Text Ulrich Mertin
Titelbild Elisa Erkelenz
»Die Musikszene hier ist wie ein Bonbonmarkt – Du kannst unglaublich viele Sachen probieren, aber es ist völlig unstrukturiert, undurchschaubar«, erzählt der Bratscher Ulrich Mertin bei einem Çay in einem Hipster-Café im Istanbuler Cihangir. Seit zehn Jahren ist er immer mehr mit der Stadt verwachsen. »Es hat eine Weile gedauert, sich hier als Musiker einigermaßen zurechtzufinden«. Mittlerweile hat Mertin nicht nur bei diversen Auftritte als Geiger seinen Platz im Nachtleben der Stadt gefunden, sondern auch ein Solistenensemble für zeitgenössische Musik gegründet: das Hezarfen Ensemble.
In der heutigen Türkei ist Hezarfen das einzige professionelle Ensemble, das unabhängig funktioniert, von keiner staatlichen Organisation gefördert, gefordert und gelenkt. Dahinter steckt der Versuch, ein hybrides Ensemble mit »türkischer Identität« aufzubauen. Mit der künstlerischen Vision, sowohl osmanische Klangsprachen als auch westliche zeitgenössische Musik auf höchstem Niveau zu interpretieren. Spieler der Kastenzither Kanun sowie der Kurz- und Kastenhalslauten Oud und Kemençe werden in jahrelangen Workshops Teil des Ensembles.
Gemeinsam mit universitären Instituten vor allem in Istanbul, Ankara und Izmir, hat sich Hezarfen zu einem bedeutenden Katalysator für die unter politisch nicht immer einfachen Umständen wachsende Szene zeitgenössischer Komposition in der Türkei entwickelt. Mit dem Ziel, jungen Komponist*innen die Chance zu geben, ihre Stücke auf hohem instrumentalen Niveau zu realisieren und sich so weiterzuentwickeln. Für viele die einzige Chance überhaupt, ihre Werke live zu hören. »Noch immer gehen die meisten Komponisten ins Ausland und viele bleiben dann in Deutschland oder den USA. Aber: Einige kommen zurück, suchen auch die Verbindung mit der Tradition.«
Für die erste Ausgabe von OUTERNATIONAL hat Ulrich Mertin eine Playlist mit Werken bekannter und aufstrebender zeitgenössischer Komponist*innen zusammengestellt. Sie eint, dass sie nach Jahren im Ausland heute wieder in der Türkei leben. Ein subjektiver Hörstreifzug durch die zeitgenössische Musikszene vom Bosporus zum Schwarzen Meer, versetzt mit einer rudimentären Bildstrecke zur Musikgeschichte der Türkei. »Ohne die groben Züge kannst Du das nicht hören, nicht verstehen.«
Ulrich Mertin und Elisa Erkelenz im Café in Cihangir
Nach Jahren in Köln und den USA lebt die Komponistin Füsün Köksal inzwischen in Izmir. Ihr Stück voce immobile über Schlafparalyse und den flüchtigen Wechsel zwischen Realem und Surrealem, Bewusstsein und Unterbewusstsein ist ein Solo-Stück für Bassklarinette, das von Richard Haynes in Huddersfield uraufgeführt wurde. Hier vermengen sich Gershwin-Anklänge mit traditionell anmutenden Rhythmen und Tonalitäten, kreativen Spieltechniken wie Slaps und Flatterzunge. Sie spricht mit Blick auf das Stück von einer Art »Inbetween-ness«, zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein… Ich finde, das lässt sich auch gut über ihren Umgang mit Transkultur übertragen. Sie selbst hat auf diese Behauptung erstmal ablehnend reagiert.
Das osmanische Reich repräsentiert in seiner kulturellen und ethnischen Vielfalt einen der größten Melting-Pots der Geschichte. Die osmanische Halk Müziği und Sanat Müziği (Volks- und Kunstmusik) haben eine jahrhundertelange Tradition, die größtenteils oral tradiert und ob ihrer korrekten »historischen Aufführungspraxis« von Generation zu Generation gewissenhaft kontrolliert und weitergegeben wird. Bis hinein in Familien ist es Tradition zu singen, zu musizieren, Lieder und Musik weiterzugeben und so am Leben zu erhalten.
Mehmet Can Özer schreibt und komponiert zwischen elektronischer und akustischer Musik. Er ist ein Geschichtenerzähler mit einem sehr guten Gespür für organische, sich fortlaufend verändernde, mäandernde Klanglandschaften aus komplexen und sinnlichen Sound-Welten. Bei ihm werden Klänge nicht blockartig hingestellt oder aneinandergereiht, sondern miteinander, in einer fast schon biologisch evolutionären Weise, zu cinematografischen Kompositionen verwoben. Zum Beispiel der Anfang von Son Pozisyonlar II: Hier wächst ein Glockengeläut-Klang, Synonym für die Erlösungs-Thematik des Stückes, wie eine Art Pflanzensprössling, genährt aus einer Kaskade von quasi mineralisierten, »düngerhaltigen« Klängen. Der Track selbst ist autobiographisch, als Zuhörer hat man aber die Möglichkeit, sich in verschiedene andere Welten und Interpretationsansätze hinein zu hören.
Im 18. und 19. Jahrhundert inspirierte die osmanische Musik europäische Komponisten von Gluck, Haydn, und Mozart zu Beethoven. Schlag- und Blasinstrumente der Janitscharen-Kapellen, den Leibwachen des Sultans, wie Trommeln, Becken, Pauken, Trompeten hielten Einzug in europäische Orchester und prägen das Klangbild der westlichen klassischen Musik bis heute. Haremsdamen, wie z.B. Dilhayat Kalfa, Kevser Hanım, Fehmine Hanım bekamen Instrumental- und Kompositionsunterricht, auch durch europäische Lehrer, und waren die prägenden Figuren in der Entwicklung der osmanischen Kunstmusik.
Onur Türkmen ist einer der wenigen Komponisten, der sich schon seit langer Zeit tiefgehend, gewissenhaft und, wie ich finde, bahnbrechend mit Transkulturalität in Musik befasst. Im Fokus von Onur Türkmens Arbeit steht in den letzten Jahren vor allem die Beobachtung türkischer Makams und traditioneller Elemente sowie dem, was er »Rituelles Drama« nennt: Eine Art Verbindung von Poesie, Drama und Ritual. Points ist ein beeindruckendes Beispiel für dieses Konzept, ein work-in-progress zwischen Onur und dem Hezarfen Ensemble, mit aktuell neun Sätzen, jeder Satz basierend auf einem bestimmten Makam und seiner spezifischen Sonorität. Das Stück ist in seinem formalen Aufbau an Kurtags Signs, Games and Messages angelehnt. Ensemblestücke rahmen Solo-, Duo- und Triostücke ein. Zentral ist die Verwendung der Worte »şimdi« (jetzt) und »nereye« (wohin). Jedem Satz scheint eine gewisser Aspekt eines Rituals zugrunde zu liegen, das Streichtrio im 6. Satz z.B. wirkt wie eine von einem antiken Posaunenchor angekündigte priesterliche Beschwörung im darauffolgenden Flötensolo (7.) – samt Erlösung (8.). Das Stück endet wiederum mit »şimdi« und »nereye«. Was nun, nach der Erlösung?
Onur betont immer wieder, dass er Makams losgelöst von ihren kulturellen Assoziationen betrachtet, sie quasi musikalisch seziert und erforscht. Oftmals, leider, reagieren viele westliche Komponisten sehr allergisch auf die Verwendung von Makams, da ihr Gebrauch sofort schablonenhafte Assoziationen hervorruft. In diesem Sinne ist Onur für mich der perfekte kulturelle und ästhetische »Botschafter« für einen künstlerisch und musikalisch überzeugenden Umgang mit türkischen Makams im zeitgenössischen Kontext.
Nach dem Zerfall des osmanischen Reiches und der Gründung der Türkischen Republik 1923 vollzog Mustafa Kemal Atatürk einen radikalen gesamtgesellschaftlichen Richtungswechsel. Durch die Adaption europäischer Kulturen, Prinzipien und Lebensweisen wollte er die türkische Gesellschaft in seinem Sinne modernisieren. Für die Musik bedeutete das radikale Reformen: Internationale Musiker, Pädagogen und Komponisten wurden in die Türkei geholt, Paul Hindemith leitete den Aufbau des 1. türkischen Staatskonservatoriums in Ankara 1936 und erarbeitete und realisierte ein umfassendes, bis heute prägendes Musikerziehungskonzept. Türkische Komponisten wurden nach Wien und Paris geschickt, um sich dort auszubilden zu lassen. Zurück in der Türkei, entstand aus ihnen die Gruppe der »Türkischen 5« – Cemal Reşit Rey, Ulvi Cemal Erkin, Ahmet Adnan Saygun, Necil Kâzım Akses und Hasan Ferit Alnar. Ihre künstlerische Arbeit und Lehrtätigkeit folgte der Maxime Atatürks, einen neuen, nationalen musikalischen Stil zu schaffen, eine Fusion aus traditioneller und westlicher Musik.
Berkant Gençkal ist ein bulgarisch-türkischer Komponist, der mit seiner Familie in den achtziger Jahren als Reaktion auf die rücksichtslos durchgeführte Assimilation der türkischen Minderheit in Bulgarien durch das damals herrschende kommunistische Regime in die Türkei auswanderte. Heute lebt und unterrichtet Berkant an der Anadolu Universität in Eskisehir. Seine Musik zeichnet die »traditionelle« Verwendung serieller Kompositionstechnik aus.
Das Tagebuch der Deren, ein Auftragswerk des Guitar+-Festivals und Hezarfen Ensemble, wurde als »Begrüßungsgeschenk« für seine neugeborene Tochter geschrieben, eine schonungslose, ungeschminkte Auseinandersetzung über Autorität und ihre Methoden. »Die Beschreibung einer exotischen Landschaft, in der die Ernennung des ›Präsidenten‹ eine anarchische Frage ohne Antwort aufwirft«, schreibt er selbst dazu. Jede Seite des »Tagebuchs« repräsentiert einen Ausschnitt aus dem Gesamtbild, wie bei verschiedenen Akten eines Dramas, angelehnt an die Malereien auf japanischen Faltschirmen, byōbu. Elegische, oftmals überbordende, sinnliche Klänge kontrastieren hier mit chaotischen explosionsartigen Klangzuständen und schaffen klare, theatralisch-bewegte Bilder. Durch die Verwendung einer mikrotonalen Gitarre mit verschiebbaren Bünden, die dadurch intonatorisch und klanglich ähnlich wie das ebenfalls im Stück verwendete Kanun benutzt wird, schlägt er gleichzeitig eine Brücke zwischen den westlichen und traditionell türkischen Instrumenten. Ein sehr persönliches und eindrückliches Zeit-Ton-Dokument.
Viele angehende Komponisten und Musiker gingen und gehen ins Ausland und bleiben dort auch meistens. Vor 10 Jahren gab es mehr aktive und präsente türkische Komponisten über den Globus verteilt, als in der Türkei selbst. Seitdem hat sich jedoch viel verändert, es gibt eine expandierende, neugierige Musikszene, getragen vor allem von zurückgekehrten international erfahrenen und erfolgreichen Musikern und Komponisten, die als Pädagogen das Ausbildungsniveau spürbar und nachhaltig anheben.
Chorei wurde 2017 im Rahmen des Hezarfen Ensemble-in-Residence Programmes am MIAM/ITÜ erarbeitet und aufgenommen. Ein formal und klanglich durchaus »europäisch« beeinflusstes Stück, mit einem klaren Bezug zu Lachenmanns Werken und Klangwelten.
Eine fast schon klassisch zu nennende Anfangs-Geste, danach ruhige Klangentwicklung bis zum ersten Höhepunkt, als Introduktion. Ein sehr ruhiges Grave-Tempo und ein basslastiger Unterbau, pulsierend voranschreitend, schaffen es, eingebettet in flirrende, zirpende Klänge, einen großen Bogen durch das Stück zu schlagen. Ein langandauernder Ausklang mit einem sehr spielfreudigen Bratsche/Cello-Duo.
Enis Gümüş ist momentan Doktorand am MIAM/ITÜ und hat, ähnlich wie Didem Coşkunseven, einen interessanten, sehr diversen musikalischen Hintergrund. Seine Stücke sind im besten Sinne seltsam. Merkwürdige »Molto-Vibrato«-Passagen im Lamento-Style kreieren traumhafte, sonore Welten zu Beginn. Fließende Momente lösen sich ab mit statischen, meist auch mit einem kurzzeitigen, musikalischen Genrewechsel verbunden, dazwischen wunderbare gläserne Sul-Ponticello-Passagen und einfach schöne, melancholisch-melodische Passagen, eingefasst in einem dissonanten Grundton. Ohne Scheu davor, wirksame harmonische Kadenzen einzubauen. Eine, wie ich finde, musikalisch großzügig aus dem Vollen schöpfende, fantasievolle »Natur«-beschreibung.
Arda Yurdusev studiert zur Zeit bei Yigit Aydin an der Bilkent Universität Ankara, verbrachte aber einen Großteil seiner Kindheit in Japan. Senri wurde im Februar während der diesjährigen Bilkent Hezarfen Academy erarbeitet und uraufgeführt. Das Stück birgt großen Spielspaß – unsere Assoziation in den Proben war immer ein Schattengefecht zwischen Samuraikriegern, ein stolzes, von Werten und Respekt geprägtes finales, endgültiges Duell. Aus dem Bratschen-Intro heraus entsteht eine Choreografie von Klängen, mal klingen kreuzende Klangverläufe der vier Streicher wild durcheinander, mal geordnet in wechselnden Grüppchen. Eine Abfolge von ritualisierten Bewegungsmustern in einem Schwerttanz. Den rhythmischen »Motor«, Impuls im zweiten Teil des Stückes, übernehmen die vier Stimmen der Musiker, ein Sprechgesang über das Wort Senri, zerlegt in seine Silben, Konsonanten und Variationen derer. Alles in einer wohlklingenden, sonoren, mit harmonischen Auflösungen und Kadenzen versehenden Klangwelt, nicht ganz unwesentlich inspiriert von Toshio Hosokawa.
»Die Musikszene hier ist wie ein Bonbonmarkt«
Playlist zur neuen Musik der Türkei in @vanmusik #outernational
Yığıt Aydın unterrichtet an der Bilkent University in Ankara. Friends of God, ein gesellschaftskritisches Stück über die Gezi-Park Proteste 2013, ist von einem offbeatigen Puls angetrieben, der das ganze Stück gleichmäßig voranschreiten lässt. Mit Texten des türkischen Sufis und Dichters Hacı Bayram aus dem 14. Jahrhundert und von Goethe werden die verwendeten Sprachen seziert, ihre Bestandteile herausdestilliert bis sie auf der geräuschhaften Ebene nicht mehr voneinander zu trennen sind, das quasi alles-verbindende sprachliche Ur-Gen. Die räumliche Aufteilung des Chores unterstützt im Verlaufe des Stückes die untrennbare Vermischung plastisch.
Tolga Yayalars Tableaux Vivantes nehmen ebenfalls Bezug auf die Demonstrationen in Gezi, eine vielschichtige, klanggewaltige, teilweise kakophone Vertonung der Stimmungen und Situationen in diesen bewegten und, wie Tolga es ausdrückt, vitalisierenden Tagen. Die schiere Kraft und fokussierte Energie großer Menschenhaufen, das Verschmelzen von Individualitäten zu einem größeren Bewusstsein und zu einer atmenden, bewegten, agierenden und reagierenden Masse sowie ihrem Aquivalent im Gebrauch von einzelnen Instrumenten und Tutti-Klängen. Momente, in denen ein einzelner Impuls die gesamte träge Masse von hunderttausenden Menschen in unkontrollierte Bewegung und Richtung setzt. Einfach gehaltene, basslastige, unruhige Klangflächen mit nervösen Abwärtsgirlanden in den Streichern und Holzbläsern schaffen es, die hochnervöse, geradezu fiebrige Atmosphäre vor Ort auferstehen zu lassen. Wunderschön die kurzen Momente intimer, harmonischer Kammermusik-Inseln gegen Ende, die den gesamten kakophonen, großen Klangapparat kurzzeitig zu beeinflussen, zu befrieden scheinen und doch nur kurze Ruhepunkte bilden.
Hezarfen Konzert beim #sesinyolculuğu festival. Tolga Yayalar schreibt dazu auf Facebook: »I think this could be a milestone concert in Turkey. Never heard a concert in Sesin Yolculuğu where craftsmanship and imagination was this high. Thanks to Hezarfen Ensemble for their commitment to new music in Turkey. It is also their dedication and energy that motivates young composers to write such marvelous music.«
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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