Text Sharon Chan
Titelbild © Charles Kwong
1997 gab Großbritannien die Kolonie Hongkong zurück an den Hoheitsstaat China, die Stadt genoss aber auch in der Folge ein hohes Maß an Unabhängigkeit von Peking. In den letzten Jahren versucht die chinesische Regierung jedoch mehr und mehr, ihren Zugriff auf die Sonderverwaltungszone auszubauen. Seit im Juni 2019 eine Protestbewegung gegen den inzwischen aufgehobenen Gesetzesentwurf zur Auslieferung von Häftlingen Fahrt aufnahm, wuchs auch das internationale Interesse an diesem Kräftemessen. Auch die Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes am 30. Juni 2020 rief weltweit Reaktion hervor. In Hongkong war man aber schon seit langem alarmiert angesichts der zunehmenden Verstöße gegen Hongkongs autonomen Status. Beginnend mit der Festnahme von Buchhändler:innen durch Sicherheitskräfte des Chinesischen Festlands, bis hin zum Ausschluss von Demokrat:innen von Wahlen, wird die politische Freiheit der Stadt mehr und mehr ausgehöhlt.
Peking und die Regierung Hongkongs hatten beteuert, dass das neu auferlegte Nationale Sicherheitsgesetz sich nur auf eine »kleine Anzahl Krimineller, die die nationale Sicherheit ernsthaft gefährden« bezöge, und dass die Freiheit der Meinungsäußerung durch das Grundgesetz gut geschützt sei. Aber das Gesetz, das von Peking entworfen wurde und die Legislative Hongkongs umging, ist voller Mehrdeutigkeiten. Das Singen von Protest-Slogans kann jetzt als Aufruf zum Separatismus eingestuft werden, es droht Verhaftung. Auch aus dem Schulunterricht wurden Protest-Hymnen wie Glory to Hong Kong verbannt.
Neben weitreichenden neuen Polizeibefugnissen erlaubt das Gesetz Pekings zentraler Regierung, eine Hongkonger Staatssicherheitsbehörde zu errichten, die nicht der städtischen Rechtsprechung, einem Erbe der Britischen Kolonialherrschaft, unterliegt. Amnesty International Hong Kong hat die Durchsetzung der Gesetzgebung durch China hart kritisiert und der chinesischen Regierung unterstellt, Unsicherheit zu schüren und Hongkong durch Angst zu regieren.
Und Angst ist im Hongkong dieser Tage in der Tat verbreitet. Aktivist:innen pro-demokratischer Gruppierungen traten zurück, wenige Stunden, nachdem das Gesetz im obersten Gesetzgebungsorgan Chinas verabschiedet wurde. Die verschlüsselte Nachrichten-App Signal wurde im Juli in Hongkong zur meist heruntergeladenen App im Google Playstore. Über 1,500 Kulturschaffende sowie lokale und internationale Künstler:innen unterzeichneten ein gemeinsames Statement, um ihrem Schock, ihren Sorgen und Ängsten Ausdruck zu verleihen.
»Es scheint, als befänden wir in einer Ära des ‚›weißen Terrors‹« sagt Steve Hui (a.k.a. Nerve), ein Multimedia-Künstler, der in Hongkong geboren wurde und dort auch heute noch lebt. »Viele sind frustriert, weil das Gesetz keine Grenzen zu haben scheint. Momentan zielt es nur auf Aktivist:innen und Pro-Demokrat:innen ab, aber wir wissen nicht, ob irgendwann auch unsere Werke zur Zielscheibe des Regimes werden.« Hui meint, dass viele seiner Kolleg:innen sind, welche kreativen Spielräume sie noch nutzen dürfen. »Ich mache mir Sorgen. Wenn wir als Künstler:innen unsere Visionen nicht umsetzen können, und wir an einem gewissen Punkt gezwungen sind, zu überlegen, ob wir das Risiko, das unsere künstlerische Praxis bedeutet, noch eingehen können, dann ist das eine Bedrohung für unsere künstlerische Integrität.«
Im Jahr 2014 schrieb und inszenierte Hui 1984, eine Theaterproduktion, die er selbst »filmische Oper« nennt, und die auf George Orwells gleichnamigem dystopischem Roman basiert. Zufällig feierte die Produktion ihre Premiere zu Beginn der Regenschirm-Bewegung, einer 79 Tage andauernden Besetzung, deren Kernforderung lautete, dass die Bevölkerung Hongkongs eine eigene Regierung wählen können soll
Hui lehrt Komposition an der Hongkonger Akademie für Darstellende Künste. Die kulturelle und soziale Rolle des Musik- und Kunstbetriebs spielt in seiner Lehre eine große Rolle. »Ich verbringe in meinen Kursen jetzt mehr Zeit mit dem Diskutieren von Ideen, Themen wie Tradition, Innovationen, Kreativität, und was in der Welt alles so passiert«, erzählt er.»Die sozialen und politischen Probleme, mit denen sich die jüngeren Generationen jetzt konfrontiert sehen, sind etwas sehr nNeues für uns alle.« 1989, im Jahr des Tian’anmen Massakers, war Hui gerade mal 14 Jahre alt. Damals sei er nicht imstande gewesen, die Situation ganz zu verstehen, und begann in Musik, Literatur und Filmen nach Antworten zu suchen. Hui glaubt, dass die gegenwärtige Situation noch weitaus komplexer ist: »Zumindest mussten Künstler:innen sich damals nicht mit den politischen Konsequenzen ihres Tuns auseinandersetzen.« Trotz seiner Sorge um die jüngeren Generationen ist er mit Blick auf die Kunstszene Chinas hoffnungsvoll. »Ich arbeite seit einigen Jahren mit Künstler:innen und xiqu Ensembles in China zusammen. Strenge Regeln führen nicht zum Verschwinden von Kreativität. Ich sehe viele mutige und kreative Arbeiten aus einer solch schwierigen politischen Landschaft hervorgehen.«
Auf die Frage, ob er plane, Hongkong zu verlassen, antwortet Hui, dass es noch Raum für Kreativität in der Stadt gebe, und dass er vor Ort aktiv sein möchte. »Ich würde es aber in Betracht ziehen zu gehen, sollte das Sozialkredit-System auch in Hong Kong eingeführt wird.«
Der Komponist Daniel Lo teilt Huis Bedenken hinsichtlich des neuen Gesetzes. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Als Hongkonger bin ich wirklich erschüttert. Bisher habe ich in meiner künstlerischen Karriere noch keine Zensur erlebt, aber ich kann die wachsende Angst in der Kunstszene spüren. Ich bin der Meinung, dass klassische Musik von politischer Zensur verschont bleiben sollte. Immerhin ist sie deutlich abstrakter als andere Kunstformen wie Theater oder visuelle Künste.«
Lo ist in den 1980er Jahren geboren und hat in der Metropole einiges miterlebt; vom Wechsel der Staatshoheit bis hin zu den politischen Unruhen der letzten Jahre. Das post-koloniale Hongkong hat Schwierigkeiten, seine lokale Geschichte sowie Kultur und Sprache vor dem Einfluss des Chinesischen Festlandes zu schützen. Während zahlreiche Menschen in Hongkong – vor allem die älteren Generationen – sich stark mit China identifizieren, definieren sich viele in Los Alter und den nachfolgenden Generationen ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zu Hongkong.
Dieser Lokalpatriotismus hat zu Debatten und Diskussionen über Hongkongs Identität geführt. In den vergangenen 10 Jahren wurde eine beeindruckende Anzahl lokalpatriotischer Filme produziert. Im Mai dieses Jahres erreichte eine Kickstarter Kampagne, die Gelder sammelte für ein literarisches Magazin, das ausschließlich auf Kantonesich (der in Hong Kong mehrheitlich gesprochene Sprache) publiziert, das Fünffache ihres angestrebten Fundraising Ziels.. Von Chorwerken über Kantaten bis hin zur Oper – immer mehr Komponist:innen der zeitgenössischen Musikszene Hongkongs versuchen, die Sprache in ihr Werk einfließen zu lassen.
Los jüngste Oper Women Like Us, ist eines von vielen vokalen Werken, das sich kantonesischer Texte Hongkonger Autor:innen bedient. Die Oper basiert auf zwei Kurzgeschichten von XiXi, einer der bedeutendsten literarischen Stimmen der Stadt:
»Xi Xis Werke behandeln die Kernfragen der Hongkonger Identität. Was mich allerdings am meisten berührt ist der humanistische Blick, der ihre Werke so einzigartig macht. Ich ziehe es vor, mich in meiner Arbeit von gegenwärtigen Konflikten zu distanzieren, weil ich glaube, dass ein Werk mit humanistischen Werten eine andere, neue Perspektive auf Probleme und Erfahrungen, die uns in unserer Zeit begegnen, bietet«, erklärt Lo. »Hongkong hat viele Probleme. Nicht nur seine Beziehung zu China und den Verlust der freien Meinungsäußerung. Es ist nicht gesund für die Kreativszene, wenn wir uns nur auf ein oder zwei Themen versteifen.«
In Großbritannien zu bleiben, war ihm nie in den Sinn gekommen, nachdem er 2016 von seiner dortigen Promotion zurückgekehrt war: »Meine ganze Familie und all meine Freunde sind in Hongkong, und ich liebe diese Stadt wirklich«, sagt er. In jüngster Zeit hat Lo jedoch darüber nachgedacht zu gehen: »Die Realität ist, dass Hong Kong als hochgradig kapitalistische Stadt zunehmend unbewohnbar wird. Die aufgeladene politische Atmosphäre ist nicht der einzige Grund für mich, meine Heimatstadt zu verlassen.« Momentan weiß er nicht, was ihn erwartet – er wird improvisieren. Sollte die Situation ihn davon abhalten, seiner Arbeit nachgehen zu können, wird er die Emigration in Betracht ziehen.
Gehen oder Bleiben ist zu einer ernsthaften Erwägung für Menschen in Hong Kong geworden. In den letzten Jahren der Kolonialherrschaft hat die Stadt schon einmal eine Massenabwanderung erlebt. Damals fürchteten viele Bewohner:innen, dass Peking seinen Verpflichtungen aus der britisch-chinesischen Abmachungen nicht nachkommen würde. Einige kehrten zurück, nachdem sie sahen, dass die Stadt ihre Autonomie in den ersten 10 Jahren wahren konnte. Jetzt lässt das Sicherheitsgesetz viele erneut abwägen, ob sie bleiben oder nicht.
Ethnomusikwissenschaftler Dr. Ho-Chak Law, deren sowohl zu Kulturpolitik als auch zu chinesischsprachigem Transnationalismus forscht, entschied sich 2018,, nachdem der Rückkehr von einem Promotionsaufenthalt in Michigan, Hongkong zu verlassen.
»Der akademische und musikalische Bereich in Hong Kong ist eher konservativ. Ich habe da mal das Fach ›Chinesische Musik‹ unterrichtet, was auch eines meiner Forschungsgebiete ist. Der Begriff ›Chinesisch‹ ist von Hause aus politisch. In der Regel suggeriert er Nationalismus, durchdrungen von konfuzianischem Gedankengut und dem Aufrechterhalten seiner Legitimität durch Institutionen, Konservatorien und Vermarktung,« sagt Law. »Was ich aber sehe, ist, dass die Musik im chinesischsprachigen Raum lebendig sein kann und voller Potential steckt. Leider hat das angespannte soziale und politische Klima das historische Vorstellungsvermögen einer gesamten Generation beschnitten. Deshalb möchte ich einen Ort finden, an dem ich meine Forschung in einem transnationalen Kontext weiterführen kann. Hongkong ist dafür nicht mehr der richtige Ort.«
Law sieht die ideologische Polarisierung in Hongkong als eine Hauptursache der weit verbreiteten konservativen Haltung. »Entkolonialisierung bedeutet nicht, dass Hongkong alles von China Kommende willkommen heißt und akzeptiert. Die Kolonialisierung zu glorifizieren, ist an sich problematisch. Es stimmt: Das neue Nationale Sicherheitsgesetz bildet einen Rahmen, , der den Raum für Diskussion einengt. Aber zu auf uns selbst bezogen zu sein würde lediglich unsere Fähigkeit einschränken, verschiedenste akute Probleme sozialer und politischer Art in Hongkong aufzudecken, was eine Polarisierung noch weiter vorantreibt. Hong Kong als Standort hat viele Probleme, die darauf warten aufgedeckt zu werden.«
Die kürzlich graduierte Musikstudentin Karen Yu fand in den sozialen Unruhen zu einer ernsthafteren Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität als Künstlerin. »Die Protestbewegungen haben mich dazu gebracht über meine Tätigkeit nachzudenken«, erklärt sie. »Ich habe mich gefragt: Muss ich in meiner Kunst auf die Gesellschaft reagieren?«
Mit dem in Vancouver lebenden Komponisten William Kuo schuf sie im Februar 2020 Augmented Aurality, eine Installation, die von der Fake-News inspiriert ist – ein während der Proteste weit verbreitetes Phänomen, welches Misstrauen und sogar Akte der Gewalt befeuerte.
Während Yu sich als Perfomance-Küstlerin einen Namen machte, fegte das nationale Sicherheitsgesetz über Hong Kong hinweg. »Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich über meine eigene Sicherheit und die meiner Familie nachdenken muss, nur weil ich Künstlerin bin. Wenn ich früher mit Leuten zusammengearbeitet habe, wurde viel über künstlerische Konzepte und Ideen gesprochen. Seltsamerweise tendieren wir jetzt dazu, eher über Probleme wie Migration und Gesundheit zu reden. Ich frage mich, was ich tun würde, wenn ich eines Tages andere politischen Ansichten als meine Kollegen vertreten würde. Wäre da überhaupt noch Raum für eine Zusammenarbeit?«
Mit 15 Jahren verließ Yu Hongkong, um die weiterführende Schule und ihr Hochschulstudium in Kanada zu absolvieren, 2017 entschied sie sich zurückzukehren. »Meine Heimat ist nicht Montreal, sondern Hongkong«, sagt sie. Aber die sich verschlechternde politische Situation macht es zunehmend schwerer für sie, die Kontrolle über ihr Leben und ihre Karriere zu behalten. Yu gibt sich fünf Jahre, um sich in Hongkong eine Existenz aufzubauen. Sollte sie jedoch nicht so leben können, wie sie es möchte, wird auch sie darüber nachdenken, ob Hongkong weiterhin der richtige Ort für sie ist. ¶
Text Sharon Chan
Titelbild © Charles Kwong
1997 gab Großbritannien die Kolonie Hongkong zurück an den Hoheitsstaat China, die Stadt genoss aber auch in der Folge ein hohes Maß an Unabhängigkeit von Peking. In den letzten Jahren versucht die chinesische Regierung jedoch mehr und mehr, ihren Zugriff auf die Sonderverwaltungszone auszubauen. Seit im Juni 2019 eine Protestbewegung gegen den inzwischen aufgehobenen Gesetzesentwurf zur Auslieferung von Häftlingen Fahrt aufnahm, wuchs auch das internationale Interesse an diesem Kräftemessen. Auch die Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes am 30. Juni 2020 rief weltweit Reaktion hervor. In Hongkong war man aber schon seit langem alarmiert angesichts der zunehmenden Verstöße gegen Hongkongs autonomen Status. Beginnend mit der Festnahme von Buchhändler:innen durch Sicherheitskräfte des Chinesischen Festlands, bis hin zum Ausschluss von Demokrat:innen von Wahlen, wird die politische Freiheit der Stadt mehr und mehr ausgehöhlt.
Peking und die Regierung Hongkongs hatten beteuert, dass das neu auferlegte Nationale Sicherheitsgesetz sich nur auf eine »kleine Anzahl Krimineller, die die nationale Sicherheit ernsthaft gefährden« bezöge, und dass die Freiheit der Meinungsäußerung durch das Grundgesetz gut geschützt sei. Aber das Gesetz, das von Peking entworfen wurde und die Legislative Hongkongs umging, ist voller Mehrdeutigkeiten. Das Singen von Protest-Slogans kann jetzt als Aufruf zum Separatismus eingestuft werden, es droht Verhaftung. Auch aus dem Schulunterricht wurden Protest-Hymnen wie Glory to Hong Kong verbannt.
Neben weitreichenden neuen Polizeibefugnissen erlaubt das Gesetz Pekings zentraler Regierung, eine Hongkonger Staatssicherheitsbehörde zu errichten, die nicht der städtischen Rechtsprechung, einem Erbe der Britischen Kolonialherrschaft, unterliegt. Amnesty International Hong Kong hat die Durchsetzung der Gesetzgebung durch China hart kritisiert und der chinesischen Regierung unterstellt, Unsicherheit zu schüren und Hongkong durch Angst zu regieren.
Und Angst ist im Hongkong dieser Tage in der Tat verbreitet. Aktivist:innen pro-demokratischer Gruppierungen traten zurück, wenige Stunden, nachdem das Gesetz im obersten Gesetzgebungsorgan Chinas verabschiedet wurde. Die verschlüsselte Nachrichten-App Signal wurde im Juli in Hongkong zur meist heruntergeladenen App im Google Playstore. Über 1,500 Kulturschaffende sowie lokale und internationale Künstler:innen unterzeichneten ein gemeinsames Statement, um ihrem Schock, ihren Sorgen und Ängsten Ausdruck zu verleihen.
»Es scheint, als befänden wir in einer Ära des ‚›weißen Terrors‹« sagt Steve Hui (a.k.a. Nerve), ein Multimedia-Künstler, der in Hongkong geboren wurde und dort auch heute noch lebt. »Viele sind frustriert, weil das Gesetz keine Grenzen zu haben scheint. Momentan zielt es nur auf Aktivist:innen und Pro-Demokrat:innen ab, aber wir wissen nicht, ob irgendwann auch unsere Werke zur Zielscheibe des Regimes werden.« Hui meint, dass viele seiner Kolleg:innen sind, welche kreativen Spielräume sie noch nutzen dürfen. »Ich mache mir Sorgen. Wenn wir als Künstler:innen unsere Visionen nicht umsetzen können, und wir an einem gewissen Punkt gezwungen sind, zu überlegen, ob wir das Risiko, das unsere künstlerische Praxis bedeutet, noch eingehen können, dann ist das eine Bedrohung für unsere künstlerische Integrität.«
Im Jahr 2014 schrieb und inszenierte Hui 1984, eine Theaterproduktion, die er selbst »filmische Oper« nennt, und die auf George Orwells gleichnamigem dystopischem Roman basiert. Zufällig feierte die Produktion ihre Premiere zu Beginn der Regenschirm-Bewegung, einer 79 Tage andauernden Besetzung, deren Kernforderung lautete, dass die Bevölkerung Hongkongs eine eigene Regierung wählen können soll
Hui lehrt Komposition an der Hongkonger Akademie für Darstellende Künste. Die kulturelle und soziale Rolle des Musik- und Kunstbetriebs spielt in seiner Lehre eine große Rolle. »Ich verbringe in meinen Kursen jetzt mehr Zeit mit dem Diskutieren von Ideen, Themen wie Tradition, Innovationen, Kreativität, und was in der Welt alles so passiert«, erzählt er.»Die sozialen und politischen Probleme, mit denen sich die jüngeren Generationen jetzt konfrontiert sehen, sind etwas sehr nNeues für uns alle.« 1989, im Jahr des Tian’anmen Massakers, war Hui gerade mal 14 Jahre alt. Damals sei er nicht imstande gewesen, die Situation ganz zu verstehen, und begann in Musik, Literatur und Filmen nach Antworten zu suchen. Hui glaubt, dass die gegenwärtige Situation noch weitaus komplexer ist: »Zumindest mussten Künstler:innen sich damals nicht mit den politischen Konsequenzen ihres Tuns auseinandersetzen.« Trotz seiner Sorge um die jüngeren Generationen ist er mit Blick auf die Kunstszene Chinas hoffnungsvoll. »Ich arbeite seit einigen Jahren mit Künstler:innen und xiqu Ensembles in China zusammen. Strenge Regeln führen nicht zum Verschwinden von Kreativität. Ich sehe viele mutige und kreative Arbeiten aus einer solch schwierigen politischen Landschaft hervorgehen.«
Auf die Frage, ob er plane, Hongkong zu verlassen, antwortet Hui, dass es noch Raum für Kreativität in der Stadt gebe, und dass er vor Ort aktiv sein möchte. »Ich würde es aber in Betracht ziehen zu gehen, sollte das Sozialkredit-System auch in Hong Kong eingeführt wird.«
Der Komponist Daniel Lo teilt Huis Bedenken hinsichtlich des neuen Gesetzes. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Als Hongkonger bin ich wirklich erschüttert. Bisher habe ich in meiner künstlerischen Karriere noch keine Zensur erlebt, aber ich kann die wachsende Angst in der Kunstszene spüren. Ich bin der Meinung, dass klassische Musik von politischer Zensur verschont bleiben sollte. Immerhin ist sie deutlich abstrakter als andere Kunstformen wie Theater oder visuelle Künste.«
Lo ist in den 1980er Jahren geboren und hat in der Metropole einiges miterlebt; vom Wechsel der Staatshoheit bis hin zu den politischen Unruhen der letzten Jahre. Das post-koloniale Hongkong hat Schwierigkeiten, seine lokale Geschichte sowie Kultur und Sprache vor dem Einfluss des Chinesischen Festlandes zu schützen. Während zahlreiche Menschen in Hongkong – vor allem die älteren Generationen – sich stark mit China identifizieren, definieren sich viele in Los Alter und den nachfolgenden Generationen ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zu Hongkong.
Dieser Lokalpatriotismus hat zu Debatten und Diskussionen über Hongkongs Identität geführt. In den vergangenen 10 Jahren wurde eine beeindruckende Anzahl lokalpatriotischer Filme produziert. Im Mai dieses Jahres erreichte eine Kickstarter Kampagne, die Gelder sammelte für ein literarisches Magazin, das ausschließlich auf Kantonesich (der in Hong Kong mehrheitlich gesprochene Sprache) publiziert, das Fünffache ihres angestrebten Fundraising Ziels.. Von Chorwerken über Kantaten bis hin zur Oper – immer mehr Komponist:innen der zeitgenössischen Musikszene Hongkongs versuchen, die Sprache in ihr Werk einfließen zu lassen.
Los jüngste Oper Women Like Us, ist eines von vielen vokalen Werken, das sich kantonesischer Texte Hongkonger Autor:innen bedient. Die Oper basiert auf zwei Kurzgeschichten von XiXi, einer der bedeutendsten literarischen Stimmen der Stadt:
»Xi Xis Werke behandeln die Kernfragen der Hongkonger Identität. Was mich allerdings am meisten berührt ist der humanistische Blick, der ihre Werke so einzigartig macht. Ich ziehe es vor, mich in meiner Arbeit von gegenwärtigen Konflikten zu distanzieren, weil ich glaube, dass ein Werk mit humanistischen Werten eine andere, neue Perspektive auf Probleme und Erfahrungen, die uns in unserer Zeit begegnen, bietet«, erklärt Lo. »Hongkong hat viele Probleme. Nicht nur seine Beziehung zu China und den Verlust der freien Meinungsäußerung. Es ist nicht gesund für die Kreativszene, wenn wir uns nur auf ein oder zwei Themen versteifen.«
In Großbritannien zu bleiben, war ihm nie in den Sinn gekommen, nachdem er 2016 von seiner dortigen Promotion zurückgekehrt war: »Meine ganze Familie und all meine Freunde sind in Hongkong, und ich liebe diese Stadt wirklich«, sagt er. In jüngster Zeit hat Lo jedoch darüber nachgedacht zu gehen: »Die Realität ist, dass Hong Kong als hochgradig kapitalistische Stadt zunehmend unbewohnbar wird. Die aufgeladene politische Atmosphäre ist nicht der einzige Grund für mich, meine Heimatstadt zu verlassen.« Momentan weiß er nicht, was ihn erwartet – er wird improvisieren. Sollte die Situation ihn davon abhalten, seiner Arbeit nachgehen zu können, wird er die Emigration in Betracht ziehen.
Gehen oder Bleiben ist zu einer ernsthaften Erwägung für Menschen in Hong Kong geworden. In den letzten Jahren der Kolonialherrschaft hat die Stadt schon einmal eine Massenabwanderung erlebt. Damals fürchteten viele Bewohner:innen, dass Peking seinen Verpflichtungen aus der britisch-chinesischen Abmachungen nicht nachkommen würde. Einige kehrten zurück, nachdem sie sahen, dass die Stadt ihre Autonomie in den ersten 10 Jahren wahren konnte. Jetzt lässt das Sicherheitsgesetz viele erneut abwägen, ob sie bleiben oder nicht.
Ethnomusikwissenschaftler Dr. Ho-Chak Law, deren sowohl zu Kulturpolitik als auch zu chinesischsprachigem Transnationalismus forscht, entschied sich 2018,, nachdem der Rückkehr von einem Promotionsaufenthalt in Michigan, Hongkong zu verlassen.
»Der akademische und musikalische Bereich in Hong Kong ist eher konservativ. Ich habe da mal das Fach ›Chinesische Musik‹ unterrichtet, was auch eines meiner Forschungsgebiete ist. Der Begriff ›Chinesisch‹ ist von Hause aus politisch. In der Regel suggeriert er Nationalismus, durchdrungen von konfuzianischem Gedankengut und dem Aufrechterhalten seiner Legitimität durch Institutionen, Konservatorien und Vermarktung,« sagt Law. »Was ich aber sehe, ist, dass die Musik im chinesischsprachigen Raum lebendig sein kann und voller Potential steckt. Leider hat das angespannte soziale und politische Klima das historische Vorstellungsvermögen einer gesamten Generation beschnitten. Deshalb möchte ich einen Ort finden, an dem ich meine Forschung in einem transnationalen Kontext weiterführen kann. Hongkong ist dafür nicht mehr der richtige Ort.«
Law sieht die ideologische Polarisierung in Hongkong als eine Hauptursache der weit verbreiteten konservativen Haltung. »Entkolonialisierung bedeutet nicht, dass Hongkong alles von China Kommende willkommen heißt und akzeptiert. Die Kolonialisierung zu glorifizieren, ist an sich problematisch. Es stimmt: Das neue Nationale Sicherheitsgesetz bildet einen Rahmen, , der den Raum für Diskussion einengt. Aber zu auf uns selbst bezogen zu sein würde lediglich unsere Fähigkeit einschränken, verschiedenste akute Probleme sozialer und politischer Art in Hongkong aufzudecken, was eine Polarisierung noch weiter vorantreibt. Hong Kong als Standort hat viele Probleme, die darauf warten aufgedeckt zu werden.«
Die kürzlich graduierte Musikstudentin Karen Yu fand in den sozialen Unruhen zu einer ernsthafteren Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität als Künstlerin. »Die Protestbewegungen haben mich dazu gebracht über meine Tätigkeit nachzudenken«, erklärt sie. »Ich habe mich gefragt: Muss ich in meiner Kunst auf die Gesellschaft reagieren?«
Mit dem in Vancouver lebenden Komponisten William Kuo schuf sie im Februar 2020 Augmented Aurality, eine Installation, die von der Fake-News inspiriert ist – ein während der Proteste weit verbreitetes Phänomen, welches Misstrauen und sogar Akte der Gewalt befeuerte.
Während Yu sich als Perfomance-Küstlerin einen Namen machte, fegte das nationale Sicherheitsgesetz über Hong Kong hinweg. »Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich über meine eigene Sicherheit und die meiner Familie nachdenken muss, nur weil ich Künstlerin bin. Wenn ich früher mit Leuten zusammengearbeitet habe, wurde viel über künstlerische Konzepte und Ideen gesprochen. Seltsamerweise tendieren wir jetzt dazu, eher über Probleme wie Migration und Gesundheit zu reden. Ich frage mich, was ich tun würde, wenn ich eines Tages andere politischen Ansichten als meine Kollegen vertreten würde. Wäre da überhaupt noch Raum für eine Zusammenarbeit?«
Mit 15 Jahren verließ Yu Hongkong, um die weiterführende Schule und ihr Hochschulstudium in Kanada zu absolvieren, 2017 entschied sie sich zurückzukehren. »Meine Heimat ist nicht Montreal, sondern Hongkong«, sagt sie. Aber die sich verschlechternde politische Situation macht es zunehmend schwerer für sie, die Kontrolle über ihr Leben und ihre Karriere zu behalten. Yu gibt sich fünf Jahre, um sich in Hongkong eine Existenz aufzubauen. Sollte sie jedoch nicht so leben können, wie sie es möchte, wird auch sie darüber nachdenken, ob Hongkong weiterhin der richtige Ort für sie ist. ¶
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