Golnar Shahyars Stimme ist schon beim Sprechen unglaublich lebendig, voll und mitreißend, vor allem, wenn sie auf tiefster Kehle lacht. »Ich konnte schon als Kind mit meiner Stimme alle möglichen Geräusche imitieren«, erzählt sie. »Und bei mir wurde diese Fähigkeit – aus irgendeinem Grund – beim Älterwerden nicht blockiert, wie es sonst bei vielen Erwachsenen der Fall ist.« Die Sängerin, Komponistin und Multiinstrumentalistin, die mittlerweile in Wien lebt, wuchs im Iran und in Kanada auf, studierte Biologie und Gesang und steht heute als Bandleaderin mit verschiedenen Ensembles – vor allem dem Golnar & Mahan Trio (Gesang, Gitarre, Oud, Percussion, Piano) und dem Trio Gabbeh (Gesang, Klarinette, Kontrabass) – oder solo als GolNar (Gesang, Gitarre Klavier) auf der Bühne. Virtuell treffen wir uns und sprechen über ihre Musik und ihren Aktivismus – und warum das eine nicht ohne das andere geht.
Text Merle Krafeld
Fotos © Ina Aydogan
VAN: In Berichten über dich heißt es, du beziehst dich in deinem Songwriting auf persische Musik – was ist damit gemeint? Persischer Folk? Klassische persische Musik? Kannst du das etwas genauer erklären?
Golnar Shahyar: Folk hat im Iran immer noch eine sehr starke zeremonielle Funktion, ist archaischer. Die Klänge unterscheiden sich erheblich von Region zu Region, wie sich auch die Sprachen unterscheiden. Der Iran ist kulturell sehr divers. Klassische Persische Musik studiert man, man lernt sie bei einem Meister. Die Musik hat einen höheren sozialen Status, genau wie europäische klassische Musik hier. Aber irgendwann war diese Musik auch mal Teil der Folk-Musik. Die Gruppe, die diese Musik gemacht hat, hat dann die Königsfamilie gestellt und schließlich wurde die Musik als höfische Musik, als höherwertige Musik angesehen. Und so ist es geblieben.
Und was davon findet Einfluss in dein Songwriting?
Es ist sehr schwer für mich, das zu sagen. Ich bin ohne musikalische Vorbilder aufgewachsen. Im Iran herrschte nach der Revolution ein Gesangsverbot für Frauen. Auch Live-Musik war oft verboten, Konzerte habe ich im Iran wirklich nicht oft erlebt. Was wir hatten, waren die Revolutionslieder, Kriegslieder. Und Tasnif, in etwa das ganz alte iranische Songwriting. Und dann kam MTV [lacht]. Aber diese Musik war nicht repräsentativ für meine Generation. Für mich ist es extrem schwer mich einzuordnen. Ich muss alles immer finden.
Du singst auf vielen verschiedenen Sprachen, vor allem Farsi und Englisch. Was noch?
Ich habe in meinem Repertoire auch Stücke auf Kurdisch, Sephardisch und einer Fantasiesprache, die ich gerne benutze, wenn ich das Gefühl habe, dass Lieder noch nicht bereit sind für einen Text. Manchmal sind sie auch nie bereit. Und manche Kompositionen werden erst durch die textliche Message rund.
Ändert die Sprache deine Art zu komponieren oder zu singen – weil die Sprachen zum Beispiel mit anderen Lauten oder inhaltlich mit anderen Bilder funktionieren?
Auf jeden Fall! Jede Sprache hat einen eigenen Klang und ein eigenes Gefühl. Ich liebe es auch, auf Arabisch zu singen und Arabisch zu hören. Die Klänge dieser Sprache sind unglaublich schön für Gesang. Deutsch ist schwer für mich [lacht]. Auf Farsi bleibt zum Beispiel vieles offen, hat mehrere Bedeutungen. Jede Sprache bietet andere Räume, andere Bilder, andere Klänge, andere Vorstellungen.
Sind für dich Sprache und musikalisches Material verbunden? Benutzt du zum Beispiel auch das iranische Dastgah-System, wenn du auf persisch singst?
Ich kann iranische Skalen auch auf einen englischen Text singen. Aber das klingt so witzig! [lacht] Unsere Ohren sind das einfach nicht gewohnt. Es gibt ja schon so etwas wie eine Sprachmelodie, über die die Skalen mit den Sprachen verbunden sind. Ich versuche aber zum Beispiel auch wenn ich auf Englisch singe andere Arten der Phrasierung einzubringen.
Was ich neben dem Komponieren meiner eigenen Musik auch tue, ist, meine eigene Interpretation der alten iranischen traditionellen und Volksmusik sowie der alten Tasnifs zu finden. Das bedeutet, dass ich nach dem iranischen Dastgah-System singe, aber mit neuen Stimmfarben, Stimm- und Arrangementansätzen. Bei meinen eigenen Kompositionen denke ich manchmal aus der Perspektive des Dastgah-Systems und entwickle die Melodien in diesem System. Es ist jedoch meine bewusste Entscheidung, meine eigene Interpretation und meinen eigenen Ausdruck zu finden, was mich nicht als typisch iranische klassische Sängerin kategorisiert.
Ich bin, wenn ich auf Farsi singe, mit dem Text oft alleine, weil im Publikum niemand Farsi versteht. Mir sind darum die Klänge wichtiger als die Worte, ich bin eher Instrument, als dass ich den Lyrics diene. Ich diene der Musik – insgesamt.
Sitzt das Publikum bei deinen Konzerten eher? Oder tanzt es?
Die Leute sitzen. Manches ist schon groovig bei uns, aber häufig sind die Lieder wie Geschichten, mit Abschnitten in verschiedenen Tempi und Rhythmen. Das ändert sich auch auf der Bühne, wir improvisieren ja auch viel.
Golnar Shahyar über die Musikalität verschiedener Sprachen und die Diversifizierung des Musikbetriebs.
In @vanmusik #outernational #12
Für mich klingen deine Stücke sehr lebendig und frei, ich habe das Gefühl, es wird viel improvisiert. Gleichzeitig gibt es auch viele Passagen, in denen du unisono singst mit anderen Instrumenten.
Unsere Lieder sind komponiert, die Struktur, bestimmte Melodien. Aber wie ich zum Beispiel in eine Melodie reinkomme – das ändert sich bei jedem Konzert. Und es gibt immer Teile, die ich für mich ganz leer lasse, bei denen ich mich auf der Bühne überraschen lasse, was passiert.
Wie entstehen die Songs, die du schreibst?
Wenn ich komponiere, lasse ich mich vom Instrument inspirieren. Ich improvisiere viel. Oder die Lieder entstehen beim Üben. Wenn ich etwas Neues lerne, wird daraus direkt ein Stück. Das bedeutet, ich komme immer in ein spontanes Gespräch mit dem, womit ich gerade musiziere. Musik ist sowieso eine Form der Konversation. Das Ergebnis dieses Gesprächs ist die Komposition, die relativ fixiert ist. Ich habe keine Angst davor, ein tiefes und herausforderndes Gespräch mit meiner Umgebung zu führen, auch wenn es sich beim Gegenüber um ein Instrument handelt. Der Unterschied zwischen den Instrumenten und den Menschen besteht darin, dass Instrumente authentisch und ehrlich sind in dem, was sie anbieten können und wer sie sind, Menschen sind normalerweise nicht so! Deshalb liebe ich es, mit verschiedenen Instrumenten zu komponieren.
Du hast im April diesen Jahres einen offenen Brief geschrieben über die mediale Nichtbeachtung von Musikschaffenden mit migrantischem Hintergrund in Österreich. Worum ging es da?
Ich arbeite seit fast zehn Jahren in Österreich. Deutschland ist da vielleicht nochmal anders, aber ich habe das Gefühl, es gibt zwischen beiden Ländern schon Ähnlichkeiten darin, wie man Kulturen betrachtet. In Österreich vermisse ich die Offenheit und dass sich Leute wirklich Wissen aneignen zu bestimmter Musik. Im Musikbusiness in Österreich herrschen Klischees von Kulturen, die mit den eigentlichen Kulturen nichts zu tun haben. Dadurch werden die Künstler:innen gezwungen, die eigene Kultur möglichst exotisch darzustellen – weil sie sonst einfach gar nicht auftreten können. Auch das Ausbildungssystem spielt da eine Rolle: Man kann nur europäische Klassik, amerikanischen Jazz und angelsächsischen Pop studieren. Musikhochschulen sollten auch Menschen in anderen Musikrichtungen ausbilden und diese auf Augenhöhe sehen.
Vom Musikjournalismus werden wir häufig übersehen. Wenn wir dann doch mal vorkommen, werden wir nicht als Künstler:innen betrachtet, als Spezialist:innen, sondern als exotisches Objekt. Es wird auch nie darüber gesprochen, dass »Weltmusik« ein problematischer, diskriminierender Begriff ist. Der Begriff wurde als Marketing-Instrument erfunden, um vor allem Musik aus südamerikanischen und afrikanischen Ländern zu verkaufen. Aber es ist einfach unmöglich, so viel diverse Musiken unter einem Begriff zu beschreiben. Wir sollten auch in die Frage stellen, wer beschreibt, was »Weltmusik« ist, und ob diese Person ein tieferes Verständnis für die Musik aus anderen Kulturen hat. Und: »Weltmusik« wird immer getrennt behandelt von der ernsthaften oder komplexen Musik. Man schaut auf sie hinab, nimmt sie nicht ernst. Manches ist auch platt, aber einfach, weil die Künstler:innen sonst gar nicht spielen können und dann vor der Wahl stehen: das Exotische oder gar nichts. Diese Absonderung als »Weltmusik« hilft den Künstler:innen gar nicht. Was helfen würde, wäre, darüber zu reden und zu versuchen, das System inklusiver zu machen.
Hast Du da konkrete Vorschläge?
Diese Frage verdient eigentlich ein eigenes Interview. Die marginalisierten Kulturen brauchen mehr Raum und Macht im musikalischen Ökosystem als Ganzes. Und das muss sich organisch entwickeln. Niemand kann irgendwem eine Stimme geben – die Menschen haben schon eine Stimme. Sie wissen, wer sie sind und was sie wollen. Sie brauchen nur den Raum, Zeit und den Glauben, dass sie es schaffen können. Hier spielt Bildung eine entscheidende Rolle. Die Musikhochschulen sollten ihre Türen so bald wie möglich für diese marginalisierten Kulturen öffnen. Wir brauchen mehr Musiker:innen, die musikalische Vielfalt verstehen, sie respektieren und praktizieren können. Wir müssen außerdem mehr Spezialist:innen aus diesen marginalisierten Communities in den Journalismus, ins Kuratieren und ins Booking integrieren. Dann könnten wir zusammen die Dekolonisierung der Musiksprache auf der einen Seite und der Musikindustrie auf der anderen Seite voranbringen und gemeinsam ein Verständnis dafür entwickeln, was unsere zeitgenössische Musiksprache ist, denn die besteht sicherlich nicht nur aus der weißen europäische und amerikanischen musikalischen Identität.
Wie waren die Rückmeldungen auf den offenen Brief?
Menschen an der Macht oder Journalist:innen mit einer Plattform haben unterschiedlich reagiert. Viele schwiegen, manche waren beleidigt, andere waren überrascht und wussten nicht, wovon genau ich rede. Nur sehr wenige haben mich unterstützt. Manchmal treffe ich Journalist:innen, die den Brief gelesen haben und mit mir darüber ins Gespräch kommen. Das zeigt, dass sie offen sind und das Gefühl haben, dass sich auch die Dinge ändern müssen. Das ist eine sehr positive Sache. Aber das passiert leider nicht so oft!
Ich kann nicht in einem Umfeld arbeiten, das kein Verständnis hat für mich und andere Kulturen. Darum habe ich das Gefühl, dass ich nicht nur Musikerin sein kann, sondern auch Aktivistin sein, auch Bildungsarbeit machen muss. Das überfordert mich wirklich. Aber ich muss. Wenn ich es nicht tue, kann ich auch nicht als Musikerin arbeiten. Also tue ich, was ich kann. In der Zeit des Lockdowns habe ich viel in dieser Richtung gearbeitet, mit Rojin Sharafi und Yalda Zamani das Netzwerk we:shape gegründet. Aber es ist wieder dasselbe: Wir sind nur drei Leute, freischaffende noch dazu, und das ist so viel Arbeit. Wir werden damit langsam weitermachen.
Du hast außerdem das Seda Collective mitgegründet – was ist das?
Wir als iranische Musiker:innen supporten uns in diesem Kollektiv gegenseitig. Aus dem Iran bekommen wir überhaupt keine Unterstützung, stattdessen werden wir von der iranischen Regierung unterdrückt, wo immer es geht. Unsere Fans im Iran können wir nicht erreichen, es gibt keine Plattform, um uns zu präsentieren. Die iranischen TV-Sender senden nur Propaganda der Regierung, die freie Musikszene kommt da überhaupt nicht vor. Viele von uns sind in der Diaspora, kämpfen alleine in ganz verschiedenen Ländern. Deswegen müssen wir als erstes alle zusammenkommen. Aber natürlich ist es schwer, weil wir alle freischaffende Künstler:innen sind – und so ein Kollektiv ist viel Arbeit. Aber es ist wirklich schön zu sehen, wie groß die Diversität ist in diesem Kollektiv. ¶
Golnar Shahyars Stimme ist schon beim Sprechen unglaublich lebendig, voll und mitreißend, vor allem, wenn sie auf tiefster Kehle lacht. »Ich konnte schon als Kind mit meiner Stimme alle möglichen Geräusche imitieren«, erzählt Golnar. »Und bei mir wurde diese Fähigkeit – aus irgendeinem Grund – beim Älterwerden nicht blockiert, wie es sonst bei vielen Erwachsenen der Fall ist.« Die Sängerin, Komponistin und Multiinstrumentalistin, die mittlerweile in Wien lebt, wuchs im Iran und in Kanada auf, studierte Biologie und Gesang und steht heute als Bandleaderin mit verschiedenen Ensembles – vor allem dem Golnar & Mahan Trio (Gesang, Gitarre, Oud, Percussion, Piano) und dem Trio Gabbeh (Gesang, Klarinette, Kontrabass) – oder solo als GolNar (Gesang, Gitarre Klavier) auf der Bühne. Virtuell treffen wir uns und sprechen über ihre Musik und ihren Aktivismus – und warum das eine nicht ohne das andere geht.
Text Merle Krafeld
Fotos © Ina Aydogan
VAN: In Berichten über dich heißt es, du beziehst dich in deinem Songwriting auf persische Musik – was ist damit gemeint? Persischer Folk? Klassische persische Musik? Kannst du das etwas genauer erklären?
Golnar Shahyar: Folk hat im Iran immer noch eine sehr starke zeremonielle Funktion, ist archaischer. Die Klänge unterscheiden sich erheblich von Region zu Region, wie sich auch die Sprachen unterscheiden. Der Iran ist kulturell sehr divers. Klassische Persische Musik studiert man, man lernt sie bei einem Meister. Die Musik hat einen höheren sozialen Status, genau wie europäische klassische Musik hier. Aber irgendwann war diese Musik auch mal Teil der Folk-Musik. Die Gruppe, die diese Musik gemacht hat, hat dann die Königsfamilie gestellt und schließlich wurde die Musik als höfische Musik, als höherwertige Musik angesehen. Und so ist es geblieben.
Und was davon findet Einfluss in dein Songwriting?
Es ist sehr schwer für mich, das zu sagen. Ich bin ohne musikalische Vorbilder aufgewachsen. Im Iran herrschte nach der Revolution ein Gesangsverbot für Frauen. Auch Live-Musik war oft verboten, Konzerte habe ich im Iran wirklich nicht oft erlebt. Was wir hatten, waren die Revolutionslieder, Kriegslieder. Und Tasnif, in etwa das ganz alte iranische Songwriting. Und dann kam MTV [lacht]. Aber diese Musik war nicht repräsentativ für meine Generation. Für mich ist es extrem schwer mich einzuordnen. Ich muss alles immer finden.
Du singst auf vielen verschiedenen Sprachen, vor allem Farsi und Englisch. Was noch?
Ich habe in meinem Repertoire auch Stücke auf Kurdisch, Sephardisch und einer Fantasiesprache, die ich gerne benutze, wenn ich das Gefühl habe, dass Lieder noch nicht bereit sind für einen Text. Manchmal sind sie auch nie bereit. Und manche Kompositionen werden erst durch die textliche Message rund.
Ändert die Sprache deine Art zu komponieren oder zu singen – weil die Sprachen zum Beispiel mit anderen Lauten oder inhaltlich mit anderen Bilder funktionieren?
Auf jeden Fall! Jede Sprache hat einen eigenen Klang und ein eigenes Gefühl. Ich liebe es auch, auf Arabisch zu singen und Arabisch zu hören. Die Klänge dieser Sprache sind unglaublich schön für Gesang. Deutsch ist schwer für mich [lacht]. Auf Farsi bleibt zum Beispiel vieles offen, hat mehrere Bedeutungen. Jede Sprache bietet andere Räume, andere Bilder, andere Klänge, andere Vorstellungen.
Sind für dich Sprache und musikalisches Material verbunden? Benutzt du zum Beispiel auch das iranische Dastgah-System, wenn du auf persisch singst?
Ich kann iranische Skalen auch auf einen englischen Text singen. Aber das klingt so witzig! [lacht] Unsere Ohren sind das einfach nicht gewohnt. Es gibt ja schon so etwas wie eine Sprachmelodie, über die die Skalen mit den Sprachen verbunden sind. Ich versuche aber zum Beispiel auch wenn ich auf Englisch singe andere Arten der Phrasierung einzubringen.
Was ich neben dem Komponieren meiner eigenen Musik auch tue, ist, meine eigene Interpretation der alten iranischen traditionellen und Volksmusik sowie der alten Tasnifs zu finden. Das bedeutet, dass ich nach dem iranischen Dastgah-System singe, aber mit neuen Stimmfarben, Stimm- und Arrangementansätzen. Bei meinen eigenen Kompositionen denke ich manchmal aus der Perspektive des Dastgah-Systems und entwickle die Melodien in diesem System. Es ist jedoch meine bewusste Entscheidung, meine eigene Interpretation und meinen eigenen Ausdruck zu finden, was mich nicht als typisch iranische klassische Sängerin kategorisiert.
Ich bin, wenn ich auf Farsi singe, mit dem Text oft alleine, weil im Publikum niemand Farsi versteht. Mir sind darum die Klänge wichtiger als die Worte, ich bin eher Instrument, als dass ich den Lyrics diene. Ich diene der Musik – insgesamt.
Sitzt das Publikum bei deinen Konzerten eher? Oder tanzt es?
Die Leute sitzen. Manches ist schon groovig bei uns, aber häufig sind die Lieder wie Geschichten, mit Abschnitten in verschiedenen Tempi und Rhythmen. Das ändert sich auch auf der Bühne, wir improvisieren ja auch viel.
Golnar Shahyar über die Musikalität verschiedener Sprachen und die Diversifizierung des Musikbetriebs.
In @vanmusik #outernational #12
Für mich klingen deine Stücke sehr lebendig und frei, ich habe das Gefühl, es wird viel improvisiert. Gleichzeitig gibt es auch viele Passagen, in denen du unisono singst mit anderen Instrumenten.
Unsere Lieder sind komponiert, die Struktur, bestimmte Melodien. Aber wie ich zum Beispiel in eine Melodie reinkomme – das ändert sich bei jedem Konzert. Und es gibt immer Teile, die ich für mich ganz leer lasse, bei denen ich mich auf der Bühne überraschen lasse, was passiert.
Wie entstehen die Songs, die du schreibst?
Wenn ich komponiere, lasse ich mich vom Instrument inspirieren. Ich improvisiere viel. Oder die Lieder entstehen beim Üben. Wenn ich etwas Neues lerne, wird daraus direkt ein Stück. Das bedeutet, ich komme immer in ein spontanes Gespräch mit dem, womit ich gerade musiziere. Musik ist sowieso eine Form der Konversation. Das Ergebnis dieses Gesprächs ist die Komposition, die relativ fixiert ist. Ich habe keine Angst davor, ein tiefes und herausforderndes Gespräch mit meiner Umgebung zu führen, auch wenn es sich beim Gegenüber um ein Instrument handelt. Der Unterschied zwischen den Instrumenten und den Menschen besteht darin, dass Instrumente authentisch und ehrlich sind in dem, was sie anbieten können und wer sie sind, Menschen sind normalerweise nicht so! Deshalb liebe ich es, mit verschiedenen Instrumenten zu komponieren.
Du hast im April diesen Jahres einen offenen Brief geschrieben über die mediale Nichtbeachtung von Musikschaffenden mit migrantischem Hintergrund in Österreich. Worum ging es da?
Ich arbeite seit fast zehn Jahren in Österreich. Deutschland ist da vielleicht nochmal anders, aber ich habe das Gefühl, es gibt zwischen beiden Ländern schon Ähnlichkeiten darin, wie man Kulturen betrachtet. In Österreich vermisse ich die Offenheit und dass sich Leute wirklich Wissen aneignen zu bestimmter Musik. Im Musikbusiness in Österreich herrschen Klischees von Kulturen, die mit den eigentlichen Kulturen nichts zu tun haben. Dadurch werden die Künstler:innen gezwungen, die eigene Kultur möglichst exotisch darzustellen – weil sie sonst einfach gar nicht auftreten können. Auch das Ausbildungssystem spielt da eine Rolle: Man kann nur europäische Klassik, amerikanischen Jazz und angelsächsischen Pop studieren. Musikhochschulen sollten auch Menschen in anderen Musikrichtungen ausbilden und diese auf Augenhöhe sehen.
Vom Musikjournalismus werden wir häufig übersehen. Wenn wir dann doch mal vorkommen, werden wir nicht als Künstler:innen betrachtet, als Spezialist:innen, sondern als exotisches Objekt. Es wird auch nie darüber gesprochen, dass »Weltmusik« ein problematischer, diskriminierender Begriff ist. Der Begriff wurde als Marketing-Instrument erfunden, um vor allem Musik aus südamerikanischen und afrikanischen Ländern zu verkaufen. Aber es ist einfach unmöglich, so viel diverse Musiken unter einem Begriff zu beschreiben. Wir sollten auch in die Frage stellen, wer beschreibt, was »Weltmusik« ist, und ob diese Person ein tieferes Verständnis für die Musik aus anderen Kulturen hat. Und: »Weltmusik« wird immer getrennt behandelt von der ernsthaften oder komplexen Musik. Man schaut auf sie hinab, nimmt sie nicht ernst. Manches ist auch platt, aber einfach, weil die Künstler:innen sonst gar nicht spielen können und dann vor der Wahl stehen: das Exotische oder gar nichts. Diese Absonderung als »Weltmusik« hilft den Künstler:innen gar nicht. Was helfen würde, wäre, darüber zu reden und zu versuchen, das System inklusiver zu machen.
Hast Du da konkrete Vorschläge?
Diese Frage verdient eigentlich ein eigenes Interview. Die marginalisierten Kulturen brauchen mehr Raum und Macht im musikalischen Ökosystem als Ganzes. Und das muss sich organisch entwickeln. Niemand kann irgendwem eine Stimme geben – die Menschen haben schon eine Stimme. Sie wissen, wer sie sind und was sie wollen. Sie brauchen nur den Raum, Zeit und den Glauben, dass sie es schaffen können. Hier spielt Bildung eine entscheidende Rolle. Die Musikhochschulen sollten ihre Türen so bald wie möglich für diese marginalisierten Kulturen öffnen. Wir brauchen mehr Musiker:innen, die musikalische Vielfalt verstehen, sie respektieren und praktizieren können. Wir müssen außerdem mehr Spezialist:innen aus diesen marginalisierten Communities in den Journalismus, ins Kuratieren und ins Booking integrieren. Dann könnten wir zusammen die Dekolonisierung der Musiksprache auf der einen Seite und der Musikindustrie auf der anderen Seite voranbringen und gemeinsam ein Verständnis dafür entwickeln, was unsere zeitgenössische Musiksprache ist, denn die besteht sicherlich nicht nur aus der weißen europäische und amerikanischen musikalischen Identität.
Wie waren die Rückmeldungen auf den offenen Brief?
Menschen an der Macht oder Journalist:innen mit einer Plattform haben unterschiedlich reagiert. Viele schwiegen, manche waren beleidigt, andere waren überrascht und wussten nicht, wovon genau ich rede. Nur sehr wenige haben mich unterstützt. Manchmal treffe ich Journalist:innen, die den Brief gelesen haben und mit mir darüber ins Gespräch kommen. Das zeigt, dass sie offen sind und das Gefühl haben, dass sich auch die Dinge ändern müssen. Das ist eine sehr positive Sache. Aber das passiert leider nicht so oft!
Ich kann nicht in einem Umfeld arbeiten, das kein Verständnis hat für mich und andere Kulturen. Darum habe ich das Gefühl, dass ich nicht nur Musikerin sein kann, sondern auch Aktivistin sein, auch Bildungsarbeit machen muss. Das überfordert mich wirklich. Aber ich muss. Wenn ich es nicht tue, kann ich auch nicht als Musikerin arbeiten. Also tue ich, was ich kann. In der Zeit des Lockdowns habe ich viel in dieser Richtung gearbeitet, mit Rojin Sharafi und Yalda Zamani das Netzwerk we:shape gegründet. Aber es ist wieder dasselbe: Wir sind nur drei Leute, freischaffende noch dazu, und das ist so viel Arbeit. Wir werden damit langsam weitermachen.
Du hast außerdem das Seda Collective mitgegründet – was ist das?
Wir als iranische Musiker:innen supporten uns in diesem Kollektiv gegenseitig. Aus dem Iran bekommen wir überhaupt keine Unterstützung, stattdessen werden wir von der iranischen Regierung unterdrückt, wo immer es geht. Unsere Fans im Iran können wir nicht erreichen, es gibt keine Plattform, um uns zu präsentieren. Die iranischen TV-Sender senden nur Propaganda der Regierung, die freie Musikszene kommt da überhaupt nicht vor. Viele von uns sind in der Diaspora, kämpfen alleine in ganz verschiedenen Ländern. Deswegen müssen wir als erstes alle zusammenkommen. Aber natürlich ist es schwer, weil wir alle freischaffende Künstler:innen sind – und so ein Kollektiv ist viel Arbeit. Aber es ist wirklich schön zu sehen, wie groß die Diversität ist in diesem Kollektiv. ¶
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