Text Sandeep Bhagwati
Titelbild Henri Rousseau (bearbeitet)
Der erste Teil dieses Essays schloss mit der Frage: »Wie sähe denn ein Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem aus?« In den letzten 15 Jahren hat es in der deutschen Musikszene zahlreiche Initiativen gegeben, die sich dieser Frage einer sogenannten De-Kolonisierung der Musik aktiv gestellt haben. Am prominentesten ist da sicherlich die gemeinsame Anstrengung der Festivals Donaueschinger Musiktage, MaerzMusik Berlin, Ultima Festival Oslo und der Darmstädter Ferienkurse, die sich den computertechnischen Begriff »Defragmentation« gegeben hat. Es wird auf diesem Feld in Deutschland an vielen Orten experimentiert, mit vielfältigen Formaten und in innovativen Prozessen. Als jemand, der in manche dieser Initiativen eingebunden war, sind mir drei Aspekte bemerkenswert.
Zum einen sind die Diskurs-Expert*innen, die man sich zu diesem Thema holt, meist Theoretiker*innen aus dem anglophonen, gelegentlich auch dem frankophonen akademischen Diskurs – dort ist seit den späten 1980er Jahren eine sogenannte »New Musicology« aktiv, die sich Fragen von Dekolonisierung, Gender und anderen virulenten geisteswissenschaftlichen Strömungen stellt, aber auch immer mehr die Zusammenarbeit mit Neurowissenschaften und anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen sucht. Von einer solchen »New Musicology« und ihren Folgedisziplinen (z.B. künstlerische Musikforschung) ist die deutsche Musikwissenschaft noch weit entfernt – diese Ungleichzeitigkeit der Diskurse färbt natürlich auch auf den Betrieb selbst ab. Die deutsche Musik-Debatte hat offenbar noch keinen eigenen, an der eigenen Kolonial-, Musik- und Geistesgeschichte geschärften diskursiven Zugriff auf diese Thematik. Dabei gäbe es da – von der Definition der modernen Anthropologie im 16. Jahrhundert durch Magnus Hundt und Otto Casmann und dem ehrgeizigen (unvollendeten) Projekt einer globalen Musikgeschichte Johann Nikolaus Forkels im 18. Jahrhundert über Goethes Konzept der »Weltliteratur« bis hin zu Heinrich Brunns Begriff des »Kunstwollens« aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – eine von der anglo- und frankophonen Diskussion verschiedene, diskursive Tradition prä-kolonialistischer und prä-kulturdarwinistischer Denkansätze, die in diesen Debatten fast nie aufgegriffen werden. Dadurch entsteht bei vielen dieser Bemühungen nicht das Gefühl, dass in ihnen Zukunftsfragen angegangen werden, sondern dass man vor allem mit Aufholen beschäftigt ist.
Zum anderen wird die deutsche Diskussion trotz aller angeblichen Offenheit immer noch wie eine intern-eurologische geführt. Perspektiven aus anderen Musiktraditionen werden kaum rezipiert, diskutiert oder in zentralen Musikevents thematisch repräsentiert. Auch bei besten Absichten scheint es mir bei den allermeisten dieser Initiativen und Veranstaltungen mehr darum zu gehen, wie man mit einem erweiterten gedanklichen und musikalischen Arsenal die »Vorherrschaft der deutschen Musik«(-szene) noch ein paar weitere Jahrzehnte erhalten kann. Noch immer sind die kreativen Traditionen, die Denk- und Hörweisen der »anderen« Musiken des Planeten in dieser Debatte nachrangig bis unhörbar. Es wäre in vielen anderen Ländern z.B. unmöglich, Debatten darüber ausschließlich »unter weißen« zu führen. Hierzulande findet man das vergleichsweise oft.
Drittens ist bemerkenswert, wieviel diskursives Aufhebens in der »ernsten« Musik-Szene Europas darum gemacht wird, wenn Fragen der Dekolonisation und kultureller Diversität endlich einmal bei einem ihrer Events oder Foren thematisiert werden. Diese Betonung zeigt noch immer deutlich, dass dieses Thema weit davon entfernt ist, vom eigenen Publikum als eine alltägliche Lebenswirklichkeit in einer modernen plurikulturellen Gesellschaft betrachtet zu werden.
Oft erscheint es, als sei das Land, das einst sein Zuspätkommen im Wettlauf der Kolonialmächte bitter beklagte, nun schon wieder verspätet, wenn es darum geht, sich selbst zu ent-kolonisieren. Es ist noch ein gutes Stück Weg bis zu einer wirklichen, alltagswirksamen, unaufgeregten Dekolonisierung im deutschsprachigen Raum – und zu einer Musikpraxis, die sich wirklich in eine »Musik der Welt« einlauschen wollte. Im letzten Teil dieses Artikels möchte ich nun mögliche Rahmenbedingungen für eine solche skizzieren.
In seinem Buch »Epistemologias do sul« fordert der Soziologe Boaventura de Sousa Santos eine Neuausrichtung der Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und ihr Bedeutung verleihen. Wissen entsteht laut de Sousa Santos nicht auf eine universell gültige Weise, sondern wird in verschiedenen Kulturen und Kontexten verschieden bedeutet, genutzt und verhandelt. Für ihn ist die Anerkennung anderer Epistemologien essentiell für globale Gerechtigkeit.
Parallelen zur Musik sind offensichtlich. Zentral für eine Neuausrichtung der musikalischen Epistemologien wäre ein Umdenken, was das Verhältnis von Tradition zu Moderne betrifft. Diese werden in gegenwärtigen Musikdebatten oft als Gegenpole dargestellt – hier Musiktheorie und Notation, dort orale Überlieferung. Hier das Zeitgenössische, dort das Traditionelle, sprich Veraltete.
Globale Gerechtigkeit im Musikbetrieb?
Wie das möglich sein könnte erzählt Sandeep Bhagwati in @vanmusik #outernational
Überhaupt müssen wir den Begriff der Tradition nochmal überdenken. Denn: Natürlich ist die eurologische »Neue Musik« ebenfalls eine traditionelle Musik. Ihr Selbstbild beharrt zwar darauf, die eigene Musikszene als permanent anti-traditionell, als institutionalisierte Revolution zu präsentieren. Aber erstens scheitert die Praxis an diesem Anspruch gewaltig: Seit 70 Jahren, seit dem mittleren Adorno, spricht man nun schon vom ›Altern der Neuen Musik‹, in der sich Techniken, Ästhetiken, Klangformen hartnäckig festgetönt haben und die überschaubare Fanbase nun eifernd über ihre Erinnerungen an eine Zukunftsmusik wacht. Zweitens ist allein dieses ästhetische Denkmuster des Anti-Traditionalismus selbstverständlich eine schon Jahrhunderte alte Tradition der eurologischen Musik überhaupt: Seit im Jahr 1322 Papst Johannes XXII eine neue Mode hochkünstlicher Musik für den Gottesdienst verbot, und diese sich daraufhin sofort ideologisch definierte und sich mit einem Manifest als ›Ars Nova‹, als neue Kunst gegen die etablierte ›Ars Antiqua‹ abgrenzte, ist die Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Alten, Eingewöhnten die einzige ästhetische Konstante der europäischen Musikgeschichte gewesen. Auch und gerade die Avantgarden des 20. Jahrhunderts sind Teil dieser intellektuellen Tradition.
Welche Erkenntnisse benötigen wir also, um mit der Anerkennung anderer Musiken hierzulande voranzukommen? Musikalische Praktiken und musikalische Denkweisen unterscheiden sich vor allem darin, auf welchen Aspekt des klanglichen Geschehens sie achten. Die einen hören auf Tonhöhen und Rhythmen, die anderen auf Rauheit und Groove, die dritten auf die soziale Beziehung zwischen Hörenden und Spielenden oder das Geschlecht der Ausführenden, wieder andere auf Trockenheit und Resonanz des Raumes.
In jeder Tradition werden diese Aspekte unterschiedlich bewertet, und gerade diese individuelle Gewichtung ist oft das, was eine Tradition von der anderen unterscheidet. Es wäre ein wichtiger Schritt, diese in jeder musikalischen Tradition zu findende künstlerische Wertung des Erklingenden hierarchiefrei anzugehen.
Die Vorstellung eines steten Fortschritts, an dessen glorreichem Ziel die eurologische Musik des 21. Jahrhunderts stehe, ist schon deshalb Unfug, weil die ästhetischen Vorlieben der verschiedenen Traditionen nie Teil eines gemeinsamen Stammbaums gewesen sind: Sie gerinnen sozusagen in jeder kulturellen Situation aufs Neue zu einer recht eigenen musikalischen Epistemologie. Die Musik der Verdi-Zeit ist nicht ein später Abkömmling der Musik der alten Ägypter*innen, und die Musik des Nō-Theaters hat sich nicht aus der des griechischen Theaters entwickelt. Der Jazz ist keine Variante der balinesischen Musik, und die diversen österreichischen Zwölftontheorien vom Anfang des 20. Jahrhunderts haben nichts aus der zwölftönigen Musiktheorie des südindischen Theoretikers Venkatamathi aus dem 18. Jahrhundert übernommen.
Natürlich gibt es das, was Edouard Glissant »Traces« nennt, Spuren gegenseitiger Einflüsse.
»Wenn wir das Denken in Systemen verlassen, dann weil wir erkannt haben, dass sie uns eine absolute Richtschnur für das Sein aufgezwungen haben, die ihre Tiefe, ihre Größe – und ihre Beschränkung ausmachte. [...] Das Denken in Spuren steht im Gegensatz zum Denken in Systemen – wie ein Irrweg, der uns die Richtung zeigt. [...] Die kreolischen Sprachen sind eine Spur, der Jazz ist eine rekonstruierte Spur, die über die ganze Welt läuft.«1
Diese Spuren, die sich verlieren können, untertauchen, als Schatten wiederkehren, treffen die Realität unseres Musikplaneten genauer als das Denken in Fortschritt und Entwicklung. Lebendige Traditionen sind stets radikal zeitgenössisch: Sie interpretieren die Vergangenheit immer pragmatisch – nämlich als Werkzeugkasten für die Gegenwart. Historische Genauigkeit und damit auch ästhetische Rebellion sind in dieser Traditionslogik reine Zeitverschwendung. Und Hand auf‘s Herz: Wieviel radikale Gegenwartsempfindung, wieviel entschlossenes Gegenwartsinteresse steckt nicht in jener Interpretationstradition, die uns über die letzten 60 Jahre als historische Aufführungspraxis angepriesen wurde?
»Lebendige Traditionen sind stets radikal zeitgenössisch.«
Sandeep Bhagwati in @vanmusik #outernational
Traditionen sind beim Musikmachen und Hören unumgängliche Notwendigkeit, um überhaupt mit Musik kommunizieren zu können. Und gleichzeitig erklären sie den Reichtum künstlerischer Phänomene besser als der Begriff der »Kultur«.
In eine Kultur wird man geboren, eine Tradition dagegen muss man immer bewusst für sich selber annehmen, meist sogar aktiv erlernen. Niemand auf der Welt hat irgendeine Musik im Blut: Alle Musik ist immer gelernte, aufgesogene Tradition. Alle Musikmacher*innen navigieren mehr oder weniger auf dem Strom einer Tradition – auch und gerade, wenn sie dagegen anrudern.
Außerdem: Fast alle »Kulturen« beherbergen mehrere, voneinander deutlich unterschiedene Musiktraditionen – zwischen deren Musikwahrnehmungen zu vermitteln manchmal schwieriger sein kann als zwischen zwei Traditionen aus verschiedenen Kulturen. Wenn man also das Musizieren auf dieser Welt gedanklich fassen möchte, ist der Begriff »Musiktradition« viel trennschärfer als der stets ein wenig wolkige Begriff der sogenannten »Musikkultur«.
Diese Betrachtungsweise des Musizierens als stets traditionsorientiert würde nicht nur die verschiedenen globalen Musikformen auf eine gemeinsame Basis stellen, sie würde auch die Musikformen der europäischen und anderer Vergangenheiten aus dem Prokrustesbett einer Fortschrittserzählung lösen, die leider noch immer als solche gelehrt wird, die aber allen aufmerksamen Musikhörenden befremdlich vorkommen muss.
Der britische Autor L.P. Hartley schrieb einst: »The past is a foreign country; they do things differently there.« (Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.) Diese Befreiung vom Denken in musikalisch-ästhetischen Fortschrittskategorien ist auch der Schlüssel zur Gleichwertigkeit aller musikalischen Traditionen – denn jede Tradition, die von heute lebenden Musiker*innen in die Luft vibriert wird, wäre dann genauso zeitgenössisch wie jede andere: eine Motette von Machaut so zeitgenössisch wie ein Kriti von Thyagarajan, ein P’ansori so zeitgenössisch wie ein Solo Anthony Braxtons, Mei Langfang’s Guifei Zuijiu (Die Betrunkene Konkubine) so zeitgenössisch wie Monteverdi’s Lettera Amorosa. Diese Musiken sind nicht überholt, sie bewegen sich nur jeweils innerhalb eines unvertrauten musikalisch-ästhetischem Land, dessen Regeln man aber mit gutem Willen lernen kann. Musiktraditionen sind bestimmte, real existierende, reich ausgebildete Verbindungen von Klangwahrnehmung und Klangpraxis – und jede ist eine konkrete Auswahl aus den im Prinzip unendlich vielen denkbaren und physikalisch möglichen Konstellationen.
Natürlich gibt es auf diese Frage nach einem Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem keine einfache Antwort. Dennoch scheint es mir ein Modell vom Musikmachen in der Welt zu geben, das ich für viel zukunftsfähiger halte als jene eurozentrischen Modelle der »Weltsprache Musik« oder der »World Music«. Dieses Modell würde sich an Johann Wolfgang von Goethes Konzept der »Weltliteratur« anlehnen – und an die darauf aufbauende UNESCO-Idee eines immateriellen Weltkulturerbes.
Goethe verstand seinen Begriff als eine Art Blütenlese derjenigen literarischen Arbeiten, die über ein lokales Interesse hinausweisen und zu allen Völkern sprechen können. Diese Sicht ist bisweilen kritisiert worden, weil sie als eine »Auswahl der Besten« missverstanden wurde – und Goethe bei einer solchen Auswahl gewiss eurozentrische literarische Kriterien anwende. Aber Goethes Begriff sagt das eigentlich gar nicht aus, und er stellte selbst auch gar keinen Kanon auf, sondern konstatierte nur, dass es für eine*n willige*n Leser*in überall in der Welt etwas Gutes zu lesen geben könne. Allerdings ist bei Literatur tatsächlich die Hürde der Sprache und die daraus folgende Notwendigkeit der Übersetzung ein Flaschenhals, der manche Autor*innen und Texte gar nicht erst in den Fokus einer globalen Öffentlichkeit bringt.
Die Musik ist hier, weil sie nichts Konkretes bedeuten muss, gewissermaßen im Vorteil – Studien zeigen, dass Menschen auch von einer Musik zutiefst berührt werden können, deren »sonus« und kulturellen Kontext sie gar nicht kennen. In diesem (und nur in diesem) Sinne fungiert Musik tatsächlich wie eine Weltsprache – allerdings eine, die vor allem trotz ständiger Missverständnisse wirkt: Wenn man eine Sonnenbrille trägt, mag ein Tafelbild einen dennoch mit seiner Farbenpracht und seiner Formsprache begeistern – allerdings sind die Farben, die man sieht, wahrscheinlich nicht dieselben, die die Malerin verwendet hat. So wirkt auch Musik über Traditionen hinweg: Was man hört, interpretiert man aus der eigenen musikalischen Erfahrung heraus.
Doch, und das ist der entscheidende Punkt, müssen in dieser Rezeptionshaltung alle Missverständnisse gleichwertig gelten: Wenn also, wie ich es erlebt habe, der Dhrupad-Meister Uday Bhawalkar die Variationen op. 27 von Anton Webern auf ihre interessante Raga-Struktur hin anhört, begeistert ist von deren kombinatorischen Reichtum und nur kritisch beklagt, dass der Komponist so wenig Musik daraus entwickelt (»Das hätte man doch mehrere Stunden auskosten können!«), so muss diese quer zu unserem Verständnis dieses Stückes verlaufende Wertschätzung ebenso gelten wie die inner-eurologisch unbestreitbar gelungenen Musikparaphrasen osmanischer, indischer, balinesischer, mongolischer, chinesischer und japanischer Musik bei z.B. Mozart, Roussel, Boulez, Puccini, Holst, Debussy, Messiaen, Cage, Murail und Hamel – oder das Missverstehen indischer Hofmusikkonzerte in westlichen Konzertsälen als Meditationsmusik.
Auf der Basis derartigen schöpferischen Missverstehens ließe sich eine Vision einer Weltmusik gründen, in der wir alle zu Alleshörer*innen werden – allerdings nicht in einem hedonistischen Sinn, sondern genauso engagiert und der Musik als Klangrede zugewandt wie alle Hörenden es in ihrem jeweiligen traditionellen Kontext auch sind. Dabei könnte ein nicht geringer Teil des künstlerischen Erlebens nun auch sein, den Verwerfungen und Faltungen, den Diskrepanzen zwischen dem Musikwollen der Machenden in einer Tradition und dem Musikverstehen der Hörenden in einer anderen nachzugehen – so wie es in vielen jener Traditionen, die Musik als eine Kunstform verstehen ja auch das Vergnügen gibt, verschiedene Interpretationen desselben Musikwollens miteinander abzugleichen.
Es wäre zu bedenken, ob nicht auch Veranstalter*innen, die sich mit der Musik der Welt auseinandersetzen möchten, dieser neuen Hör-Logik deutlicher Rechnung tragen sollten. Man könnte sich Musikfestivals und -reihen vorstellen, die in durchdachten kuratorischen Setzungen über alle Genre/Traditions/Stil-Grenzen hinweg programmiert werden.2
Eine solche Weltmusik würde also ein anderes Denken darüber bedeuten, was wir als musikalische Aktivität begreifen. In dem vor 20 Jahren veröffentlichten Buch »Musicking. The Meanings of Performing and Listening« plädierte Christopher Small dafür, Musik nicht, wie es seit der Erfindung der Schallplatte üblich geworden ist, als Objekt, sondern immer als eine Aktivität, ein Werdendes zu verstehen. Und an diesem Werdenden sind in ganz essentieller Weise nicht nur diejenigen beteiligt, die auf einer Bühne musizieren und diejenigen, die diese Musik erfunden haben (falls es andere sind als die ohnehin gerade Musizierenden) – sondern eben auch und gerade all jene, ohne die das Konzert gar nicht stattfände: Zuhörende, Angestellte des Saals, Programmmachende, bis hin zu Architekt*innen. Small argumentiert, dass all diese Leute der grundlegenden gesellschaftlichen Bedeutung des Musicking im Leben vertrauen müssen – und das wiederum bedeutet, dass sie in gewissem Sinne partizipieren am musikalischen Geschehen.
Thomas Turino weitet diesen Blick in »Music as social life« noch weiter aus und fächert musikalische Praktiken auch entlang der Frage auf, wie die Anteile von Partizipation und Präsentation in jeder Tradition gewichtet werden – wer partizipiert in welchem Umfang und in welcher Rolle, und was wird wem präsentiert. Vielleicht ist eine Tradition darauf erpicht, dass alle Zuhörenden auch zum Gesamtklang und zur Dramaturgie der Musik beisteuern, mit Klatschen und Rufen. Eine andere Tradition wiederum kennt einfache und schwerere Parts, die Musizierenden mit verschiedenen Kenntnisgraden ermöglichen, am Musizieren teilzunehmen. Eine dritte erlaubt gar keine menschlichen Musiker und keine Bühne, sondern lässt nur von einer geheimen Kraft gespeiste magische Objekte, sogenannte »Laut-Sprecher« erklingen.
Das eurologische Konzertritual des Stillsitzens ist uns organisatorisch und konzeptuell so vertraut, dass wir es kaum noch in Frage stellen. Viele, auch gerade neue Konzertsäle legen die Sitzordnung unveränderlich fest. Konzerte finden fast immer abends zwischen Arbeit und Schlaf statt. Diese Organisation unseres Musickings begünstigt manche Musiktraditionen mehr als andere. Der Saal, das Ambiente, die Präsentationsform, ja die Bewegungen von Musiker*innen und Hörer*innen sind eben in vielen Musiktraditionen Teil des Musickings: Klang ist nicht alles, was Musik ausmacht. Deshalb ist es auch von besonderer Bedeutung, dass wir Offenheit nicht nur darin verstehen, dass wir nun auch »die Anderen« auf eben jenen plüschigen Thron einladen, auf dem wir so bequem sitzen: in jene Säle, Konzertrituale und Aufführungsbedingungen, die uns vertraut sind. Musique en marche (Musik in Bewegung) wäre doch ein schönes Motto!
Auch hier gibt es, dem Theater folgend, viele Experimente, das Musik-Erleben auf neue Weise zu konfigurieren – Konzerte zu anderen Tageszeiten, Konzerte im Liegen, Wandelkonzerte, Klanginstallationen, Musik im öffentlichen Raum etc. All diese Selbstbefragungen und Experimente sind ebenfalls ein wichtiger Schritt zu einer gleichberechtigten ästhetischen Präsenz verschiedenster Musiktraditionen in unserem kulturellen Bewusstseinsraum.
Kurioserweise sind allerdings gerade jene Veranstalter*innen, die Musik aus nicht-europäischen Kontexten präsentieren, in dieser Hinsicht oft die konservativsten: Oft kleben diese Veranstaltungen bis zur Karikatur an den Konzertritualen und Konzertsälen der hiesigen klassischen Musik.
Wahrscheinlich müssen besonders diese Veranstalter*innen einkalkulieren, dass nicht-eurologisches Musizieren auch heute noch von einem hiesigen Publikum als »exotisch« empfunden wird – und man es quasi schützen muss, indem man es in einem Kontext präsentiert, den die Zuhörer mit hierzulande etabliertem Musikgenuss assoziieren?
Eines muss bei all dem klar sein: Es geht in unserem Nachdenken stets nur um uns selbst – darum, wie die europäisch-nordamerikanische Musikszene sich selber wieder einordnen kann ins Weltgeschehen, wie sie verstehen kann, dass sie zwar über viele Jahrzehnte einen großen dominanten Part im Orchester der Weltmusik spielen durfte. Dass aber jetzt die Zeit gekommen ist, den anderen zuzuhören und deren Part hörbar werden zu lassen – damit die Dramaturgie und die Klangwelt dieser von uns allen gemeinsam aufgeführten Komprovisation3, die wir »Welt« nennen, nicht allzu öde und unfruchtbar wird. Der Kultursoziologe Deepak Chakraborty fordert schon seit dem Jahr 2000 eine Provinzialisierung Europas, ein neues Lebensgefühl, das versteht, dass wir unsere grundsätzlich berechtigte und sogar existentiell bedeutsame Anhänglichkeit zu einer kulturellen Heimat nie für mehr als eine provinzielle Regung halten sollten. Lasst uns nicht mehr fragen, was die Musik der Welt für uns tun kann, sondern lasst uns überlegen, was wir für die vielen Musiken unseres Planeten tun können.
Ich hoffe, dazu einige Einsichten und Strategien skizziert zu haben: aber es werden nicht allein die Einsichten in unser Tun sein, die unser Musicking verändern, sondern vor allem das aktive und demütige Hinaushören in die klingende, singende Welt um uns herum.
»Lebendige Traditionen sind stets radikal zeitgenössisch.«
Sandeep Bhagwati in @vanmusik #outernational
Passagen dieses Artikels wurden im Auftrag des Goethe Instituts erstellt.
1 Edouard Glissant , »Traité du Tout-Monde«, Paris 1997, S.19/20
2 Vier derartige Festivals fallen mir da in neuerer Zeit ein, alle auf hohem musikalischem Niveau: Die Musi[*Name des Monats*] Festivals (also MusiMars oder MusiOctobre] die Denys Bouliane und Walter Boudreau von 1999 bis 2008 in Montréal organisierten, und die in jedem Konzert eine Vielfalt von Besetzungen und musikalischer Stile eurologischer und nicht-westlicher Kunst-Musik zu einem Sujet zusammenstellten. Die zwei Faithful! – Verrat und Treue der musikalischen Interpretation - Festivals 2012/2014, kuratiert von Elke Moltrecht (und 2012 auch Björn Gottstein), in denen die Frage der musikalischen Interpretation über Stil-, Traditions-und Genregrenzen hinweg ausgelotet wurde. Dann das seit 2009 immer wieder stattfindende Big Ears Festival in Knoxville, Tennessee, in dem wechselnde Kuratoren aus Pop, Klassik, Jazz und Neuer Musik (Steve Reich, Bryce Dessner, Terry Riley etc.) jeweils ein Festival amerikanischer Musik über Genre und Stilgrenzen hinweg programmieren. In Indien gibt es zudem seit 2007 das RIFF Festival Jodhpur, das im Kontext südasiatischer Musikformen ähnlich inklusiv agiert. Ein anspruchsvoll kuratiertes Festival allerdings, in dem prinzipiell alle Musikformen der Welt gleichberechtigt aufscheinen könnten, kenne ich derzeit nicht.
3 Komprovisation ist ein aus »Komposition« und Improvisation« gebildeter Hybridbegriff, der, ähnlich wie Smalls Musicking deutlich machen soll, dass jede Aufführung von Musik geplante und unvorhergesehene Anteile, vor dem Konzert und im Konzert Komponiertes enthält – und dass man Traditionen auch daran unterscheiden kann, wie sie diese Mischung zwischen den beiden Polen praktisch umsetzen.
Text Sandeep Bhagwati
Titelbild Henri Rousseau (bearbeitet)
Der erste Teil dieses Essays schloss mit der Frage: »Wie sähe denn ein Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem aus?« In den letzten 15 Jahren hat es in der deutschen Musikszene zahlreiche Initiativen gegeben, die sich dieser Frage einer sogenannten De-Kolonisierung der Musik aktiv gestellt haben. Am prominentesten ist da sicherlich die gemeinsame Anstrengung der Festivals Donaueschinger Musiktage, MaerzMusik Berlin, Ultima Festival Oslo und der Darmstädter Ferienkurse, die sich den computertechnischen Begriff »Defragmentation« gegeben hat. Es wird auf diesem Feld in Deutschland an vielen Orten experimentiert, mit vielfältigen Formaten und in innovativen Prozessen. Als jemand, der in manche dieser Initiativen eingebunden war, sind mir drei Aspekte bemerkenswert.
Zum einen sind die Diskurs-Expert*innen, die man sich zu diesem Thema holt, meist Theoretiker*innen aus dem anglophonen, gelegentlich auch dem frankophonen akademischen Diskurs – dort ist seit den späten 1980er Jahren eine sogenannte »New Musicology« aktiv, die sich Fragen von Dekolonisierung, Gender und anderen virulenten geisteswissenschaftlichen Strömungen stellt, aber auch immer mehr die Zusammenarbeit mit Neurowissenschaften und anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen sucht. Von einer solchen »New Musicology« und ihren Folgedisziplinen (z.B. künstlerische Musikforschung) ist die deutsche Musikwissenschaft noch weit entfernt – diese Ungleichzeitigkeit der Diskurse färbt natürlich auch auf den Betrieb selbst ab. Die deutsche Musik-Debatte hat offenbar noch keinen eigenen, an der eigenen Kolonial-, Musik- und Geistesgeschichte geschärften diskursiven Zugriff auf diese Thematik. Dabei gäbe es da – von der Definition der modernen Anthropologie im 16. Jahrhundert durch Magnus Hundt und Otto Casmann und dem ehrgeizigen (unvollendeten) Projekt einer globalen Musikgeschichte Johann Nikolaus Forkels im 18. Jahrhundert über Goethes Konzept der »Weltliteratur« bis hin zu Heinrich Brunns Begriff des »Kunstwollens« aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – eine von der anglo- und frankophonen Diskussion verschiedene, diskursive Tradition prä-kolonialistischer und prä-kulturdarwinistischer Denkansätze, die in diesen Debatten fast nie aufgegriffen werden. Dadurch entsteht bei vielen dieser Bemühungen nicht das Gefühl, dass in ihnen Zukunftsfragen angegangen werden, sondern dass man vor allem mit Aufholen beschäftigt ist.
Zum anderen wird die deutsche Diskussion trotz aller angeblichen Offenheit immer noch wie eine intern-eurologische geführt. Perspektiven aus anderen Musiktraditionen werden kaum rezipiert, diskutiert oder in zentralen Musikevents thematisch repräsentiert. Auch bei besten Absichten scheint es mir bei den allermeisten dieser Initiativen und Veranstaltungen mehr darum zu gehen, wie man mit einem erweiterten gedanklichen und musikalischen Arsenal die »Vorherrschaft der deutschen Musik«(-szene) noch ein paar weitere Jahrzehnte erhalten kann. Noch immer sind die kreativen Traditionen, die Denk- und Hörweisen der »anderen« Musiken des Planeten in dieser Debatte nachrangig bis unhörbar. Es wäre in vielen anderen Ländern z.B. unmöglich, Debatten darüber ausschließlich »unter weißen« zu führen. Hierzulande findet man das vergleichsweise oft.
Drittens ist bemerkenswert, wieviel diskursives Aufhebens in der »ernsten« Musik-Szene Europas darum gemacht wird, wenn Fragen der Dekolonisation und kultureller Diversität endlich einmal bei einem ihrer Events oder Foren thematisiert werden. Diese Betonung zeigt noch immer deutlich, dass dieses Thema weit davon entfernt ist, vom eigenen Publikum als eine alltägliche Lebenswirklichkeit in einer modernen plurikulturellen Gesellschaft betrachtet zu werden.
Oft erscheint es, als sei das Land, das einst sein Zuspätkommen im Wettlauf der Kolonialmächte bitter beklagte, nun schon wieder verspätet, wenn es darum geht, sich selbst zu ent-kolonisieren. Es ist noch ein gutes Stück Weg bis zu einer wirklichen, alltagswirksamen, unaufgeregten Dekolonisierung im deutschsprachigen Raum – und zu einer Musikpraxis, die sich wirklich in eine »Musik der Welt« einlauschen wollte. Im letzten Teil dieses Artikels möchte ich nun mögliche Rahmenbedingungen für eine solche skizzieren.
In seinem Buch »Epistemologias do sul« fordert der Soziologe Boaventura de Sousa Santos eine Neuausrichtung der Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und ihr Bedeutung verleihen. Wissen entsteht laut de Sousa Santos nicht auf eine universell gültige Weise, sondern wird in verschiedenen Kulturen und Kontexten verschieden bedeutet, genutzt und verhandelt. Für ihn ist die Anerkennung anderer Epistemologien essentiell für globale Gerechtigkeit.
Parallelen zur Musik sind offensichtlich. Zentral für eine Neuausrichtung der musikalischen Epistemologien wäre ein Umdenken, was das Verhältnis von Tradition zu Moderne betrifft. Diese werden in gegenwärtigen Musikdebatten oft als Gegenpole dargestellt – hier Musiktheorie und Notation, dort orale Überlieferung. Hier das Zeitgenössische, dort das Traditionelle, sprich Veraltete.
Globale Gerechtigkeit im Musikbetrieb?
Wie das möglich sein könnte erzählt Sandeep Bhagwati in @vanmusik #outernational
Überhaupt müssen wir den Begriff der Tradition nochmal überdenken. Denn: Natürlich ist die eurologische »Neue Musik« ebenfalls eine traditionelle Musik. Ihr Selbstbild beharrt zwar darauf, die eigene Musikszene als permanent anti-traditionell, als institutionalisierte Revolution zu präsentieren. Aber erstens scheitert die Praxis an diesem Anspruch gewaltig: Seit 70 Jahren, seit dem mittleren Adorno, spricht man nun schon vom ›Altern der Neuen Musik‹, in der sich Techniken, Ästhetiken, Klangformen hartnäckig festgetönt haben und die überschaubare Fanbase nun eifernd über ihre Erinnerungen an eine Zukunftsmusik wacht. Zweitens ist allein dieses ästhetische Denkmuster des Anti-Traditionalismus selbstverständlich eine schon Jahrhunderte alte Tradition der eurologischen Musik überhaupt: Seit im Jahr 1322 Papst Johannes XXII eine neue Mode hochkünstlicher Musik für den Gottesdienst verbot, und diese sich daraufhin sofort ideologisch definierte und sich mit einem Manifest als ›Ars Nova‹, als neue Kunst gegen die etablierte ›Ars Antiqua‹ abgrenzte, ist die Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Alten, Eingewöhnten die einzige ästhetische Konstante der europäischen Musikgeschichte gewesen. Auch und gerade die Avantgarden des 20. Jahrhunderts sind Teil dieser intellektuellen Tradition.
Welche Erkenntnisse benötigen wir also, um mit der Anerkennung anderer Musiken hierzulande voranzukommen? Musikalische Praktiken und musikalische Denkweisen unterscheiden sich vor allem darin, auf welchen Aspekt des klanglichen Geschehens sie achten. Die einen hören auf Tonhöhen und Rhythmen, die anderen auf Rauheit und Groove, die dritten auf die soziale Beziehung zwischen Hörenden und Spielenden oder das Geschlecht der Ausführenden, wieder andere auf Trockenheit und Resonanz des Raumes.
In jeder Tradition werden diese Aspekte unterschiedlich bewertet, und gerade diese individuelle Gewichtung ist oft das, was eine Tradition von der anderen unterscheidet. Es wäre ein wichtiger Schritt, diese in jeder musikalischen Tradition zu findende künstlerische Wertung des Erklingenden hierarchiefrei anzugehen.
Die Vorstellung eines steten Fortschritts, an dessen glorreichem Ziel die eurologische Musik des 21. Jahrhunderts stehe, ist schon deshalb Unfug, weil die ästhetischen Vorlieben der verschiedenen Traditionen nie Teil eines gemeinsamen Stammbaums gewesen sind: Sie gerinnen sozusagen in jeder kulturellen Situation aufs Neue zu einer recht eigenen musikalischen Epistemologie. Die Musik der Verdi-Zeit ist nicht ein später Abkömmling der Musik der alten Ägypter*innen, und die Musik des Nō-Theaters hat sich nicht aus der des griechischen Theaters entwickelt. Der Jazz ist keine Variante der balinesischen Musik, und die diversen österreichischen Zwölftontheorien vom Anfang des 20. Jahrhunderts haben nichts aus der zwölftönigen Musiktheorie des südindischen Theoretikers Venkatamathi aus dem 18. Jahrhundert übernommen.
Natürlich gibt es das, was Edouard Glissant »Traces« nennt, Spuren gegenseitiger Einflüsse.
»Wenn wir das Denken in Systemen verlassen, dann weil wir erkannt haben, dass sie uns eine absolute Richtschnur für das Sein aufgezwungen haben, die ihre Tiefe, ihre Größe – und ihre Beschränkung ausmachte. [...] Das Denken in Spuren steht im Gegensatz zum Denken in Systemen – wie ein Irrweg, der uns die Richtung zeigt. [...] Die kreolischen Sprachen sind eine Spur, der Jazz ist eine rekonstruierte Spur, die über die ganze Welt läuft.«1
Diese Spuren, die sich verlieren können, untertauchen, als Schatten wiederkehren, treffen die Realität unseres Musikplaneten genauer als das Denken in Fortschritt und Entwicklung. Lebendige Traditionen sind stets radikal zeitgenössisch: Sie interpretieren die Vergangenheit immer pragmatisch – nämlich als Werkzeugkasten für die Gegenwart. Historische Genauigkeit und damit auch ästhetische Rebellion sind in dieser Traditionslogik reine Zeitverschwendung. Und Hand auf‘s Herz: Wieviel radikale Gegenwartsempfindung, wieviel entschlossenes Gegenwartsinteresse steckt nicht in jener Interpretationstradition, die uns über die letzten 60 Jahre als historische Aufführungspraxis angepriesen wurde?
»Lebendige Traditionen sind stets radikal zeitgenössisch.«
Sandeep Bhagwati in @vanmusik #outernational
Traditionen sind beim Musikmachen und Hören unumgängliche Notwendigkeit, um überhaupt mit Musik kommunizieren zu können. Und gleichzeitig erklären sie den Reichtum künstlerischer Phänomene besser als der Begriff der »Kultur«.
In eine Kultur wird man geboren, eine Tradition dagegen muss man immer bewusst für sich selber annehmen, meist sogar aktiv erlernen. Niemand auf der Welt hat irgendeine Musik im Blut: Alle Musik ist immer gelernte, aufgesogene Tradition. Alle Musikmacher*innen navigieren mehr oder weniger auf dem Strom einer Tradition – auch und gerade, wenn sie dagegen anrudern.
Außerdem: Fast alle »Kulturen« beherbergen mehrere, voneinander deutlich unterschiedene Musiktraditionen – zwischen deren Musikwahrnehmungen zu vermitteln manchmal schwieriger sein kann als zwischen zwei Traditionen aus verschiedenen Kulturen. Wenn man also das Musizieren auf dieser Welt gedanklich fassen möchte, ist der Begriff »Musiktradition« viel trennschärfer als der stets ein wenig wolkige Begriff der sogenannten »Musikkultur«.
Diese Betrachtungsweise des Musizierens als stets traditionsorientiert würde nicht nur die verschiedenen globalen Musikformen auf eine gemeinsame Basis stellen, sie würde auch die Musikformen der europäischen und anderer Vergangenheiten aus dem Prokrustesbett einer Fortschrittserzählung lösen, die leider noch immer als solche gelehrt wird, die aber allen aufmerksamen Musikhörenden befremdlich vorkommen muss.
Der britische Autor L.P. Hartley schrieb einst: »The past is a foreign country; they do things differently there.« (Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.) Diese Befreiung vom Denken in musikalisch-ästhetischen Fortschrittskategorien ist auch der Schlüssel zur Gleichwertigkeit aller musikalischen Traditionen – denn jede Tradition, die von heute lebenden Musiker*innen in die Luft vibriert wird, wäre dann genauso zeitgenössisch wie jede andere: eine Motette von Machaut so zeitgenössisch wie ein Kriti von Thyagarajan, ein P’ansori so zeitgenössisch wie ein Solo Anthony Braxtons, Mei Langfang’s Guifei Zuijiu (Die Betrunkene Konkubine) so zeitgenössisch wie Monteverdi’s Lettera Amorosa. Diese Musiken sind nicht überholt, sie bewegen sich nur jeweils innerhalb eines unvertrauten musikalisch-ästhetischem Land, dessen Regeln man aber mit gutem Willen lernen kann. Musiktraditionen sind bestimmte, real existierende, reich ausgebildete Verbindungen von Klangwahrnehmung und Klangpraxis – und jede ist eine konkrete Auswahl aus den im Prinzip unendlich vielen denkbaren und physikalisch möglichen Konstellationen.
Natürlich gibt es auf diese Frage nach einem Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem keine einfache Antwort. Dennoch scheint es mir ein Modell vom Musikmachen in der Welt zu geben, das ich für viel zukunftsfähiger halte als jene eurozentrischen Modelle der »Weltsprache Musik« oder der »World Music«. Dieses Modell würde sich an Johann Wolfgang von Goethes Konzept der »Weltliteratur« anlehnen – und an die darauf aufbauende UNESCO-Idee eines immateriellen Weltkulturerbes.
Goethe verstand seinen Begriff als eine Art Blütenlese derjenigen literarischen Arbeiten, die über ein lokales Interesse hinausweisen und zu allen Völkern sprechen können. Diese Sicht ist bisweilen kritisiert worden, weil sie als eine »Auswahl der Besten« missverstanden wurde – und Goethe bei einer solchen Auswahl gewiss eurozentrische literarische Kriterien anwende. Aber Goethes Begriff sagt das eigentlich gar nicht aus, und er stellte selbst auch gar keinen Kanon auf, sondern konstatierte nur, dass es für eine*n willige*n Leser*in überall in der Welt etwas Gutes zu lesen geben könne. Allerdings ist bei Literatur tatsächlich die Hürde der Sprache und die daraus folgende Notwendigkeit der Übersetzung ein Flaschenhals, der manche Autor*innen und Texte gar nicht erst in den Fokus einer globalen Öffentlichkeit bringt.
Die Musik ist hier, weil sie nichts Konkretes bedeuten muss, gewissermaßen im Vorteil – Studien zeigen, dass Menschen auch von einer Musik zutiefst berührt werden können, deren »sonus« und kulturellen Kontext sie gar nicht kennen. In diesem (und nur in diesem) Sinne fungiert Musik tatsächlich wie eine Weltsprache – allerdings eine, die vor allem trotz ständiger Missverständnisse wirkt: Wenn man eine Sonnenbrille trägt, mag ein Tafelbild einen dennoch mit seiner Farbenpracht und seiner Formsprache begeistern – allerdings sind die Farben, die man sieht, wahrscheinlich nicht dieselben, die die Malerin verwendet hat. So wirkt auch Musik über Traditionen hinweg: Was man hört, interpretiert man aus der eigenen musikalischen Erfahrung heraus.
Doch, und das ist der entscheidende Punkt, müssen in dieser Rezeptionshaltung alle Missverständnisse gleichwertig gelten: Wenn also, wie ich es erlebt habe, der Dhrupad-Meister Uday Bhawalkar die Variationen op. 27 von Anton Webern auf ihre interessante Raga-Struktur hin anhört, begeistert ist von deren kombinatorischen Reichtum und nur kritisch beklagt, dass der Komponist so wenig Musik daraus entwickelt (»Das hätte man doch mehrere Stunden auskosten können!«), so muss diese quer zu unserem Verständnis dieses Stückes verlaufende Wertschätzung ebenso gelten wie die inner-eurologisch unbestreitbar gelungenen Musikparaphrasen osmanischer, indischer, balinesischer, mongolischer, chinesischer und japanischer Musik bei z.B. Mozart, Roussel, Boulez, Puccini, Holst, Debussy, Messiaen, Cage, Murail und Hamel – oder das Missverstehen indischer Hofmusikkonzerte in westlichen Konzertsälen als Meditationsmusik.
Auf der Basis derartigen schöpferischen Missverstehens ließe sich eine Vision einer Weltmusik gründen, in der wir alle zu Alleshörer*innen werden – allerdings nicht in einem hedonistischen Sinn, sondern genauso engagiert und der Musik als Klangrede zugewandt wie alle Hörenden es in ihrem jeweiligen traditionellen Kontext auch sind. Dabei könnte ein nicht geringer Teil des künstlerischen Erlebens nun auch sein, den Verwerfungen und Faltungen, den Diskrepanzen zwischen dem Musikwollen der Machenden in einer Tradition und dem Musikverstehen der Hörenden in einer anderen nachzugehen – so wie es in vielen jener Traditionen, die Musik als eine Kunstform verstehen ja auch das Vergnügen gibt, verschiedene Interpretationen desselben Musikwollens miteinander abzugleichen.
Es wäre zu bedenken, ob nicht auch Veranstalter*innen, die sich mit der Musik der Welt auseinandersetzen möchten, dieser neuen Hör-Logik deutlicher Rechnung tragen sollten. Man könnte sich Musikfestivals und -reihen vorstellen, die in durchdachten kuratorischen Setzungen über alle Genre/Traditions/Stil-Grenzen hinweg programmiert werden.2
Eine solche Weltmusik würde also ein anderes Denken darüber bedeuten, was wir als musikalische Aktivität begreifen. In dem vor 20 Jahren veröffentlichten Buch »Musicking. The Meanings of Performing and Listening« plädierte Christopher Small dafür, Musik nicht, wie es seit der Erfindung der Schallplatte üblich geworden ist, als Objekt, sondern immer als eine Aktivität, ein Werdendes zu verstehen. Und an diesem Werdenden sind in ganz essentieller Weise nicht nur diejenigen beteiligt, die auf einer Bühne musizieren und diejenigen, die diese Musik erfunden haben (falls es andere sind als die ohnehin gerade Musizierenden) – sondern eben auch und gerade all jene, ohne die das Konzert gar nicht stattfände: Zuhörende, Angestellte des Saals, Programmmachende, bis hin zu Architekt*innen. Small argumentiert, dass all diese Leute der grundlegenden gesellschaftlichen Bedeutung des Musicking im Leben vertrauen müssen – und das wiederum bedeutet, dass sie in gewissem Sinne partizipieren am musikalischen Geschehen.
Thomas Turino weitet diesen Blick in »Music as social life« noch weiter aus und fächert musikalische Praktiken auch entlang der Frage auf, wie die Anteile von Partizipation und Präsentation in jeder Tradition gewichtet werden – wer partizipiert in welchem Umfang und in welcher Rolle, und was wird wem präsentiert. Vielleicht ist eine Tradition darauf erpicht, dass alle Zuhörenden auch zum Gesamtklang und zur Dramaturgie der Musik beisteuern, mit Klatschen und Rufen. Eine andere Tradition wiederum kennt einfache und schwerere Parts, die Musizierenden mit verschiedenen Kenntnisgraden ermöglichen, am Musizieren teilzunehmen. Eine dritte erlaubt gar keine menschlichen Musiker und keine Bühne, sondern lässt nur von einer geheimen Kraft gespeiste magische Objekte, sogenannte »Laut-Sprecher« erklingen.
Das eurologische Konzertritual des Stillsitzens ist uns organisatorisch und konzeptuell so vertraut, dass wir es kaum noch in Frage stellen. Viele, auch gerade neue Konzertsäle legen die Sitzordnung unveränderlich fest. Konzerte finden fast immer abends zwischen Arbeit und Schlaf statt. Diese Organisation unseres Musickings begünstigt manche Musiktraditionen mehr als andere. Der Saal, das Ambiente, die Präsentationsform, ja die Bewegungen von Musiker*innen und Hörer*innen sind eben in vielen Musiktraditionen Teil des Musickings: Klang ist nicht alles, was Musik ausmacht. Deshalb ist es auch von besonderer Bedeutung, dass wir Offenheit nicht nur darin verstehen, dass wir nun auch »die Anderen« auf eben jenen plüschigen Thron einladen, auf dem wir so bequem sitzen: in jene Säle, Konzertrituale und Aufführungsbedingungen, die uns vertraut sind. Musique en marche (Musik in Bewegung) wäre doch ein schönes Motto!
Auch hier gibt es, dem Theater folgend, viele Experimente, das Musik-Erleben auf neue Weise zu konfigurieren – Konzerte zu anderen Tageszeiten, Konzerte im Liegen, Wandelkonzerte, Klanginstallationen, Musik im öffentlichen Raum etc. All diese Selbstbefragungen und Experimente sind ebenfalls ein wichtiger Schritt zu einer gleichberechtigten ästhetischen Präsenz verschiedenster Musiktraditionen in unserem kulturellen Bewusstseinsraum.
Kurioserweise sind allerdings gerade jene Veranstalter*innen, die Musik aus nicht-europäischen Kontexten präsentieren, in dieser Hinsicht oft die konservativsten: Oft kleben diese Veranstaltungen bis zur Karikatur an den Konzertritualen und Konzertsälen der hiesigen klassischen Musik.
Wahrscheinlich müssen besonders diese Veranstalter*innen einkalkulieren, dass nicht-eurologisches Musizieren auch heute noch von einem hiesigen Publikum als »exotisch« empfunden wird – und man es quasi schützen muss, indem man es in einem Kontext präsentiert, den die Zuhörer mit hierzulande etabliertem Musikgenuss assoziieren?
Eines muss bei all dem klar sein: Es geht in unserem Nachdenken stets nur um uns selbst – darum, wie die europäisch-nordamerikanische Musikszene sich selber wieder einordnen kann ins Weltgeschehen, wie sie verstehen kann, dass sie zwar über viele Jahrzehnte einen großen dominanten Part im Orchester der Weltmusik spielen durfte. Dass aber jetzt die Zeit gekommen ist, den anderen zuzuhören und deren Part hörbar werden zu lassen – damit die Dramaturgie und die Klangwelt dieser von uns allen gemeinsam aufgeführten Komprovisation3, die wir »Welt« nennen, nicht allzu öde und unfruchtbar wird. Der Kultursoziologe Deepak Chakraborty fordert schon seit dem Jahr 2000 eine Provinzialisierung Europas, ein neues Lebensgefühl, das versteht, dass wir unsere grundsätzlich berechtigte und sogar existentiell bedeutsame Anhänglichkeit zu einer kulturellen Heimat nie für mehr als eine provinzielle Regung halten sollten. Lasst uns nicht mehr fragen, was die Musik der Welt für uns tun kann, sondern lasst uns überlegen, was wir für die vielen Musiken unseres Planeten tun können.
Ich hoffe, dazu einige Einsichten und Strategien skizziert zu haben: aber es werden nicht allein die Einsichten in unser Tun sein, die unser Musicking verändern, sondern vor allem das aktive und demütige Hinaushören in die klingende, singende Welt um uns herum.
»Lebendige Traditionen sind stets radikal zeitgenössisch.«
Sandeep Bhagwati in @vanmusik #outernational
Passagen dieses Artikels wurden im Auftrag des Goethe Instituts erstellt.
1 Edouard Glissant , »Traité du Tout-Monde«, Paris 1997, S.19/20
2 Vier derartige Festivals fallen mir da in neuerer Zeit ein, alle auf hohem musikalischem Niveau: Die Musi[*Name des Monats*] Festivals (also MusiMars oder MusiOctobre] die Denys Bouliane und Walter Boudreau von 1999 bis 2008 in Montréal organisierten, und die in jedem Konzert eine Vielfalt von Besetzungen und musikalischer Stile eurologischer und nicht-westlicher Kunst-Musik zu einem Sujet zusammenstellten. Die zwei Faithful! – Verrat und Treue der musikalischen Interpretation - Festivals 2012/2014, kuratiert von Elke Moltrecht (und 2012 auch Björn Gottstein), in denen die Frage der musikalischen Interpretation über Stil-, Traditions-und Genregrenzen hinweg ausgelotet wurde. Dann das seit 2009 immer wieder stattfindende Big Ears Festival in Knoxville, Tennessee, in dem wechselnde Kuratoren aus Pop, Klassik, Jazz und Neuer Musik (Steve Reich, Bryce Dessner, Terry Riley etc.) jeweils ein Festival amerikanischer Musik über Genre und Stilgrenzen hinweg programmieren. In Indien gibt es zudem seit 2007 das RIFF Festival Jodhpur, das im Kontext südasiatischer Musikformen ähnlich inklusiv agiert. Ein anspruchsvoll kuratiertes Festival allerdings, in dem prinzipiell alle Musikformen der Welt gleichberechtigt aufscheinen könnten, kenne ich derzeit nicht.
3 Komprovisation ist ein aus »Komposition« und Improvisation« gebildeter Hybridbegriff, der, ähnlich wie Smalls Musicking deutlich machen soll, dass jede Aufführung von Musik geplante und unvorhergesehene Anteile, vor dem Konzert und im Konzert Komponiertes enthält – und dass man Traditionen auch daran unterscheiden kann, wie sie diese Mischung zwischen den beiden Polen praktisch umsetzen.
Wir nutzen die von dir eingegebene E-Mail-Adresse, um dir in regelmäßigen Abständen unseren Newsletter senden zu können. Falls du es dir mal anders überlegst und keine Newsletter mehr von uns bekommen möchtest, findest du in jeder Mail in der Fußzeile einen Unsubscribe-Button. Damit kannst du deine E-Mail-Adresse aus unserem Verteiler löschen. Weitere Infos zum Thema Datenschutz findest du in unserer Datenschutzerklärung.
OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
Wir nutzen die von dir eingegebene E-Mail-Adresse, um dir in regelmäßigen Abständen unseren Newsletter senden zu können. Falls du es dir mal anders überlegst und keine Newsletter mehr von uns bekommen möchtest, findest du in jeder Mail in der Fußzeile einen Unsubscribe-Button. Damit kannst du deine E-Mail-Adresse aus unserem Verteiler löschen. Weitere Infos zum Thema Datenschutz findest du in unserer Datenschutzerklärung.
OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.