzerte erleben. Und: Menschen wie Werner und Sarah begegnen, die dieselbe Motivation antreibt wie mich.«
Das Land ihrer Kindheit. Hier muss man ansetzen, um den Verlauf dieser Geschichte zu verstehen. Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wie die kleine Stadt Rameh aussah, als Kamilya hier ihre ersten Schritte machte. Heute befinden sich auf einigen von trockener Landschaft umgebenen Hügeln Bauten, in die wiederum andere Bauten eingelassen zu sein scheinen, flankiert von Treppen und Satellitenschüsseln, ein Gebiet von großer seismischer Aktivität, in Galiläa; der Libanon, Syrien und Jordanien sind nur einen Steinwurf entfernt. Rameh beherbergt orthodoxe Christen, Drusen, Muslime – ein Zufluchtsort für Minderheiten, nahe des Sees von Tiberias und der Stadt Kafarnaum.
Gefragt nach ihrer Kindheit erzählt Jubran von Unterhaltungen im Flüsterton, in denen Geheimnis und Angst mitschwingen, aber auch vom Summen der alten Saiten. Elias, ihr Vater, ist Instrumentenbauer. Er stellt Ouds her, diese Lauten, die gleichzeitig der Stille und dem Sturm entwachsen zu sein scheinen, aber auch Bouzoukis und Kanuns. »Er war zu 100 % Autodidakt, aber es war sein Beruf. Er war begeisterter Musikliebhaber und da er keine Instrumente finden konnte, beschloss er, sie selbst zu bauen.« Mit der Gründung des Staates Israel und der Schließung der Grenzen zu den arabischen Ländern hat die arabische Bevölkerung Israels keinen Zugang mehr zur Nachbarkultur, zu ihren Instrumentenbauern. Elias ist 26 Jahre alt, als er 1959 seine erste Oud herstellt.
Er beginnt damit, Instrumente nachzubauen, die er aufspüren kann. Er lebt damals in einem Land, das geprägt ist von Ausgangssperren, die Technologie hat die politischen Grenzen noch nicht durchlässig gemacht; Palästinenser:innen brauchen einen Passierschein, um sich auf israelischem Gebiet zu bewegen. »Wir hörten die Mittelwellensender im Radio, syrische, jordanische Kanäle, je nachdem, was wir gerade empfangen konnten. Aber vor allem die berühmte Stimme der Araber:innen aus Kairo. Es war eine Art Familien-Ritual, sich vor das Radio zu setzen und Mohammed Abdel Wahab oder Oum Kalthoum zu lauschen. Die Stücke gingen so schnell vorbei und wir warteten ungeduldig darauf, dass unsere Lieblingslieder erneut gespielt wurden.«
Als schließlich das Fernsehen Einzug hält, sieht Kamilya zum ersten Mal das Gesicht Oum Kalthoums, ihren Haarknoten und die Brille, die den ganzen Bildschirm verdunkelt. Das israelische Fernsehen strahlt jeden Abend zwei Stunden lang ein Programm aus, dass sich an die arabische Bevölkerung richtet: »Ein Großteil war Propaganda, es ging darum, die Araber:innen Israels gefügig zu machen, aber ich erinnere mich, dass sie auch jeden Freitagabend einen ägyptischen Film ausstrahlten. Niemand verpasste diesen Film. Er war wichtiger als die Fußballspiele.«
Kamilya Jubran ist vier Jahre alt, als 1967 der Krieg ausbricht. Sie erinnert sich noch genau an die Erschütterungen, wenn die Flugzeuge über den dunklen Himmel flogen. »Ich weinte, wenn ich dieses Geräusch hörte.« Ob zuhause oder in der Schule, über Politik wird nicht gesprochen. »Es herrschte ein unheimliches Schweigen. Die Generation meiner Eltern war dermaßen traumatisiert. Sie befanden sich im Überlebensmodus, es ging darum, nicht aufzufallen. Manchmal hörte man das Wort ›Fedayin‹, das die palestinensischen Kämpfer bezeichnete, hinter vorgehaltener Hand dahingeraunt, wie ein Schimpfwort.«
Kamilya Jubran ist das Kind eines Staates, der über die Schule seine Version der nationalen Geschichtsschreibung vermittelt; sie widerspricht derjenigen, die Kamilya bruchstückhaft zuhause erzählt bekommt. In dieser Zerrissenheit, diesem ständigen Hin und Her ist die Musik Zuflucht, Refugium. Die Familie ist sehr arm; nach langer Arbeitslosigkeit unterrichtet Elias schließlich Musik in Grundschulen. Der Hausunterricht gefällt ihm am meisten, diese Stunden, die in ausschweifende musikalische Feuerwechsel münden. Kamilya lernt durch Osmose. Bei Hochzeits- und Familienfeiern begeistert sie mit ihrer Gesangsdarbietung einer Passage aus einem Stück von Oum Kalthoum. Sie ist drei Jahre alt.
Ihre Mutter liebt Musik, sie hat eine Künstlerinnenmentalität. Niemand kommt auf den Gedanken, Kamilya von ihrer Berufung abzubringen, oder von der Oud, die sie sich zu eigen macht, ein Instrument, das hauptsächlich von Männern gespielt wird. Kamilyas älterer Bruder verschlingt Rock-Zeitschriften– an seinen Zimmerwänden hängen Poster von Deep Purple und den Rolling Stones.
»Als ich 18 war, begann ich ein Studium der Sozialwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem. Es war ein Kulturschock. Ich entdeckte eine faszinierende und geteilte Stadt, auf einem Campus, der das Symbol des Zionismus schlechthin war. Wir Palästinenser:innen waren eine Minderheit unter den Studierenden. Wir waren verdächtig, wurden getrennt von den anderen. Es wurde von uns erwartet, dass wir alle eine politische Identität für uns beanspruchen, irgendeiner Partei angehören, die für die Befreiung Palästinas kämpfte. In Jerusalem bot sich mir vor allem zum ersten Mal der Freiraum, arabisch zu sprechen und meine Kultur auszuleben. Jerusalem-Ost ist die größte arabischsprachige Stadt, die ich kennengelernt habe. Sie war für mich die unglaubliche Gelegenheit, mich mir selbst gegenüber zu öffnen.«
Kamilyas Bruder war ihr in diesem Binnenexil vorausgegangen, er studiert Medizin in Jerusalem. Er erzählt ihr von einem seltsamen Typen, der einen kleinen Kassettenshop in der Altstadt betreibt. Er sei schwarz, dürr wie eine Bohnenstange, trage Hippie-Jeans und verkaufe auch Beethoven und Bach. »Wow! Als ich das erste Mal zu Saïd ging, hatte ich das Gefühl, in der Höhle von Ali Baba gelandet zu sein.« Saïd Mourad hatte eine Band gegründet, er schlägt Kamilya vor, ihnen bei den Proben zuzusehen.
Wir schreiben das Jahr 1982. Kamilya hat ihre Instrumente nach Jerusalem gebracht, sie hat umfassende Kenntnisse in klassischer arabischer Musik und arabischer Popmusik, aber noch keine anderen Musiker:innen gefunden, um sie gemeinsam anzuwenden. Eines Abends sieht sie im YMCA in Ost-Jerusalem die Band Sabreen. Eine Truppe schlacksiger Rock-Pop-Musiker:innen, mit Keyboards, Schlagzeug, Klarinette, Saxophon, elektrischer Gitarre. Sie singen auf arabisch von einer neuen palästinensischen Identität, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz immer stärker Bahn bricht.
Sofort schließt sich Kamilya der Gruppe an, zunächst im Begleitgesang, schnell jedoch als Leadsängerin. Mit ihr wird die Musik von Sabreen arabischer, sie lässt Elemente der traditionellen Musik einfließen, es ist eine zeitgenössische Antwort auf die große arabische Musik. Sie bedienen sich auf spielerische Art und Weise der Gedichte Mahmoid Darwichs, Samih Al-Qasims, und später der Texte Subhi Zubeidis sowie eines Literaturprofessors aus Ramallah, Hussein Bharghouthi, welcher Lyrics in palästinensischem Dialekt für sie schreibt.
Sabreen erste Konzerte im Jerusalemer El-Hakawati-Theater, das von dem französisch-palästinensischen Regisseur François Abou Salem geführt wird, sind eine Sensation. Mehr noch, Sabreen verkörpert für die in der Diaspora lebenden Palästinenser:innen auf der ganzen Welt (sie spielen in Europa, den USA, Japan und den wenigen zugänglichen arabischen Ländern) eine gesangliche Ausdrucksform des Ungehorsams.
»Meistens waren es Studierende, die uns einluden. Sie wollten eine palästinensische Gruppe auf ihrem Campus, sie sahen es als einen Akt des Widerstands. Wir hatten manchmal das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Im Ausland bat man uns, palästinensische Volksmusik zu spielen, sie wollten, dass wir das Palästina vergangener Zeiten verkörpern. Und in Palästina haben unsere ersten beiden Kassetten ziemlich geschockt, weil sie mit der klassischen Ästhetik, die die Menschen gewöhnt waren, brachen. Wir mussten viel Überzeugungsarbeit leisten.«
Kamilya Jubran bleibt bis 2002 Teil dieser Band. Sie akzeptiert Stereotypen so gut sie kann, diese Schubladen, in die palästinensische Künstler:innen gesteckt werden: »Wie oft hatte ich es mit Journalist:innen zu tun, die eine klare Vorstellung davon hatten, welche Form unser Engagement, unsere Politisierung, unser Widerstand annehmen musste. Für mich ging es vor allem ums Ästhetische. Von palästinensischen Maler:innen wird stets verlangt, Männer mit erhobener Faust abzubilden. Damit wollte ich mich nicht abfinden.«
Hinzu kommt die alltägliche Gewalt einer eingesperrten Gesellschaft. Als einzige in der Gruppe besitzt Kamilya einen israelischen Pass, die anderen müssen ständig ihren Passierschein verlängern lassen. Von heute auf morgen ergreift sie ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit. 20 Jahre lang war die Gruppe mit dem Namen Sabreen ihr Zuhause – Sabreen, was für Geduld, einen langen Atem, Durchhaltevermögen steht. Es ist das Ende einer Etappe.
Sie beschreibt Bern als »ein sehr verlockendes Angebot«. Eine kleine Stadt, die Bundeshauptstadt ist, ohne erhaben zu wirken, in einem Land voller Grenzen, die man ohne Visum überqueren kann. Sie mag diesen Frieden. Vor einiger Zeit war sie einer bemerkenswerten französischen Musikerin begegnet, die am letzten Album von Sabreen mitgewirkt hat. Sarah Murcia hat mit zahlreichen bedeutenden Musiker:innen zusammengearbeitet und aufgenommen: Jacques Higelin, Magic Malik, Steve Coleman, Rodolphe Burger, Louis Sclavis. Ihr Kontrabass, bisweilen ihr Keyboard und ihre Stimme tauchen dort auf, wo man sie am wenigsten erwartet, und man hat doch immer den Eindruck, sie fühlt sich zuhause.
Zwischen Sarah und Kamilya besteht eine besondere Verbindung. Sarah erzählt: »Es war vom Schicksal vorbestimmt. Obwohl wir beide schüchtern sind. Ich spürte intuitiv, dass zwischen uns etwas entstehen würde. Als sie in die Schweiz kam, haben wir sofort die Arbeit an ihren ersten Songs aufgenommen. Es war wie ein Spiel. Dann haben wir begonnen, uns auszutauschen, die Arbeit zu vertiefen, und uns wurde bewusst, dass wir weder ganz zu ihr noch ganz zu mir gehen würden, weder zum Jazz noch zur arabischen Musik, sondern auf eine Art Drittlandgebiet.«
Kamilya erinnert sich: »Ich wollte nicht zu lange in der Schweiz bleiben, obwohl mich besondere Beziehungen mit ihr verbanden: Werner Hasler und auch Anne-Marie Haller, mit der ich die Dokumentation Telling Strings produziert hatte. Sarah hat mich nach Paris eingeladen. Zwei Monate lang wohnte ich bei ihr und wir hatten die Zeit, uns erneut die Frage zu stellen, welche Art Musik wir gemeinsam machen könnten. Wir wollten uns weder durch unsere Grenzen noch durch unsere Gesetze einschränken lassen.«
»Kamilya hat eine Einstellung gegenüber der Gefahr, der Avantgarde, die mich immer noch beeindruckt«, meint Sarah. »Als sie zu mir kam, konnte ich neben der Tatsache, dass ich nie so gut gegessen hatte und die Wohnung nie so sauber gewesen war, feststellen, wie unbeugsam und kompromisslos diese Musikerin ist. Man muss sich nur die Wirkung ansehen, die sie in der arabischen Welt hat, sie ist dabei, eine neue Denkschule zu gründen. Hier bekommt man das gar nicht unbedingt mit, weil man arabisierende Elemente hört und annimmt, sie bewege sich innerhalb der Tradition. Aber sie erfindet neu! Sie rüttelt auf! Ich betrachte sie wahrhaftig als meine musikalische Lebensgefährtin.«
Das Album Wa ist nur ein weiterer Baustein einer laufenden Arbeit, von Wameedd im Jahr 2004 mit Werner Hasler, über Wanabni, Makan und Nhaoul. Wenn Jubran singt, wenn sie Oud spielt, begleitet von digitalen Klängen und verflochtenen kodierten Rhythmen, kreiert sie eine Musik, die immerzu unterwegs zu sein scheint, der Dynamik der Wirklichkeit folgend. Mehr ein Nachdenken über zeitliche als über räumliche Realitäten.
Seit 2011 ist sie Französin. »Zum ersten Mal in meinem Leben verspüre ich keine Feindseligkeit gegenüber meinen Ausweispapieren. Schon als ich klein war, wollte ich Französisch sprechen. Im Fernsehen schaute ich die Kinderserie Bonne nuit les petits. Ich stellte mir vor, das Gesagte zu verstehen.« Ihr kleiner Bruder Rabea, Ingenieur am High-tech-Park in Haifa, ist gerade dabei, eine Oud für sie zu bauen. Er führt den Beruf des Vaters weiter, als Hobby, er versucht aber, die wissenschaftlichen Methoden der Organologie mit einfließen zu lassen.
»Die Tradition setzt sich fort in meiner Familie. Aber ohne dass es sich wie eine simple Reproduktion anfühlt. Ich bin gespannt, wie diese Oud klingen wird. Es wird die erste sein, die ich spiele, die nicht von den Händen meines Vaters gefertigt wurde.« ¶
Text Arnaud Robert
Übersetzung Mirka Lankamp
Fotos © Christopher Smolkovic
Unvermittelt erscheint Kamilya Jubran auf dem Bildschirm. Man könnte meinen, sie hat die Szenerie geplant. Hinter ihr, auf einem Bett, ruht eine Oud, die alt aussieht und den Anschein erweckt, dass sie zwischen zwei Proben ein kurzes Nickerchen braucht. »Mein Vater hat sie für mich gebaut. Ich besitze noch zwei Lauten aus seiner Herstellung, mehr nicht.«
Vor einigen Monaten, lange vor der Pandemie, hat Kamilya Jubran mit dem Trompeter und Pionier der elektronischen Musik Werner Hasler ein Album mit dem Titel Wa veröffentlicht: ein langes, ausschweifendes Stück von 46 Minuten, Gebete in Ostinato, elektronische spektrale Klänge, Jubrans Stimme bisweilen schreiend – gemeinsam mit der Oud schwillt sie an und fällt wieder ab ohne je ganz zu verstummen.
In dieser Musik prallen die Grenzerfahrungen des Sufismus auf bruitistische Avantgarde. Ein Oratorium an eine Erde ohne Katasteramt. »Wir haben vier Jahre lang an der Platte gearbeitet«, erklärt Hasler. »Eine Musik in mehreren, sich überlagernden Schichten. Kamilya und ich können zwei Jahre lang an einer Idee für ein Stück herumprobieren, sie aufgeben, bevor sie dann an anderer Stelle in veränderter Form wieder auftaucht. Wir haben uns in dieser experimentellen Suche gefunden. Es gibt nicht viele Musiker:innen, mit denen man so weit gehen kann. Wir sind Perfektionisten; nicht in dem Sinne, dass wir uns an Details festbeißen, sondern weil wir unglaublich ausdauernd sind.«
Jubran und Hasler arbeiten seit nahezu 20 Jahren zusammen, seit dem Album Mahattaat, das von einer Reise von Ort zu Ort erzählt, mit elektronischen Klängen und Bildern von Michael Spahr. Auch die französische Kontrabassistin Sarah Murcia begleitet Jubran seit dieser Zeit. Als sie in Europa ankam, hat Jubran sehr schnell eine kleine Entdecker:innen-Truppe um sich geschart, die bis heute treu bleibt.
Kamilya Jubran erinnert sich sehr gut an diesen Wendepunkt in ihrem Leben: »Ich war 39 Jahre alt, als ich beschlossen habe, Jerusalem zu verlassen. Das war zwar spät, aber nicht zu spät, um ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die schweizerische Kulturstiftung Pro Helvetia hatte mich für einen dreimonatigen Aufenthalt eingeladen. Ich wusste damals noch nicht, dass ich nicht zurückkehren würde. Im Land meiner Kindheit fühlte ich mich eingeschränkt, leer. Ich wollte meine Suche erweitern, vertiefen. Ich wollte Neues lernen, andere kulturelle Wirkungskreise kennenlernen, Konzerte erleben. Und: Menschen wie Werner und Sarah begegnen, die dieselbe Motivation antreibt wie mich.«
Das Land ihrer Kindheit. Hier muss man ansetzen, um den Verlauf dieser Geschichte zu verstehen. Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wie die kleine Stadt Rameh aussah, als Kamilya hier ihre ersten Schritte machte. Heute befinden sich auf einigen von trockener Landschaft umgebenen Hügeln Bauten, in die wiederum andere Bauten eingelassen zu sein scheinen, flankiert von Treppen und Satellitenschüsseln, ein Gebiet von großer seismischer Aktivität, in Galiläa; der Libanon, Syrien und Jordanien sind nur einen Steinwurf entfernt. Rameh beherbergt orthodoxe Christen, Drusen, Muslime – ein Zufluchtsort für Minderheiten, nahe des Sees von Tiberias und der Stadt Kafarnaum.
Gefragt nach ihrer Kindheit erzählt Jubran von Unterhaltungen im Flüsterton, in denen Geheimnis und Angst mitschwingen, aber auch vom Summen der alten Saiten. Elias, ihr Vater, ist Instrumentenbauer. Er stellt Ouds her, diese Lauten, die gleichzeitig der Stille und dem Sturm entwachsen zu sein scheinen, aber auch Bouzoukis und Kanuns. »Er war zu 100 % Autodidakt, aber es war sein Beruf. Er war begeisterter Musikliebhaber und da er keine Instrumente finden konnte, beschloss er, sie selbst zu bauen.« Mit der Gründung des Staates Israel und der Schließung der Grenzen zu den arabischen Ländern hat die arabische Bevölkerung Israels keinen Zugang mehr zur Nachbarkultur, zu ihren Instrumentenbauern. Elias ist 26 Jahre alt, als er 1959 seine erste Oud herstellt.
Er beginnt damit, Instrumente nachzubauen, die er aufspüren kann. Er lebt damals in einem Land, das geprägt ist von Ausgangssperren, die Technologie hat die politischen Grenzen noch nicht durchlässig gemacht; Palästinenser:innen brauchen einen Passierschein, um sich auf israelischem Gebiet zu bewegen. »Wir hörten die Mittelwellensender im Radio, syrische, jordanische Kanäle, je nachdem, was wir gerade empfangen konnten. Aber vor allem die berühmte Stimme der Araber:innen aus Kairo. Es war eine Art Familien-Ritual, sich vor das Radio zu setzen und Mohammed Abdel Wahab oder Oum Kalthoum zu lauschen. Die Stücke gingen so schnell vorbei und wir warteten ungeduldig darauf, dass unsere Lieblingslieder erneut gespielt wurden.«
Als schließlich das Fernsehen Einzug hält, sieht Kamilya zum ersten Mal das Gesicht Oum Kalthoums, ihren Haarknoten und die Brille, die den ganzen Bildschirm verdunkelt. Das israelische Fernsehen strahlt jeden Abend zwei Stunden lang ein Programm aus, dass sich an die arabische Bevölkerung richtet: »Ein Großteil war Propaganda, es ging darum, die Araber:innen Israels gefügig zu machen, aber ich erinnere mich, dass sie auch jeden Freitagabend einen ägyptischen Film ausstrahlten. Niemand verpasste diesen Film. Er war wichtiger als die Fußballspiele.«
Kamilya Jubran ist vier Jahre alt, als 1967 der Krieg ausbricht. Sie erinnert sich noch genau an die Erschütterungen, wenn die Flugzeuge über den dunklen Himmel flogen. »Ich weinte, wenn ich dieses Geräusch hörte.« Ob zuhause oder in der Schule, über Politik wird nicht gesprochen. »Es herrschte ein unheimliches Schweigen. Die Generation meiner Eltern war dermaßen traumatisiert. Sie befanden sich im Überlebensmodus, es ging darum, nicht aufzufallen. Manchmal hörte man das Wort ›Fedayin‹, das die palestinensischen Kämpfer bezeichnete, hinter vorgehaltener Hand dahingeraunt, wie ein Schimpfwort.«
Kamilya Jubran ist das Kind eines Staates, der über die Schule seine Version der nationalen Geschichtsschreibung vermittelt; sie widerspricht derjenigen, die Kamilya bruchstückhaft zuhause erzählt bekommt. In dieser Zerrissenheit, diesem ständigen Hin und Her ist die Musik Zuflucht, Refugium. Die Familie ist sehr arm; nach langer Arbeitslosigkeit unterrichtet Elias schließlich Musik in Grundschulen. Der Hausunterricht gefällt ihm am meisten, diese Stunden, die in ausschweifende musikalische Feuerwechsel münden. Kamilya lernt durch Osmose. Bei Hochzeits- und Familienfeiern begeistert sie mit ihrer Gesangsdarbietung einer Passage aus einem Stück von Oum Kalthoum. Sie ist drei Jahre alt.
Ihre Mutter liebt Musik, sie hat eine Künstlerinnenmentalität. Niemand kommt auf den Gedanken, Kamilya von ihrer Berufung abzubringen, oder von der Oud, die sie sich zu eigen macht, ein Instrument, das hauptsächlich von Männern gespielt wird. Kamilyas älterer Bruder verschlingt Rock-Zeitschriften– an seinen Zimmerwänden hängen Poster von Deep Purple und den Rolling Stones.
»Als ich 18 war, begann ich ein Studium der Sozialwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem. Es war ein Kulturschock. Ich entdeckte eine faszinierende und geteilte Stadt, auf einem Campus, der das Symbol des Zionismus schlechthin war. Wir Palästinenser:innen waren eine Minderheit unter den Studierenden. Wir waren verdächtig, wurden getrennt von den anderen. Es wurde von uns erwartet, dass wir alle eine politische Identität für uns beanspruchen, irgendeiner Partei angehören, die für die Befreiung Palästinas kämpfte. In Jerusalem bot sich mir vor allem zum ersten Mal der Freiraum, arabisch zu sprechen und meine Kultur auszuleben. Jerusalem-Ost ist die größte arabischsprachige Stadt, die ich kennengelernt habe. Sie war für mich die unglaubliche Gelegenheit, mich mir selbst gegenüber zu öffnen.«
Kamilyas Bruder war ihr in diesem Binnenexil vorausgegangen, er studiert Medizin in Jerusalem. Er erzählt ihr von einem seltsamen Typen, der einen kleinen Kassettenshop in der Altstadt betreibt. Er sei schwarz, dürr wie eine Bohnenstange, trage Hippie-Jeans und verkaufe auch Beethoven und Bach. »Wow! Als ich das erste Mal zu Saïd ging, hatte ich das Gefühl, in der Höhle von Ali Baba gelandet zu sein.« Saïd Mourad hatte eine Band gegründet, er schlägt Kamilya vor, ihnen bei den Proben zuzusehen.
Wir schreiben das Jahr 1982. Kamilya hat ihre Instrumente nach Jerusalem gebracht, sie hat umfassende Kenntnisse in klassischer arabischer Musik und arabischer Popmusik, aber noch keine anderen Musiker:innen gefunden, um sie gemeinsam anzuwenden. Eines Abends sieht sie im YMCA in Ost-Jerusalem die Band Sabreen. Eine Truppe schlacksiger Rock-Pop-Musiker:innen, mit Keyboards, Schlagzeug, Klarinette, Saxophon, elektrischer Gitarre. Sie singen auf arabisch von einer neuen palästinensischen Identität, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz immer stärker Bahn bricht.
Sofort schließt sich Kamilya der Gruppe an, zunächst im Begleitgesang, schnell jedoch als Leadsängerin. Mit ihr wird die Musik von Sabreen arabischer, sie lässt Elemente der traditionellen Musik einfließen, es ist eine zeitgenössische Antwort auf die große arabische Musik. Sie bedienen sich auf spielerische Art und Weise der Gedichte Mahmoid Darwichs, Samih Al-Qasims, und später der Texte Subhi Zubeidis sowie eines Literaturprofessors aus Ramallah, Hussein Bharghouthi, welcher Lyrics in palästinensischem Dialekt für sie schreibt.
Sabreen erste Konzerte im Jerusalemer El-Hakawati-Theater, das von dem französisch-palästinensischen Regisseur François Abou Salem geführt wird, sind eine Sensation. Mehr noch, Sabreen verkörpert für die in der Diaspora lebenden Palästinenser:innen auf der ganzen Welt (sie spielen in Europa, den USA, Japan und den wenigen zugänglichen arabischen Ländern) eine gesangliche Ausdrucksform des Ungehorsams.
»Meistens waren es Studierende, die uns einluden. Sie wollten eine palästinensische Gruppe auf ihrem Campus, sie sahen es als einen Akt des Widerstands. Wir hatten manchmal das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Im Ausland bat man uns, palästinensische Volksmusik zu spielen, sie wollten, dass wir das Palästina vergangener Zeiten verkörpern. Und in Palästina haben unsere ersten beiden Kassetten ziemlich geschockt, weil sie mit der klassischen Ästhetik, die die Menschen gewöhnt waren, brachen. Wir mussten viel Überzeugungsarbeit leisten.«
Kamilya Jubran bleibt bis 2002 Teil dieser Band. Sie akzeptiert Stereotypen so gut sie kann, diese Schubladen, in die palästinensische Künstler:innen gesteckt werden: »Wie oft hatte ich es mit Journalist:innen zu tun, die eine klare Vorstellung davon hatten, welche Form unser Engagement, unsere Politisierung, unser Widerstand annehmen musste. Für mich ging es vor allem ums Ästhetische. Von palästinensischen Maler:innen wird stets verlangt, Männer mit erhobener Faust abzubilden. Damit wollte ich mich nicht abfinden.«
Hinzu kommt die alltägliche Gewalt einer eingesperrten Gesellschaft. Als einzige in der Gruppe besitzt Kamilya einen israelischen Pass, die anderen müssen ständig ihren Passierschein verlängern lassen. Von heute auf morgen ergreift sie ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit. 20 Jahre lang war die Gruppe mit dem Namen Sabreen ihr Zuhause – Sabreen, was für Geduld, einen langen Atem, Durchhaltevermögen steht. Es ist das Ende einer Etappe.
Sie beschreibt Bern als »ein sehr verlockendes Angebot«. Eine kleine Stadt, die Bundeshauptstadt ist, ohne erhaben zu wirken, in einem Land voller Grenzen, die man ohne Visum überqueren kann. Sie mag diesen Frieden. Vor einiger Zeit war sie einer bemerkenswerten französischen Musikerin begegnet, die am letzten Album von Sabreen mitgewirkt hat. Sarah Murcia hat mit zahlreichen bedeutenden Musiker:innen zusammengearbeitet und aufgenommen: Jacques Higelin, Magic Malik, Steve Coleman, Rodolphe Burger, Louis Sclavis. Ihr Kontrabass, bisweilen ihr Keyboard und ihre Stimme tauchen dort auf, wo man sie am wenigsten erwartet, und man hat doch immer den Eindruck, sie fühlt sich zuhause.
Zwischen Sarah und Kamilya besteht eine besondere Verbindung. Sarah erzählt: »Es war vom Schicksal vorbestimmt. Obwohl wir beide schüchtern sind. Ich spürte intuitiv, dass zwischen uns etwas entstehen würde. Als sie in die Schweiz kam, haben wir sofort die Arbeit an ihren ersten Songs aufgenommen. Es war wie ein Spiel. Dann haben wir begonnen, uns auszutauschen, die Arbeit zu vertiefen, und uns wurde bewusst, dass wir weder ganz zu ihr noch ganz zu mir gehen würden, weder zum Jazz noch zur arabischen Musik, sondern auf eine Art Drittlandgebiet.«
Kamilya erinnert sich: »Ich wollte nicht zu lange in der Schweiz bleiben, obwohl mich besondere Beziehungen mit ihr verbanden: Werner Hasler und auch Anne-Marie Haller, mit der ich die Dokumentation Telling Strings produziert hatte. Sarah hat mich nach Paris eingeladen. Zwei Monate lang wohnte ich bei ihr und wir hatten die Zeit, uns erneut die Frage zu stellen, welche Art Musik wir gemeinsam machen könnten. Wir wollten uns weder durch unsere Grenzen noch durch unsere Gesetze einschränken lassen.«
»Kamilya hat eine Einstellung gegenüber der Gefahr, der Avantgarde, die mich immer noch beeindruckt«, meint Sarah. »Als sie zu mir kam, konnte ich neben der Tatsache, dass ich nie so gut gegessen hatte und die Wohnung nie so sauber gewesen war, feststellen, wie unbeugsam und kompromisslos diese Musikerin ist. Man muss sich nur die Wirkung ansehen, die sie in der arabischen Welt hat, sie ist dabei, eine neue Denkschule zu gründen. Hier bekommt man das gar nicht unbedingt mit, weil man arabisierende Elemente hört und annimmt, sie bewege sich innerhalb der Tradition. Aber sie erfindet neu! Sie rüttelt auf! Ich betrachte sie wahrhaftig als meine musikalische Lebensgefährtin.«
Das Album Wa ist nur ein weiterer Baustein einer laufenden Arbeit, von Wameedd im Jahr 2004 mit Werner Hasler, über Wanabni, Makan und Nhaoul. Wenn Jubran singt, wenn sie Oud spielt, begleitet von digitalen Klängen und verflochtenen kodierten Rhythmen, kreiert sie eine Musik, die immerzu unterwegs zu sein scheint, der Dynamik der Wirklichkeit folgend. Mehr ein Nachdenken über zeitliche als über räumliche Realitäten.
Seit 2011 ist sie Französin. »Zum ersten Mal in meinem Leben verspüre ich keine Feindseligkeit gegenüber meinen Ausweispapieren. Schon als ich klein war, wollte ich Französisch sprechen. Im Fernsehen schaute ich die Kinderserie Bonne nuit les petits. Ich stellte mir vor, das Gesagte zu verstehen.« Ihr kleiner Bruder Rabea, Ingenieur am High-tech-Park in Haifa, ist gerade dabei, eine Oud für sie zu bauen. Er führt den Beruf des Vaters weiter, als Hobby, er versucht aber, die wissenschaftlichen Methoden der Organologie mit einfließen zu lassen.
»Die Tradition setzt sich fort in meiner Familie. Aber ohne dass es sich wie eine simple Reproduktion anfühlt. Ich bin gespannt, wie diese Oud klingen wird. Es wird die erste sein, die ich spiele, die nicht von den Händen meines Vaters gefertigt wurde.« ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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