Text Arnaud Robert
Übersetzung Mirka Lankamp
Fotos © Gerhard Kühne
Videos © Florian Schmuck
Djamchid Chemirani kommt vom Einkaufen zurück, in Manosque; am Hörer entschuldigt er sich mehrfach für seine kleine Verspätung, er war in einen Verkehrsstau geraten. Den Ort, an dem er sich befindet, kann man sich leicht ausmalen: Es ist Spätsommer, über der trockenen Ebene erhebt sich der Gebirgskamm, die Sonne brennt auf die Steine der Burgruine herab, überall Insekten, ein warmer Wind. Man kennt dieses Dorf nicht, Saint-Maime, doch auf einem Album von 1996, dem ersten des Trio Chemirani, sind zwei lange rhythmische Beschreibungen zu hören; ein Vater und seine beiden Söhne erzählen mit ihren persischen Instrumenten von ihrer provenzalischen Oase.
Saint-Maime 2 ist ein geradezu aquatisches Stück, in kämpferisch anmutenden Klängen trotzt die Zarb der Zarb in einem Wechselspiel aus hölzernen Trommelwirbeln und schwebender Stille. Man begreift dieses Instrument augenblicklich, mit seinem Fell, seinem Korpus, dem oberen Rand, dem schmalen Hals, der kleinen und großen Öffnung, all den charakteristischen Merkmalen, die es zu einem vermeintlich einfachen Werkzeug machen – das Murmeln des Maulbeerbaums, das Schnalzen der Ziege und schließlich das tiefe Donnergrollen der Daf-Trommel entladen sich in einem riesigen Wolkenbruch aufeinander abgestimmter Intentionen. Als wären diese drei Wesen eins.
Auf dem Plattencover sind die Augen Djamchids, die hinter dicken Brillengläsern und großem Schnurrbart hervorblicken, als einzige in die Kamera gerichtet. Keyvan und Bijan schauen nach unten – Bijan ist noch keine 18 Jahre alt. Alle drei sitzen im Schneidersitz – er dient als bewegliche Unterlage für ihre Zarb. Dieser Aufnahme haftet etwas von einem Gründungsakt an, einer gelebten Überlieferung, einer ungebrochenen Sehnsucht. Djamchid ist damals bereits über 50, er lebt seit 1961 in Frankreich und hat den Großteil seines Lebens im Exil damit verbracht, den Unterricht, den er als Kind erfahren hat, weiterzugeben. Und in dieser Familie, in der auf nichts bestanden wird, außer der »Ernsthaftigkeit«, mit der man seine Aufgabe angeht, erhält der Begriff der Tradition eine ganz neue Dimension.
Djamchid geht mittlerweile auf die 80 zu – er ist 1942 geboren – und er hat nichts vergessen. Er war 8 Jahre alt, als sein Bruder ihm zum Nouruz, dem iranischen Neujahrsfest, an dem die Häuser herausgeputzt werden und die Luft nach Hyazinthen duftet, eine Zarb schenkte. »Es war absoluter Zufall, dass ich Perkussionist geworden bin. Hätte er mir ein anderes Instrument gegeben, wäre ich sicher nicht der, der ich heute bin. Aber es war eine Zarb und es blieb mir folglich nichts Anderes übrig, als zu lernen, sie zu spielen.« Sein Bruder lernt Tar, eine Laute, und der Lehrer spielt auch die Zarb. Djamchid beginnt seine Ausbildung; schließlich empfiehlt man ihm, die Kurse von Hossein Tehrani zu besuchen.
Auf Bildern ist Tehrani mit großer, oft getönter Professorenbrille zu sehen, in Anzügen im Stile eines Steuerprüfers, seine Stimme ist leise und ohne Nachdruck, stets in sachlichem Tonfall; »Tehrani war es äußerst ernst mit dem Unterrichten. Diejenigen, die in den Unterricht kamen, behandelte er jedoch sehr freundlich. Er hatte Verständnis für die soziale Situation der Studenten, er ging auf ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Fähigkeiten ein. Ich habe mich mit den anderen Schülern angefreundet, zwischen uns herrschte eine gesunde Konkurrenz. Das hat mich angespornt.«
Hossein Tehrani ist der Erfinder der modernen Zarb, er verschafft diesem Instrument, das oft als einfache Trommel angesehen wurde – ein Klappern, das im Hintergrund verbleibt – einen völlig neuen Status. Er macht es zu einem Sprachinstrument, das Stimmen und Motorengeräusche erzeugen kann und Solist:innen zu neuen Höhenflügen inspiriert (unbedingt die Duette mit Jalil Shahnaz anhören!). Noch bevor er 30 wurde, war er an der Gründung des Radios von Teheran beteiligt und entwickelte seine eigene Methode für das Zarbspiel. »Sein Spiel war einfach unbeschreiblich. Er war nicht nur ein wunderbarer Solist, sondern ahnte auch die Improvisationen der anderen Musiker voraus, wenn er sie begleitete.«
Djamchid gibt es nicht zu, aber er wurde selbst umgehend zum Virtuosen. Sein Lehrer stellt ihn im Kulturministerium vor, damit er Teil eines Staatsorchesters wird. Er spielt ein- bis zweimal die Woche im Fernsehen, als er gerade 15 Jahre alt ist: »Die ersten Male waren furchtbar. Die anderen Musiker machten mir Angst, ich fühlte mich ihnen nicht gewachsen. Und diese großen auf mich gerichteten Kameras ließen mich alles Gelernte vergessen!« Doch er bleibt dran. Aus Gewissenhaftigkeit, genauso wie aus Neigung. Bald beschließen seine Eltern – insbesondere sein Vater, ein Beamter – dass er sein Studium in Frankreich fortsetzen solle. Djamchid möchte im Iran bleiben: »Sie haben mir keine Wahl gelassen. Ich versuchte mich also im Studium der Mathematik. Aber ich beherrschte die Sprache nicht gut genug. Nach ein oder zwei erfolglosen Jahren riet man mir, es mit Musikwissenschaften zu versuchen.«
Djamchid ist 19 Jahre alt, hat in Frankreich nur seinen Bruder, der einer Ausbildung zum Geologen nachgeht. Alles, was ihm bleibt, ist die Erinnerung an Hossein Tehrani, zehn Jahre Unterricht, eine fleißige Kindheit, in einem Land, das er niemals ganz verlassen wird, und das er trotz der Entfernung durch die Musik aufleben lässt, die oft im goldenen Glanz der Traumwelten schimmert. In unzähligen Nächten wird Djamchid in der Folge seine Heimat wieder heraufbeschwören, gleichsam eines Königreichs der stummen Gesänge und bewegungslosen Tänze. Auf mystische Art und Weise. Er, der von nichts so sehr angetan ist wie von Rumi: »Lass Dich leiten von der unsichtbaren seltsamen Kraft dessen, was Du wirklich liebst«, schrieb der Sufi-Dichter, »sie wird Dir stets den richtigen Weg weisen.«
Djamchid knüpft Kontakte, er begegnet einem Meister der Santur und der Sitar, Dariush Safvat, über den er das Zentrum für orientalische Musik der Sorbonne kennenlernt. Er beginnt, dort zu unterrichten, unter anderem Jean-Pierre Drouet, der die Zarb in Frankreich bekannt macht. Djamchid vergrößert sein kleines aufsehenerregendes Reich, er lernt Maurice Béjart kennen, der einen Auftrag für ein Ballett vom iranischen Königshof erhält (»er war sehr gut, voller Ernsthaftigkeit bei der Arbeit, von seinem Verhalten habe ich viel gelernt«), aber auch Peter Brook, für den er beim Mahabharata mitmacht. Seine Platte von 1976, Improvisations au Zarb, ist eine Lehrstunde dieses Instruments.
Wir rufen seine beiden Söhne an, in der Zeit der Lockerungen von den Ausgangsbeschränkungen. Einer befindet sich im Süden, der andere im Norden. Wir sehen Keyvan über Zoom, im ärmellosen Shirt, und die Worte seines Vaters kommen einem in den Sinn: »Ich unterrichtete einen kleinen Jungen aus dem Dorf im Zarbspiel und Keyvan wollte es auch versuchen. Der andere lernte jedoch so rasch, dass Keyvan sich entmutigen ließ und während des Unterrichts zu weinen anfing. Ich wollte nicht, dass er leidet. Also haben wir aufgehört. Er wollte Schlagzeug spielen lernen, fünf Jahre hat er damit verbummelt. Aber ganz ehrlich, das hat mich nicht bekümmert, ich habe es nie unbedingt gewollt, dass meine Kinder in meine Fußstapfen treten oder überhaupt Musik machen. Es war eher meine Frau, Französin ihres Zeichens, die darauf bestand, dass ich ihnen das Zarbspiel weitergebe.«
Keyvan: »Das stimmt. Ich wollte unbedingt ein Schlagzeug, mein Vater hatte einen Schüler, der Schlagzeuger war und der uns ein Instrument gegeben hat. Und dann, eines Tages, habe ich wieder mit dem Zarbspiel begonnen, fast heimlich.«
Bijan: »Naja, es kam dann aber auch vor, dass du um drei Uhr morgens aufgestanden bist, zwei Stunden lang Zarb gespielt hast, dann deinen Zug genommen und noch zwischen den Wagons weitergespielt hast. Hattest du einmal angefangen, konntest du einen fast krankhaften Eifer entwickeln.
Keyvan: »Ich habe so spät angefangen. Aber als ich einmal dran war, habe ich nicht mehr aufgehört. Als Jugendlicher habe ich die Partys um Mitternacht verlassen, als meine Freunde gerade anfingen, zu feiern. Sie haben mich mit aufgerissenen Augen angestarrt. Ich wollte gehen, um zu üben. Ich hatte schnell verstanden, dass ich viel würde üben müssen. Ich hab zehnmal weniger Talent als Bijan.«
Bijan: »Und ich bin zehnmal fauler als Keyvan.«
Bijan, der jüngere, ist 1978 geboren, zehn Jahre nach seinem Bruder. Man spürt die enge Verbundenheit und Zuneigung der beiden Brüder. Bijan lernt gleichsam durch Osmose, wie ein Artist, der sich weder der Gefahr noch der Ausbeutung bewusst ist, sondern sich nur von seiner Begabung leiten lässt. Djamchid lehrt sie mit Großzügigkeit, ohne Nachdruck, er spielt oft auch auf Plastikbehältern. »Ich bin kein Meister«, erklärt er. »Ich hatte einfach nur Unterricht.« Seine beiden Söhne, die heute selbst unterrichten, verzichten auf die Theatralik des orientalischen Unterrichts, sie schätzen horizontale Strukturen. Keyvan: »Ich habe Schüler, die zu mir kommen und dann verärgert wieder gehen, weil ich nicht ihrer Vorstellung eines Meisters entspreche.« Orientalismen haben in dieser Familie alle eingetrichtert bekommen, zugewiesene Identitäten, man gibt ihnen vor, wie ihre Musik sein muss, denn sie sind persischer Herkunft.
Die Musik der Chemiranis steht für die entschiedene Ablehnung jeglicher starrer Strukturen. Oft stellt sie Grenzen infrage, spielt mit doppelten Zugehörigkeiten, dem Lebensgefühl der Diaspora, Sprachen. Auf seiner Platte von 2004, Le rythme de la parole, vereint Keyvan Vertriebene, unterschiedlichste Strömungen aus Indien, dem Afrika der Mandinka, dem mittleren Osten, und in dieser Suche nach Traditionen schwingt auch ein schmerzliches Sehnen nach Begegnung mit. »Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie oft ich eigentlich mit entwurzelten Menschen zusammengearbeitet habe. Aber das Zusammenleben kann zweifelsohne nur funktionieren, wenn man seinen Botschafter-Hut ablegt. Man repräsentiert niemals eine Kultur. Man repräsentiert nur sich selbst.«
Und diese Vorstellung der Tradition als etwas sich Bewegendes, das man niemals ganz entschlüsseln kann, vermittelt ein Engländer mit lockigen Haaren aus seinem kretischen Einsiedlerdasein heraus fast wie kein Zweiter. Wir rufen Ross Daly eines späten Vormittags an, als er bereits ein Dutzend Lauten gestimmt und fünfzehn Melodien aus seinem Werk gespielt hat. Es muss 1989 gewesen sein, im Lycabettus-Theater in Athen, Ross hatte Djamchid Chemirani für ein Konzert eingeladen. Ihre erste Begegnung. Der Engländer lebt schon seit mehreren Jahren in Griechenland, wo er eine Art Philosophie des modalen Denkens entwickelt, eine lebendige Kreuzung für Musiker:innen aus Asien, dem mittleren Osten, dem Maghreb und dem Mittelmeerraum. All das, was die Instrumentalist:innen von Kalkutta bis Sevilla verbindet – Ross Daly erkundet und erforscht es.
»Ich mochte Djamchid sofort. Er beeindruckt mich sehr, mit seiner Herzlichkeit und seiner uneingeschränkten Bereitschaft zur Zusammenarbeit, er arbeitet leidenschaftlich gern. Er ist einer der außergewöhnlichsten Menschen, den ich je getroffen habe. Sehr schnell hat er mir seine Söhne vorgestellt und wir haben alle zusammen gespielt.« Auf YouTube gibt es ein Video der ersten Tournee, 1994 in der Passionskirche in Berlin. Dort sieht man den sehr jungen Keyvan auf der afghanischen Rubab von Ross Daly Synkopen einspielen. Hier prallen Welten aufeinander und gehen gleichzeitig fließend ineinander über. Ein Zusammenspiel mehrerer Traditionen, doch es ist das Gegenteil von »Weltmusik«. Die schlichte Wiederaufnahme eines durch die Vorstellung von isolierter Tradition unterbrochenen Gesprächs.
»Was ich an den Chemiranis besonders mag, ist natürlich ihre traditionelle Ausbildung, ihr Können, aber auch diese ihnen eigene Art, ausgetretene Pfade zu verlassen, Neues auszuprobieren. Musik ist nie durch ihre Tradition begrenzt.« In den folgenden Jahren sind die Chemiranis regelmäßig gemeinsam mit Ross Daly auf der Bühne oder auf CD zu hören, unter seiner Leitung nehmen sie 1999 die Platte Synavgia auf, 2008 White Dragon; Ross ist auch an Le Rythme de la Parole von Keyvan beteiligt. Für die Brüder ist er eine Art Konstante, gleichsam eine weitere Vaterfigur. Die Begegnungen mit Ross Daly waren außerdem mitentscheidend dafür, dass die Brüder wieder an die komplexen Rhythmen anknüpften, die die iranische Musik seit langem überdeckt hatte. Djamchid nennt sie liebevoll »die hinkenden Rhythmen«.
Für Ross ist dieses Dreigespann aus Vater und Söhnen ein Beispiel für die Inspiration, die durch die Weitergabe von Tradition entstehen kann: »Mir kommt es nicht vor allem darauf an, Virtuosen zu finden. Ich suche Menschen, deren Musik unmittelbar ihr innerstes Wesen zutage fördert. So ist es bei den drei Chemiranis und das ist der Grund, warum sie seit Jahrzehnten zu meinen Lieblingsmusikern zählen.«
Man bräuchte Tage, um die Fülle des Werks der Chemiranis zu beschreiben, es umfasst die Barockmusik, die Verbindung zwischen dem westlichen Mittelalter und der modalen Musik aus dem Orient, Jazz in seiner integrierendsten Form, es spielt mit universellen Mythen (Sheherazade von Alireza Mashayekhi), kosmischen Improvisationen (Trio Chemirani Invite, 2012), es ist eine Suche nach Poetischem (Delâshena von Bijan mit Shadi Fathi), Modernität und Kühnheit (The Rhythm Alchemy von Keyvan). Diese noch fortzusetzende Diskographie – die kommenden Gastspiele der Sängerin und kleinen Schwester Mariam Chemirani werden mit Spannung erwartet – ist ein Konzentrat wohltuender Universalität.
Keyvan und Bijan, die beiden Provenzalen aus Teheran, kehren nicht mehr dorthin zurück, da ihnen der Einzug durch die iranische Armee drohen würde, und nennen die Zarb weiterhin, wie sie auch der Meister Tehrani nannte (während man sie im Iran auf den Namen »Tombak« umgetauft hat, um den arabischen Ursprung zu tilgen). Das Leben der Chemiranis scheint sich stets in dem utopischen Zustand des »unterwegs sein« abzuspielen. Führt man sich erneut ihre vielfältigen Abenteuer und die Fülle ihrer gemeinsamen Reisen vor Augen, kommt einem abermals ein Ausspruch Rumis in den Sinn: »Du bist kein Tropfen im Ozean, du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen.«
Dieser Staat, der die Musik nicht mehr liebt, in welchem Musiker:innen alternative Jobs finden müssen, um zu überleben – er wird von den Chemiranis besungen. Noch vor kurzem waren iranische Musikwissenschaftler zu Djamchid gekommen, um die Früchte seines Unterrichts zu ernten und eine Methode zu veröffentlichen. In den kommenden Jahren werden kleine Iraner:innen die Tombak erlernen, mit dem Bild dieses provenzalischen Schnurrbartträgers mit den dicken Brillengläsern vor Augen. »Die Vorstellung gefällt mir. Ich bin bereits sehr alt. Ich spiele nur noch, wenn meine Söhne mich darum bitten. Keyvan und Bijan sind nundiejenigen, die die Fackel weitertragen. Und ich höre ihnen mit großer Freude zu.«
Keyvan, zum Abschluss: »Hört mal, eins find ich wirklich toll an unserer Familienbeziehung – so richtig gefetzt haben wir uns nie. Das ist doch schon ziemlich unglaublich oder? Und wir haben immer noch Lust, zusammen zu spielen.« ¶
Text Arnaud Robert
Übersetzung Mirka Lankamp
Fotos © Gerhard Kühne
Videos © Florian Schmuck
Djamchid Chemirani kommt vom Einkaufen zurück, in Manosque; am Hörer entschuldigt er sich mehrfach für seine kleine Verspätung, er war in einen Verkehrsstau geraten. Den Ort, an dem er sich befindet, kann man sich leicht ausmalen: Es ist Spätsommer, über der trockenen Ebene erhebt sich der Gebirgskamm, die Sonne brennt auf die Steine der Burgruine herab, überall Insekten, ein warmer Wind. Man kennt dieses Dorf nicht, Saint-Maime, doch auf einem Album von 1996, dem ersten des Trio Chemirani, sind zwei lange rhythmische Beschreibungen zu hören; ein Vater und seine beiden Söhne erzählen mit ihren persischen Instrumenten von ihrer provenzalischen Oase.
Saint-Maime 2 ist ein geradezu aquatisches Stück, in kämpferisch anmutenden Klängen trotzt die Zarb der Zarb in einem Wechselspiel aus hölzernen Trommelwirbeln und schwebender Stille. Man begreift dieses Instrument augenblicklich, mit seinem Fell, seinem Korpus, dem oberen Rand, dem schmalen Hals, der kleinen und großen Öffnung, all den charakteristischen Merkmalen, die es zu einem vermeintlich einfachen Werkzeug machen – das Murmeln des Maulbeerbaums, das Schnalzen der Ziege und schließlich das tiefe Donnergrollen der Daf-Trommel entladen sich in einem riesigen Wolkenbruch aufeinander abgestimmter Intentionen. Als wären diese drei Wesen eins.
Auf dem Plattencover sind die Augen Djamchids, die hinter dicken Brillengläsern und großem Schnurrbart hervorblicken, als einzige in die Kamera gerichtet. Keyvan und Bijan schauen nach unten – Bijan ist noch keine 18 Jahre alt. Alle drei sitzen im Schneidersitz – er dient als bewegliche Unterlage für ihre Zarb. Dieser Aufnahme haftet etwas von einem Gründungsakt an, einer gelebten Überlieferung, einer ungebrochenen Sehnsucht. Djamchid ist damals bereits über 50, er lebt seit 1961 in Frankreich und hat den Großteil seines Lebens im Exil damit verbracht, den Unterricht, den er als Kind erfahren hat, weiterzugeben. Und in dieser Familie, in der auf nichts bestanden wird, außer der »Ernsthaftigkeit«, mit der man seine Aufgabe angeht, erhält der Begriff der Tradition eine ganz neue Dimension.
Djamchid geht mittlerweile auf die 80 zu – er ist 1942 geboren – und er hat nichts vergessen. Er war 8 Jahre alt, als sein Bruder ihm zum Nouruz, dem iranischen Neujahrsfest, an dem die Häuser herausgeputzt werden und die Luft nach Hyazinthen duftet, eine Zarb schenkte. »Es war absoluter Zufall, dass ich Perkussionist geworden bin. Hätte er mir ein anderes Instrument gegeben, wäre ich sicher nicht der, der ich heute bin. Aber es war eine Zarb und es blieb mir folglich nichts Anderes übrig, als zu lernen, sie zu spielen.« Sein Bruder lernt Tar, eine Laute, und der Lehrer spielt auch die Zarb. Djamchid beginnt seine Ausbildung; schließlich empfiehlt man ihm, die Kurse von Hossein Tehrani zu besuchen.
Auf Bildern ist Tehrani mit großer, oft getönter Professorenbrille zu sehen, in Anzügen im Stile eines Steuerprüfers, seine Stimme ist leise und ohne Nachdruck, stets in sachlichem Tonfall; »Tehrani war es äußerst ernst mit dem Unterrichten. Diejenigen, die in den Unterricht kamen, behandelte er jedoch sehr freundlich. Er hatte Verständnis für die soziale Situation der Studenten, er ging auf ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Fähigkeiten ein. Ich habe mich mit den anderen Schülern angefreundet, zwischen uns herrschte eine gesunde Konkurrenz. Das hat mich angespornt.«
Hossein Tehrani ist der Erfinder der modernen Zarb, er verschafft diesem Instrument, das oft als einfache Trommel angesehen wurde – ein Klappern, das im Hintergrund verbleibt – einen völlig neuen Status. Er macht es zu einem Sprachinstrument, das Stimmen und Motorengeräusche erzeugen kann und Solist:innen zu neuen Höhenflügen inspiriert (unbedingt die Duette mit Jalil Shahnaz anhören!). Noch bevor er 30 wurde, war er an der Gründung des Radios von Teheran beteiligt und entwickelte seine eigene Methode für das Zarbspiel. »Sein Spiel war einfach unbeschreiblich. Er war nicht nur ein wunderbarer Solist, sondern ahnte auch die Improvisationen der anderen Musiker voraus, wenn er sie begleitete.«
Djamchid gibt es nicht zu, aber er wurde selbst umgehend zum Virtuosen. Sein Lehrer stellt ihn im Kulturministerium vor, damit er Teil eines Staatsorchesters wird. Er spielt ein- bis zweimal die Woche im Fernsehen, als er gerade 15 Jahre alt ist: »Die ersten Male waren furchtbar. Die anderen Musiker machten mir Angst, ich fühlte mich ihnen nicht gewachsen. Und diese großen auf mich gerichteten Kameras ließen mich alles Gelernte vergessen!« Doch er bleibt dran. Aus Gewissenhaftigkeit, genauso wie aus Neigung. Bald beschließen seine Eltern – insbesondere sein Vater, ein Beamter – dass er sein Studium in Frankreich fortsetzen solle. Djamchid möchte im Iran bleiben: »Sie haben mir keine Wahl gelassen. Ich versuchte mich also im Studium der Mathematik. Aber ich beherrschte die Sprache nicht gut genug. Nach ein oder zwei erfolglosen Jahren riet man mir, es mit Musikwissenschaften zu versuchen.«
Djamchid ist 19 Jahre alt, hat in Frankreich nur seinen Bruder, der einer Ausbildung zum Geologen nachgeht. Alles, was ihm bleibt, ist die Erinnerung an Hossein Tehrani, zehn Jahre Unterricht, eine fleißige Kindheit, in einem Land, das er niemals ganz verlassen wird, und das er trotz der Entfernung durch die Musik aufleben lässt, die oft im goldenen Glanz der Traumwelten schimmert. In unzähligen Nächten wird Djamchid in der Folge seine Heimat wieder heraufbeschwören, gleichsam eines Königreichs der stummen Gesänge und bewegungslosen Tänze. Auf mystische Art und Weise. Er, der von nichts so sehr angetan ist wie von Rumi: »Lass Dich leiten von der unsichtbaren seltsamen Kraft dessen, was Du wirklich liebst«, schrieb der Sufi-Dichter, »sie wird Dir stets den richtigen Weg weisen.«
Djamchid knüpft Kontakte, er begegnet einem Meister der Santur und der Sitar, Dariush Safvat, über den er das Zentrum für orientalische Musik der Sorbonne kennenlernt. Er beginnt, dort zu unterrichten, unter anderem Jean-Pierre Drouet, der die Zarb in Frankreich bekannt macht. Djamchid vergrößert sein kleines aufsehenerregendes Reich, er lernt Maurice Béjart kennen, der einen Auftrag für ein Ballett vom iranischen Königshof erhält (»er war sehr gut, voller Ernsthaftigkeit bei der Arbeit, von seinem Verhalten habe ich viel gelernt«), aber auch Peter Brook, für den er beim Mahabharata mitmacht. Seine Platte von 1976, Improvisations au Zarb, ist eine Lehrstunde dieses Instruments.
Wir rufen seine beiden Söhne an, in der Zeit der Lockerungen von den Ausgangsbeschränkungen. Einer befindet sich im Süden, der andere im Norden. Wir sehen Keyvan über Zoom, im ärmellosen Shirt, und die Worte seines Vaters kommen einem in den Sinn: »Ich unterrichtete einen kleinen Jungen aus dem Dorf im Zarbspiel und Keyvan wollte es auch versuchen. Der andere lernte jedoch so rasch, dass Keyvan sich entmutigen ließ und während des Unterrichts zu weinen anfing. Ich wollte nicht, dass er leidet. Also haben wir aufgehört. Er wollte Schlagzeug spielen lernen, fünf Jahre hat er damit verbummelt. Aber ganz ehrlich, das hat mich nicht bekümmert, ich habe es nie unbedingt gewollt, dass meine Kinder in meine Fußstapfen treten oder überhaupt Musik machen. Es war eher meine Frau, Französin ihres Zeichens, die darauf bestand, dass ich ihnen das Zarbspiel weitergebe.«
Keyvan: »Das stimmt. Ich wollte unbedingt ein Schlagzeug, mein Vater hatte einen Schüler, der Schlagzeuger war und der uns ein Instrument gegeben hat. Und dann, eines Tages, habe ich wieder mit dem Zarbspiel begonnen, fast heimlich.«
Bijan: »Naja, es kam dann aber auch vor, dass du um drei Uhr morgens aufgestanden bist, zwei Stunden lang Zarb gespielt hast, dann deinen Zug genommen und noch zwischen den Wagons weitergespielt hast. Hattest du einmal angefangen, konntest du einen fast krankhaften Eifer entwickeln.
Keyvan: »Ich habe so spät angefangen. Aber als ich einmal dran war, habe ich nicht mehr aufgehört. Als Jugendlicher habe ich die Partys um Mitternacht verlassen, als meine Freunde gerade anfingen, zu feiern. Sie haben mich mit aufgerissenen Augen angestarrt. Ich wollte gehen, um zu üben. Ich hatte schnell verstanden, dass ich viel würde üben müssen. Ich hab zehnmal weniger Talent als Bijan.«
Bijan: »Und ich bin zehnmal fauler als Keyvan.«
Bijan, der jüngere, ist 1978 geboren, zehn Jahre nach seinem Bruder. Man spürt die enge Verbundenheit und Zuneigung der beiden Brüder. Bijan lernt gleichsam durch Osmose, wie ein Artist, der sich weder der Gefahr noch der Ausbeutung bewusst ist, sondern sich nur von seiner Begabung leiten lässt. Djamchid lehrt sie mit Großzügigkeit, ohne Nachdruck, er spielt oft auch auf Plastikbehältern. »Ich bin kein Meister«, erklärt er. »Ich hatte einfach nur Unterricht.« Seine beiden Söhne, die heute selbst unterrichten, verzichten auf die Theatralik des orientalischen Unterrichts, sie schätzen horizontale Strukturen. Keyvan: »Ich habe Schüler, die zu mir kommen und dann verärgert wieder gehen, weil ich nicht ihrer Vorstellung eines Meisters entspreche.« Orientalismen haben in dieser Familie alle eingetrichtert bekommen, zugewiesene Identitäten, man gibt ihnen vor, wie ihre Musik sein muss, denn sie sind persischer Herkunft.
Die Musik der Chemiranis steht für die entschiedene Ablehnung jeglicher starrer Strukturen. Oft stellt sie Grenzen infrage, spielt mit doppelten Zugehörigkeiten, dem Lebensgefühl der Diaspora, Sprachen. Auf seiner Platte von 2004, Le rythme de la parole, vereint Keyvan Vertriebene, unterschiedlichste Strömungen aus Indien, dem Afrika der Mandinka, dem mittleren Osten, und in dieser Suche nach Traditionen schwingt auch ein schmerzliches Sehnen nach Begegnung mit. »Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie oft ich eigentlich mit entwurzelten Menschen zusammengearbeitet habe. Aber das Zusammenleben kann zweifelsohne nur funktionieren, wenn man seinen Botschafter-Hut ablegt. Man repräsentiert niemals eine Kultur. Man repräsentiert nur sich selbst.«
Und diese Vorstellung der Tradition als etwas sich Bewegendes, das man niemals ganz entschlüsseln kann, vermittelt ein Engländer mit lockigen Haaren aus seinem kretischen Einsiedlerdasein heraus fast wie kein Zweiter. Wir rufen Ross Daly eines späten Vormittags an, als er bereits ein Dutzend Lauten gestimmt und fünfzehn Melodien aus seinem Werk gespielt hat. Es muss 1989 gewesen sein, im Lycabettus-Theater in Athen, Ross hatte Djamchid Chemirani für ein Konzert eingeladen. Ihre erste Begegnung. Der Engländer lebt schon seit mehreren Jahren in Griechenland, wo er eine Art Philosophie des modalen Denkens entwickelt, eine lebendige Kreuzung für Musiker:innen aus Asien, dem mittleren Osten, dem Maghreb und dem Mittelmeerraum. All das, was die Instrumentalist:innen von Kalkutta bis Sevilla verbindet – Ross Daly erkundet und erforscht es.
»Ich mochte Djamchid sofort. Er beeindruckt mich sehr, mit seiner Herzlichkeit und seiner uneingeschränkten Bereitschaft zur Zusammenarbeit, er arbeitet leidenschaftlich gern. Er ist einer der außergewöhnlichsten Menschen, den ich je getroffen habe. Sehr schnell hat er mir seine Söhne vorgestellt und wir haben alle zusammen gespielt.« Auf YouTube gibt es ein Video der ersten Tournee, 1994 in der Passionskirche in Berlin. Dort sieht man den sehr jungen Keyvan auf der afghanischen Rubab von Ross Daly Synkopen einspielen. Hier prallen Welten aufeinander und gehen gleichzeitig fließend ineinander über. Ein Zusammenspiel mehrerer Traditionen, doch es ist das Gegenteil von »Weltmusik«. Die schlichte Wiederaufnahme eines durch die Vorstellung von isolierter Tradition unterbrochenen Gesprächs.
»Was ich an den Chemiranis besonders mag, ist natürlich ihre traditionelle Ausbildung, ihr Können, aber auch diese ihnen eigene Art, ausgetretene Pfade zu verlassen, Neues auszuprobieren. Musik ist nie durch ihre Tradition begrenzt.« In den folgenden Jahren sind die Chemiranis regelmäßig gemeinsam mit Ross Daly auf der Bühne oder auf CD zu hören, unter seiner Leitung nehmen sie 1999 die Platte Synavgia auf, 2008 White Dragon; Ross ist auch an Le Rythme de la Parole von Keyvan beteiligt. Für die Brüder ist er eine Art Konstante, gleichsam eine weitere Vaterfigur. Die Begegnungen mit Ross Daly waren außerdem mitentscheidend dafür, dass die Brüder wieder an die komplexen Rhythmen anknüpften, die die iranische Musik seit langem überdeckt hatte. Djamchid nennt sie liebevoll »die hinkenden Rhythmen«.
Für Ross ist dieses Dreigespann aus Vater und Söhnen ein Beispiel für die Inspiration, die durch die Weitergabe von Tradition entstehen kann: »Mir kommt es nicht vor allem darauf an, Virtuosen zu finden. Ich suche Menschen, deren Musik unmittelbar ihr innerstes Wesen zutage fördert. So ist es bei den drei Chemiranis und das ist der Grund, warum sie seit Jahrzehnten zu meinen Lieblingsmusikern zählen.«
Man bräuchte Tage, um die Fülle des Werks der Chemiranis zu beschreiben, es umfasst die Barockmusik, die Verbindung zwischen dem westlichen Mittelalter und der modalen Musik aus dem Orient, Jazz in seiner integrierendsten Form, es spielt mit universellen Mythen (Sheherazade von Alireza Mashayekhi), kosmischen Improvisationen (Trio Chemirani Invite, 2012), es ist eine Suche nach Poetischem (Delâshena von Bijan mit Shadi Fathi), Modernität und Kühnheit (The Rhythm Alchemy von Keyvan). Diese noch fortzusetzende Diskographie – die kommenden Gastspiele der Sängerin und kleinen Schwester Mariam Chemirani werden mit Spannung erwartet – ist ein Konzentrat wohltuender Universalität.
Keyvan und Bijan, die beiden Provenzalen aus Teheran, kehren nicht mehr dorthin zurück, da ihnen der Einzug durch die iranische Armee drohen würde, und nennen die Zarb weiterhin, wie sie auch der Meister Tehrani nannte (während man sie im Iran auf den Namen »Tombak« umgetauft hat, um den arabischen Ursprung zu tilgen). Das Leben der Chemiranis scheint sich stets in dem utopischen Zustand des »unterwegs sein« abzuspielen. Führt man sich erneut ihre vielfältigen Abenteuer und die Fülle ihrer gemeinsamen Reisen vor Augen, kommt einem abermals ein Ausspruch Rumis in den Sinn: »Du bist kein Tropfen im Ozean, du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen.«
Dieser Staat, der die Musik nicht mehr liebt, in welchem Musiker:innen alternative Jobs finden müssen, um zu überleben – er wird von den Chemiranis besungen. Noch vor kurzem waren iranische Musikwissenschaftler zu Djamchid gekommen, um die Früchte seines Unterrichts zu ernten und eine Methode zu veröffentlichen. In den kommenden Jahren werden kleine Iraner:innen die Tombak erlernen, mit dem Bild dieses provenzalischen Schnurrbartträgers mit den dicken Brillengläsern vor Augen. »Die Vorstellung gefällt mir. Ich bin bereits sehr alt. Ich spiele nur noch, wenn meine Söhne mich darum bitten. Keyvan und Bijan sind nundiejenigen, die die Fackel weitertragen. Und ich höre ihnen mit großer Freude zu.«
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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