Text Sandeep Bhagwati
Titelbild Paul Gauguin (bearbeitet)
Ab und zu passiert es mir, dass mein Telefon läutet und ein*e Programmdirektor*in einer deutschen Kulturinstitution oder eines deutschen Orchesters mir erklärt, sie hätten vor, demnächst ein Indien-Konzert oder -Projekt zu machen, Indien sei wirtschaftlich wichtig geworden, und ob ich ein paar Ideen für indische Orchesterwerke hätte. Man habe schon was von Massenet und Holst oder Roussel gefunden, dabei sei auch eine junge deutsche Komponistin, die kürzlich ein paar Wochen in Indien verbracht habe. Ein davon inspiriertes Werk sei im Entstehen – aber man habe eben noch nichts authentisch Indisches. Geld sei knapp, man könne keine indischen Musiker*innen einfliegen. Aber man wolle doch ein bitte kurzes Werk eines authentisch indischen Komponisten aufführen, ob ich ihnen Namen und Werke nennen könnte.
Das klingt doch nach einem ganz ehrenwerten Anruf, oder? Warum reagiere ich dann auf derlei Anfragen inzwischen nur noch genervt? Nun, es ist oft sehr schnell klar, dass die Anrufer*innen sich bei mir nur wegen meines indischen Namens gemeldet haben. Keiner dieser Manager*innen würde sich bei mir melden, wenn nicht meine Mutter, sondern mein Vater der deutsche Elternteil gewesen wäre, und ich als Komponist z. B. Michael Stauffer hieße. Außerdem: Ich bin zwar in Indien geboren, lebe aber seit meinem 5. Lebensjahr in Deutschland, bin hier zur Schule gegangen und habe in Salzburg und München Dirigieren und Komposition studiert: nicht der typische Werdegang eines Experten für indische Musik.
Viel wichtiger aber: Ich kann schon deshalb kein Experte für Orchestermusik aus Indien sein, weil es solche Expert*innen prinzipiell nicht geben kann. Indien hat sein eigenes klassisches Musiksystem, das keine Orchesterkultur kennt. Im indischen Musikleben ist europäisch geprägte klassische Musik so marginal präsent wie balinesische Musik in Deutschland. Die wenigen Komponist*innen mit indischem Namen, die Orchesterwerke geschrieben haben, haben sie im und für den westlichen Musikbetrieb geschrieben. Diese Komponist*innen aber - und zu diesen zähle auch ich - fallen wiederum meist nicht unter den Begriff des »authentischen Inders«, wie immer man den definieren will: ob nach Blutlinie, Wohnort oder nach der Musik, in der man ausgebildet wurde. Für Leute wie mich, die in mehreren kulturellen Kontexten leben, hat eine derartige Betonung des Authentischen überdies einen unangenehmen, wenn nicht gar bedrohlichen Beigeschmack: im wohlmeinenden Fall signalisiert sie Unwissen darüber, was für changierende Flickenteppiche alle Kulturen sind – und allzu oft ist sie ein deutliches Anzeichen für rechtslastige Gesinnung.
Schließlich ist das vorsorgliche Erwähnen knapper Budgets eine diskriminierende Verhandlungsstrategie, die gerade in interkulturellen Projekten wie diesem auffallend oft zur Anwendung kommt. Ein Programmdirektor eines Berliner Konzertsaals wollte vor ein paar Jahren eine Reihe mit Starmusiker*innen der klassischen arabischen Musik einrichten, beschwerte sich aber dann privat, dass diese so unmäßig viel Honorar verlangten – das sei ja mitunter fast soviel, wie ein westlicher Klassikstar bekäme! Immerhin dürften sie doch in seinem tollen Saal spielen! In Berlin! Wie undankbar… Wahrscheinlich hatte er noch nie von den grosszügigen Honoraren gehört, die diese Meister ihrer Tradition in den Golfstaaten erhalten können.
Man stelle sich nun vor, jemand leistete sich eine ähnlich offenherzig zur Schau getragene Unkenntnis der betreffenden Musiktradition und eine derart herablassende Kommunikation gegenüber Expert*innen, die für ein Mendelssohn-, Russland- oder Stockhausen-Konzert angefragt werden. Nein, das wollen wir uns nicht vorstellen. Dazu sind unsere Klassikmanager*innen zu engagiert und gebildet, dazu liegt ihnen diese Musik (und ihr eigener Ruf) zu sehr am Herzen. Aber offenbar kommen sie bei nicht-europäischer Musik gar nicht darauf, vor ihrem Anruf selber ein wenig zu recherchieren, ob es denn z.B. in Indien überhaupt Orchester gibt – und welche Musik diese spielen. Sie gehen schlicht davon aus, dass es westlich geprägte Musik überall gebe – und, wenn sie mit sich ehrlich sind, nehmen sie auch an, dass sie von diesen indischen Orchesterkomponist*innen nur deshalb noch nie gehört haben, weil diese dann doch letztlich von nachrangiger Bedeutung seien. Das Indien-Projekt wird zum Quotenprojekt, nicht zum genuin künstlerischen Anliegen.
All das passiert, davon bin ich überzeugt, nicht aus bösem Willen. Es deutet eher auf eine unbewusste Haltung hin, die selbst jene meist liberalen und nachdenklichen Menschen, die beruflich mit klassischer Musik umgehen, an sich selbst nur schwer wahrnehmen können, weil ihre ganze Umgebung in diesen Annahmen schwebt. Was sind diese Annahmen?
Im Oktober 2019 hielt ich einen Gastvortrag auf einem Kongress deutscher Musiktheoretiker*innen in Zürich. »Musiktheorie« heißt das Fach ganz umfassend, es handelt also, grammatikalisch gesehen, ganz allgemein von DER Theorie ALLER Musik. Eine Teilnehmerin konstatierte allerdings nach Durchsicht des Tagungsprogramms trocken, dass die deutsche Musiktheorie sich wohl auch im 21. Jahrhundert nahezu ausschließlich mit der Musik befasse, die über die letzten 1000 Jahre in Europa entstanden sei, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Zeit von 1700 bis 1950.
Nun heißt das Fach zwar nicht, geographisch und historisch eingegrenzt, »Theorien zur europäischen Musik im zweiten Jahrtausend des gregorianischen Kalenders«. Vielleicht aber teilen die deutschen Musiktheoretiker*innen insgeheim eine weitverbreitete Auffassung, dass die europäisch-westliche Musik schlicht die am weitesten entwickelte Musik sei – man befasst sich eben mit dem fortgeschrittensten Modell der Musik. Alle anderen Arten, Musik zu machen, empfindet man dann als verblühte Zweige am Baum der musikalischen Evolution. Die renommierte Musikhistorikerin Cristina Urchueguía karikierte diese Haltung in ihrem Keynote-Vortrag so:
»1) Einige Kulturen haben an dieser Entwicklung aktiv mitgewirkt. Es sind die fortgeschrittenen Kulturen. (Glückwunsch!)
2) Andere Kulturen haben nicht teilgenommen, es sind die primitiven Kulturen. (Pech!)
3) Wieder andere haben irgendwann den Anschluss verpasst und sind zurückgeblieben. (Selber schuld!)
4) Viele Kulturen haben irgendwann die Superiorität [der europäischen Musiktradition] erkannt und haben diese angenommen. (Geht doch!)«1
Die sogenannte »ernste« Musik europäischer Machart wird von vielen, die über sie nachdenken, als das historische Endergebnis eines wachen, aufgeklärten, universellen Musikforschens empfunden, neben dem alle anderen Arten des Musikmachens nur als ehrlich bemühte, aber letztlich unreife Versuche erscheinen können.2 Im Grunde geht man dabei unbewusst von einer Parallele zwischen Technologie und Musik aus: So wie die avancierte Technologie der westlichen Welt alle anderen Technologien in sich aufgenommen habe, und alle lokalen Technologien nur primitive Vorformen dieses der Menschheit zur Verfügung stehenden Wissens sein können, so gebe es auch in der Musik eine breite Straße in die Zukunft, nämlich die der westlichen Musik, im Verhältnis zu der alle anderen Musikformen manchmal reizende, aber eigentlich Vorformen und Seitenpfade seien. Doch irgendwann, so hofft man für diese armen Seelen, wird auch ihnen Haydns »Licht« am Beginn seiner »Schöpfung« aufgehen – oder gar jenes wochentägige Licht Karlheinz Stockhausens.
Möglicherweise möchten viele noch nicht einmal das: In mir kommt ab und zu der Verdacht auf, dass insbesondere die sogenannte »ernste« Musikszene Europas und Nordamerikas von ihren Liebhaber*innen als eine Art Heimatwerk, als eine Schutzzone gegen die ansonsten überall – in den Bildenden Künsten, im Kino, in den Theatern – ausufernde kulturelle Globalisierung empfunden wird: Das Symphonie- und besonders das Kammermusikkonzert abendländischer Prägung ist für sie einer der letzten Orte, wo man noch kulturell ungestört, quasi »unter sich« sein kann.
Gegen derlei musikalische Heimeligkeit würden sich Anhänger*innen der sogenannten Neuen Musik natürlich vehement wehren. Offenheit für das Unbequeme, Aufbruch ins Unvertraute gehören zu ihrem Motto. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – durchwebt eine kulturevolutionistische Heilserzählung auch den Diskurs der sogenannten »Neuen Musik« seit den 1920er Jahren: Man gehe der Musik der gesamten Menschheit voran, sei Avantgarde nicht nur für die Bildungsbürger der Städte des Westens, sondern für die gesamte Weltmusikgeschichte. Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) wurde vor hundert Jahren gegründet, um in der ganzen Welt jene Musik zu verbreiten und zu fördern, die sich an dem Vorbild der europäisch-amerikanischen Avantgarde orientiert. Diese Kampagne war durchaus erfolgreich – in vielen Nationen gibt es inzwischen Landesverbände der IGNM (oder ISCM, wie sie auf Englisch heißt). Beim alljährlich über den Globus ziehenden Festival dieser Gesellschaft hört man Werke von Komponist*innen, deren Namen aus allen möglichen Kulturen stammen – und die alle, mit kleinen lokalen Varianten, im Duktus der sogenannten »Neuen Musik« schreiben.
Diese frohe Botschaft der Neuen Musik treibt allerdings manchmal kuriose Blüten. Ich habe bislang von allen im Westen studierten Komponierenden aus Asien, Afrika und Lateinamerika eine ähnliche Geschichte gehört: Sie kamen überhaupt nur durch die Aufnahmeprüfung in die Klasse, weil sie die eurologische Tradition perfekt gelernt hatten. Sehr bald nach ihren ersten Stunden forderten die Lehrenden sie aber unmissverständlich auf, sich doch auch dringend mit der traditionellen Musik „ihrer“ Kultur zu befassen. Es wurde ihnen damit zu verstehen gegeben, dass ohne diese »authentische« Farbe ihre »eurologische« Musik wie ein Imitat wirken könnte. Irgendwie scheint diesen Lehrenden das Komponieren für Geigen und Trompeten dann doch im Kern eine Sache für Leute mit weisser Haut und europäisch klingenden Namen zu sein. Derlei Alltagsrassismus ist an Musikhochschulen und im Musikbetrieb gang und gäbe – er nimmt sogar mit wachsendem Bewusstsein für koloniale Unterdrückung zu. Auch hier ist Halbwissen fast gefährlicher als Unwissen.
Von Offenheit für Unbequemes und dem Aufbruch ins Unvertraute ist da wenig zu spüren. Vielmehr scheint es darum zu gehen, dass die ganze Welt den Abendländer*innen zurückspiegeln soll, wie revolutionär Europa im vergangenen Jahrhundert gewesen sei, und wie man die Errungenschaften der europäischen Komponisten-Ahnengalerie nun quasi in der Diaspora fortführe. Ein anderes Beispiel für kulturelle Heimeligkeit also, diesmal auf globaler Bühne.
Derartige Musik weiterhin nur »eurozentrisch« oder »westlich« zu nennen, wäre also zumindest geographisch irreführend. Seit einigen Jahren verwende ich daher den Begriff »eurologisch« für alle Musikformen, die sich, wie z.B. die Neue Musik der ISCM, bewusst auf die kulturelle Logik Europas stützen. Die Omnipräsenz einstmals in Europa entwickelter Musizierpraktiken hat viele in der Szene der eurologischen zeitgenössischen und klassischen Musik dazu verleitet, ihre eigene Musikpraxis als das Maß aller Dinge zu empfinden. Und ihre flächendeckende geographische Ausbreitung erklärt man sich folgerichtig durch die transkulturelle Überzeugungskraft, die überragende Qualität dieses Musizierens.
Irgendwie ist es fast liebenswürdig, dass die Freund*innen der klassischen eurologischen Musik sich die Welt so idealistisch denken. In der Linguistik gibt es allerdings eine bekannte zynische Definition dessen, was eine Sprache sei: »Eine Sprache ist ein Dialekt – mit einer Armee.« Die Tatsache, dass die eurologische Musiksprache von vielen als die musikalische lingua franca der Welt angesehen wird, hat nicht nur beiläufig, sondern in der Tat gehörig mit der europäischen Kolonialgeschichte zu tun.
Im Jahre 1905 bat zum Beispiel der in Sachen nicht-europäischer Musiktraditionen neugierig gewordene Claude Debussy einen befreundeten Musikkenner, ihm doch über die sagenhaft schöne Musik der Südseevölker zu erzählen, in deren Meer er in den kommenden Jahren als französischer Marine- und Kolonialoffizier kreuzen würde. Bald darauf erhielt Debussy einen umfangreichen Essay, dessen Titel eigentlich schon alles sagt: »Voix mortes – Tote Stimmen«. Darin beschrieb der später als Theoretiker des Exotismus berühmt gewordene Victor Segalen, wie die indigene Musik der Maori und Polynesier am Beginn des 20. Jahrhunderts schon fast nicht mehr vorhanden zu sein schien, weil christliche Missionare, tatkräftig von der französischen Armee unterstützt, ihren Kirchengesang gegen die traditionellen Gesänge durchgesetzt hatten. Segalen entdeckte mit großer Trauer nur noch an vereinzelten Intonationen, merkwürdigen Wendungen, an einer gewissen Rauheit der Stimme, dass diese Kehlen ursprünglich wohl andere Lieder zu singen gewohnt gewesen waren. Sein Bericht an Debussy liest sich deprimierend – wenn auch das allmähliche Wiederaufleben einiger polynesischer Musiken nach 1945 darauf hindeuten könnte, dass die Maori ihre eigenen Gesänge im Verborgenen sehr wohl weiter pflegten.
Viele indigene Musiken wurden allerdings in den – vielerorts noch kaum vergangenen – Jahrhunderten europäischer Kolonisation durch derartig gewaltbewehrte kulturmissionarische Prozesse (oder durch brutale Massenmorde) tatsächlich für immer ausgelöscht, besonders in den beiden Amerikas. Nicht umsonst war in der Ethnologie lange Zeit eine zentrale Aufgabe die »salvage«, die Sicherstellung: In einem Rennen gegen die Zeit versuchten Ethnolog*innen, die kulturellen Artefakte und Phänomene der Welt so gut es ging zu dokumentieren, bevor sie von der eurologischen Raubkultur erfasst und verdaut wurden – und diese Traditionen der vorkapitalistischen Welt so vor dem Vergessen zu bewahren. Auch die mit Wachswalzen und Tonbandgeräten ins Feld ziehende Musikethnologie des 20. Jahrhunderts war hier gefordert – und mittlerweile schlummern in vielen universitären und musealen Klangarchiven wundervolle Musiken, die kein Mensch mehr zu singen oder spielen vermag. Manchmal erwachen sie dennoch wieder: Der kanadische Tenor Jeremy Dutcher, ein Angehöriger des Wolastoq-Volkes, fand vor einigen Jahren im Klangarchiv des Museums der Zivilisationen in Ottawa musikethnologische Aufnahmen seines Volkes mit Liedern, an die sich die Ältesten wieder freudig erinnerten, als sie sie hörten, die sie aber selber nicht mehr hätten singen können. Das tat er nun für sie: Es war sehr bewegend, ihn bei diesem Prozess der Aneignung fast verlorener Stimmen hautnah mitzuerleben.
Bei diesem Beispiel sieht man übrigens verblüffende Parallelen zu der in der Welt der Museen stattfindenden Debatte um die Restitution von sogenannter »Raubkunst«. Und auch hier trifft man oft auf defensive Argumente: Will man die heutigen, an dieser Geschichte unschuldigen Musiker*innen und Hörer*innen etwa für die Schandtaten längst begrabener Kolonialpolitiker, multinationaler Corporates und auch der anderen Künste büßen lassen – und ihre geliebte klassische Musik verfemen? Schließlich seien Beispiele für wirkliche Gewaltkontexte in der Geschichte von musikalischer Migration eher selten. So gebe es mangels Materialität des Mediums auch keine Parallele zur Raubkunst, also keine »Raubmusik«.
So sicher ist das nicht. Zum einen löschen wirtschaftliche Globalisierungsprozesse auch heute noch durchaus Musiken aus – und wenn diese kurz vorher noch von Ethnolog*innen aufgezeichnet wurde und woanders weiterlebt, könnte man ein solches Klangarchiv durchaus als »Raubmusik« bezeichnen, die eventuell den Nachkommen der Beraubten zurückgegeben werden müsse. Die Tatsache, dass Musik kein Objekt ist, würde eine solche Rückgabe erleichtern – auch wenn dies, eben weil sie immaterielles Erbe ist, immer noch ein immens komplizierter Vorgang wäre. Man kann ebenfalls von »Raubmusik« sprechen, zum Beispiel wenn, wie so oft in Festivals Neuer Musik zu beobachten, ein*e Komponist*in nach einer relativ kurzen Beschäftigung mit einer anderen Musiktradition ihre/seine danach nur oberflächlich veränderte eurologische Musik als interkulturell o.ä. deklariert – wenn man also aber den politisch/ästhetischen Mehrwert einer anderen Musik vor allem für die eigene Karriere nutzt. Dies betrifft oft auch Komponiste*innen mit nicht-»westlichen« Namen, die von den Marktmechanismen der Neuen Musik zur Selbst-Exotisierung gezwungen sind.3 Oder wenn eine Melodie aus einem nicht-westlichen Herkunftskontext plagiiert wird, ohne dies kenntlich zu machen, und die Tantiemen/Honorare auf das Konto der »Musikräuber*innen« fließen. Die Musikpraxis, ihre Lebensrealität, das, was der philippinische Musikwissenschaftler meLê yamomo als den »sonus« der Musik bezeichnet, kann natürlich nicht im wortwörtlichen Sinne geraubt werden – aber man raubt ohne Fragen und Erlaubnis, meist sogar ohne Wissen der Herkunftskulturen das, was den Wert dieser Musik ausmacht.
Wenn also viele Musiktraditionen der Welt heute im Vergleich zur westlichen klassischen Tradition selbst in ihren Heimatländern schwach aufgestellt und marginal zu sein scheinen, so liegt das eben auch daran, dass diese Musiken sich nicht auf machtvolle politische, militärische und wirtschaftliche Strukturen stützen konnten. In vielen Ländern rund um den Globus müssen Regierungen, die ihre einheimischen Musiktraditionen erhalten wollen, dies in einer bewusst konservatorischen Geste tun, als einen Akt des institutionalisierten kulturellen Widerstands gegen den immer neue Märkte erobern wollenden Angriff westlicher klassischer Musik.
Geraubte Musik?
Sandeep Bhagwati fordert in@vanmusik #outernational Tantiemen und Rückgabe.
Denn selbst ihre eigenen Eliten sehen diese Musik eindeutig als Schauzeichen wirtschaftlichen Erfolges: Wer sich ein Orchester, gar ein Opernhaus leisten kann, zeigt sowohl wirtschaftliche wie kulturelle Potenz. Damit wiederholen die wirtschaftlich und machtpolitisch aufstrebenden Staaten Asiens (und auch einige in Afrika) denselben Gestus sozialen Aufstiegs, mit dem einst im 19. Jahrhundert die Bürger*innen Europas und Nordamerikas die »klassische« Musik von den Fürstenhöfen und Landsitzen in die Konzertsäle und philharmonischen Vereinigungen im Herzen ihrer Städte holten: Wer im Begriff ist, zur Macht aufzusteigen, leiht sich kulturelles Prestige von der Kunst der dekadenten Vorgänger*innen. Nicht umsonst ist der Begriff »klassisch« Anfang des 19. Jahrhunderts bewusst von den reichsten und damit in Geschmacksfragen vorbildlichen Bürger*innen im antiken Rom, den classici, abgeleitet worden. Als »klassisch« verstanden einige Kritiker*innen um 1830 jene Musik, die ihnen im Rückblick – Haydn, Mozart und Beethoven waren schon tot – als mustergültig für alle anderen erschien.
Nur Indien ist diesen kulturellen Ausdrucksformen wirtschaftlichen Wettbewerbs bislang glücklich entkommen. Es ist das einzige asiatische Land, in dem die anspruchsvolle einheimische Musikkultur in jeder Hinsicht, vor allem in den Ohren ihrer Bildungsbürger*innen, weit vor der westlichen Klassik rangiert. Insofern müssen wir mit den anfangs so gescholtenen Orchesterdirektor*innen etwas Nachsicht üben: Wie hätten sie ahnen können, dass ausgerechnet das in der Welt derart aufsteigende Indien von allen Ländern Asiens die ihnen so natürlich erscheinenden eurologischen Institutionen und Traditionen überhaupt nicht pflegt – und deren Abwesenheit auch nicht als ein Manko empfindet, das man schon aus Statusgründen unbedingt beheben möchte, sobald man es sich finanziell leisten kann?
Man könnte noch viele Beispiele anführen, der Sachverhalt aber ist klar: Die globalen Ungleichheiten der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Sphäre machen auch um die Musik keinen Bogen. Im Gegenteil, sie sind im Grundkonsens der verschiedenen eurologischen Musikszenen so tief verankert, dass man ihnen als Akteur*in in diesen nicht ausweichen kann. Eurologisch-afroamerikanische Musik hat sich im Zuge der militärisch-wirtschaftlichen Dominanz des »Westens« ein selbstverständliches Privileg auf Aufmerksamkeit, Präsenz und Wertschätzung in Konzert, Medien und Wissenschaft gesichert, das andere Musikkulturen und -traditionen in die Ungehörtheit drängt.
Wie kann dann das Musizieren in der globalen Gesellschaft sich mit den vielfältigen Formen der Ungleichheit sozial, infrastrukturell wie ästhetisch auseinandersetzen? Kann es Dissonanzen und deren Auflösungen aufzeigen? Kann Musizieren eventuell sogar zum Besseren beitragen?
Wenn man das will: Was müsste sich dann in der »westlichen« Vorstellung dessen, was Musik und Klangkunst sind und zu welchem Ende man sie betreibt, dringend ändern? Wie können Musikmachen, Musikorganisation und Musikerfahrung sich diesen Ungleichheiten offen stellen und mit ihnen in einen menschlich erträglichen, gesellschaftlich produktiven und ästhetisch bereichernden Prozess der Erweiterung des Musizierens eintreten?
Dazu müsste man sich erstmal darüber verständigen, was die Vorstellung einer Weltmusik oder des Weltmusizierens überhaupt bedeutet. Gegenwärtig kursieren in der europäisch-nordamerikanischen Musikwelt zwei verschiedene, aber komplementäre Modelle dessen, was Musizieren in der globalen Gesellschaft sei.
Erstens: Die Weltsprache Musik. Die Fiktion, dass es nur Musik in der Einzahl gebe, dass Musik die einzige wirkliche Weltsprache sei – das ist im Kern die oben en detail ausgeführte kulturdarwinistisch-kolonialistische Perspektive. Diese verleitet viele Veranstalter*innen und Zuhörer*innen, Konzerte mit Mitwirkenden aus verschiedenen Kulturen, die alle gemeinsam Brahms spielen, genauso als Ausdruck eines globalen Bewusstseins zu empfinden wie Festivals Neuer Musik, in denen Komponist*innen mit indischen, arabischen, chinesischen etc. Namen und Herkunftsgeschichten Werke für Streichquartett, Orchester, Elektronik etc. schreiben.
Kolonialismus und Musik in der globalen Welt:
Sandeep Bhagwati holt in@vanmusik #outernational aus.
Auch an den deutschen Unis unterscheidet man, mit wenigen Ausnahmen, noch immer fein zwischen »historischer Musikwissenschaft / Musiktheorie«, die vorwiegend an eurologischer Musik interessiert ist, aber ein durchaus universelles Selbstbild hat, und »Musikethnologie / systematischer Musikwissenschaft«, die zuständig sein sollen für alle anderen, »lokal begrenzten« Musikformen. Der relativ neue Trend, dass die Ethnologie auch die heiligen Bezirke der klassischen und neuen Musik beforscht, ist für die Szene beunruhigend und wird misstrauisch beäugt – man selber könne doch kein Gegenstand der Musikethnologie sein, die sei doch für die »Anderen« da. Und diese gehören ja eben nicht zur »Weltsprache Musik«, sondern in die…
World Music (Weltmusik): Dieser Marketingbegriff wurde Anfang der 1980er Jahre von einem Konsortium kommerzieller Plattenlabel erfunden.4 Er sollte im Plattenladen alle eurologische Musik mit deutlich wahrnehmbaren dominanten nicht-eurologischen Anteilen kennzeichnen. Oft waren diese Musiken auch das Resultat strategisch gecasteter Zusammenkünfte zwischen Musiker*innen verschiedener Musiktraditionen. Der Logik des Marketings folgend, wurden bald auch alle traditionellen Musikformen unter dem Label »Weltmusik« vermarktet. Weltmusik, so wie sie hier betrieben wird, bedient elegant Schuldgefühle des »westlichen« meist bildungsbürgerlichen Publikums, die sich in einer Abkehr sowohl von der als elitär empfundenen bürgerlichen Kunstmusik als auch der allgegenwärtigen Kommerzmusik ausleben. Und da im bildungsbürgerlichen Kunstverständnis Marktorientierung und künstlerische Relevanz als irgendwie antipodisch empfunden werden, festigte diese Strategie der Labels das wissenschaftlich-bürgerliche Vorurteil, daß auch alle Kunst-Musiken außerhalb der »klassischen europäischen« nachrangige Ausdrucksformen seien.
Wohl eher unabsichtlich demokratisierten und speisten die Vertriebswege der »Weltmusik« damit aber auch das mit kolonialem Vokabular unterfütterte Expansionsstreben vieler Komponist*innen und Musiker*innen, die von ihrem Probenraum aus in bislang unerhörtes Terrain vordringen und mit Hilfe »abenteuerlicher, unerhörter« Klänge und Klangordnungen musikalisches Neuland »entdecken«, »erobern«, »besetzen« wollten.
Besonders dafür sei die Diversität des Musizierens in der Welt erhaltenswert: wichtig vor allem als musikökologische Ressource für die fortwährende Ausdifferenzierung der eurologischen Musik. Eine ernsthafte, regelmäßige und dauerhafte musikalisch-ästhetische Beschäftigung mit ihren Formen, zum Beispiel an Schulen und Musikuniversitäten, sei zu komplex, d.h. lohne den Aufwand nicht. Man lernt ja auch nicht Türkisch, nur weil man mal einen Döner essen will.
Gerade gutwillige, an der Musik »der Anderen« durchaus interessierte Akteur*innen des Musikbetriebes reagieren auf derlei Vorhaltungen defensiv: Es seien doch seit Jahrhunderten viele europäische Intellektuelle und Künstler*innen, von unstillbarem Fernweh erfasst, tief eingetaucht in diese anderen Kulturen – und hätten beim Auftauchen ewig gültige kulturelle Schätze gehoben: vom I Ching zum Rigveda, vom Haiku bis zu den Liedern von Rumi und Hafiz. Das ist richtig. Nur war keiner dieser Schätze – Musik. Aber dann heute: Seit den Beatles hätten doch gerade in der Musikszene Deutschlands indische, afrikanische, arabische traditionelle und Kunst-Musik geradezu einen Ehrenplatz und fänden viele deutsche Anhänger*innen. Das stimmt. Allerdings sind deren Konzerte und Festivals fast immer punktuelle und prekäre Initiativen der freien Szene oder der jeweiligen Diaspora, oder sie finden im musealen oder akademischen Kontext – also quasi »außer musikalischer Konkurrenz« – statt. Dagegen sind alle ganzjährig durchfinanzierten und erlauchten deutschen Musikinstitutionen, Musikhochschulen, Musiksender, Musikpublikationen mit überwältigender Gewichtung der Ausbildung zur, der Präsentation von und dem Durchhören der eurologischen Musik verschrieben.
Man müsste also die Institutionen ändern, oder die Institutionen müssten sich selbst auf ihre eigenen kolonialen Haltungen prüfen. Doch da stellt sich sehr schnell die Frage: Gibt es denn Alternativen zu diesen beiden auf verschiedene Weise kolonialistisch-geprägten Modellen? Wie sähe denn ein Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem aus?
Passagen dieses Artikels wurden im Auftrag des Goethe Instituts erstellt.
1 Aus: Cristina Urchueguía, Kartöffelchen am Stiel oder semiotisches U-Boot? Die Note, diese bekannte Unbekannte. Keynote am: XIX. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie, Zürich 4.10.2019
2 Vgl. zu diesem Thema den grandiosen Aufsatz Globale Horizonte europäischer Kunstmusik 1860-1930 des Historikers Jürgen Osterhammel, erschienen 2012 in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, 38. Jahrg., Heft 1, Seiten 86–132.
3 Eine schöne Fallstudie hier ist Yara El-Ghadbans Text Facing the music: Rituals of belonging and recognition in Western art music, in: American Ethnologist Vol.36 no. 1 pp. 140-160 (2009) ISSN 1548-1425
4 Siehe dazu: Simon Frith, The Discourse of World Music in: Born, Hesmondhalgh (Hg.) Western Music and its Others, UC Press Berkeley 2000, S.305-322 und Glaucia Peres da Silva’s Buch Wie klingt die globale Ordnung? Die Entstehung eines Marktes für World Music Wiesbaden 2016
Text Sandeep Bhagwati
Titelbild Paul Gauguin (bearbeitet)
Ab und zu passiert es mir, dass mein Telefon läutet und ein*e Programmdirektor*in einer deutschen Kulturinstitution oder eines deutschen Orchesters mir erklärt, sie hätten vor, demnächst ein Indien-Konzert oder -Projekt zu machen, Indien sei wirtschaftlich wichtig geworden, und ob ich ein paar Ideen für indische Orchesterwerke hätte. Man habe schon was von Massenet und Holst oder Roussel gefunden, dabei sei auch eine junge deutsche Komponistin, die kürzlich ein paar Wochen in Indien verbracht habe. Ein davon inspiriertes Werk sei im Entstehen – aber man habe eben noch nichts authentisch Indisches. Geld sei knapp, man könne keine indischen Musiker*innen einfliegen. Aber man wolle doch ein bitte kurzes Werk eines authentisch indischen Komponisten aufführen, ob ich ihnen Namen und Werke nennen könnte.
Das klingt doch nach einem ganz ehrenwerten Anruf, oder? Warum reagiere ich dann auf derlei Anfragen inzwischen nur noch genervt? Nun, es ist oft sehr schnell klar, dass die Anrufer*innen sich bei mir nur wegen meines indischen Namens gemeldet haben. Keiner dieser Manager*innen würde sich bei mir melden, wenn nicht meine Mutter, sondern mein Vater der deutsche Elternteil gewesen wäre, und ich als Komponist z. B. Michael Stauffer hieße. Außerdem: Ich bin zwar in Indien geboren, lebe aber seit meinem 5. Lebensjahr in Deutschland, bin hier zur Schule gegangen und habe in Salzburg und München Dirigieren und Komposition studiert: nicht der typische Werdegang eines Experten für indische Musik.
Viel wichtiger aber: Ich kann schon deshalb kein Experte für Orchestermusik aus Indien sein, weil es solche Expert*innen prinzipiell nicht geben kann. Indien hat sein eigenes klassisches Musiksystem, das keine Orchesterkultur kennt. Im indischen Musikleben ist europäisch geprägte klassische Musik so marginal präsent wie balinesische Musik in Deutschland. Die wenigen Komponist*innen mit indischem Namen, die Orchesterwerke geschrieben haben, haben sie im und für den westlichen Musikbetrieb geschrieben. Diese Komponist*innen aber - und zu diesen zähle auch ich - fallen wiederum meist nicht unter den Begriff des »authentischen Inders«, wie immer man den definieren will: ob nach Blutlinie, Wohnort oder nach der Musik, in der man ausgebildet wurde. Für Leute wie mich, die in mehreren kulturellen Kontexten leben, hat eine derartige Betonung des Authentischen überdies einen unangenehmen, wenn nicht gar bedrohlichen Beigeschmack: im wohlmeinenden Fall signalisiert sie Unwissen darüber, was für changierende Flickenteppiche alle Kulturen sind – und allzu oft ist sie ein deutliches Anzeichen für rechtslastige Gesinnung.
Schließlich ist das vorsorgliche Erwähnen knapper Budgets eine diskriminierende Verhandlungsstrategie, die gerade in interkulturellen Projekten wie diesem auffallend oft zur Anwendung kommt. Ein Programmdirektor eines Berliner Konzertsaals wollte vor ein paar Jahren eine Reihe mit Starmusiker*innen der klassischen arabischen Musik einrichten, beschwerte sich aber dann privat, dass diese so unmäßig viel Honorar verlangten – das sei ja mitunter fast soviel, wie ein westlicher Klassikstar bekäme! Immerhin dürften sie doch in seinem tollen Saal spielen! In Berlin! Wie undankbar… Wahrscheinlich hatte er noch nie von den grosszügigen Honoraren gehört, die diese Meister ihrer Tradition in den Golfstaaten erhalten können.
Man stelle sich nun vor, jemand leistete sich eine ähnlich offenherzig zur Schau getragene Unkenntnis der betreffenden Musiktradition und eine derart herablassende Kommunikation gegenüber Expert*innen, die für ein Mendelssohn-, Russland- oder Stockhausen-Konzert angefragt werden. Nein, das wollen wir uns nicht vorstellen. Dazu sind unsere Klassikmanager*innen zu engagiert und gebildet, dazu liegt ihnen diese Musik (und ihr eigener Ruf) zu sehr am Herzen. Aber offenbar kommen sie bei nicht-europäischer Musik gar nicht darauf, vor ihrem Anruf selber ein wenig zu recherchieren, ob es denn z.B. in Indien überhaupt Orchester gibt – und welche Musik diese spielen. Sie gehen schlicht davon aus, dass es westlich geprägte Musik überall gebe – und, wenn sie mit sich ehrlich sind, nehmen sie auch an, dass sie von diesen indischen Orchesterkomponist*innen nur deshalb noch nie gehört haben, weil diese dann doch letztlich von nachrangiger Bedeutung seien. Das Indien-Projekt wird zum Quotenprojekt, nicht zum genuin künstlerischen Anliegen.
All das passiert, davon bin ich überzeugt, nicht aus bösem Willen. Es deutet eher auf eine unbewusste Haltung hin, die selbst jene meist liberalen und nachdenklichen Menschen, die beruflich mit klassischer Musik umgehen, an sich selbst nur schwer wahrnehmen können, weil ihre ganze Umgebung in diesen Annahmen schwebt. Was sind diese Annahmen?
Im Oktober 2019 hielt ich einen Gastvortrag auf einem Kongress deutscher Musiktheoretiker*innen in Zürich. »Musiktheorie« heißt das Fach ganz umfassend, es handelt also, grammatikalisch gesehen, ganz allgemein von DER Theorie ALLER Musik. Eine Teilnehmerin konstatierte allerdings nach Durchsicht des Tagungsprogramms trocken, dass die deutsche Musiktheorie sich wohl auch im 21. Jahrhundert nahezu ausschließlich mit der Musik befasse, die über die letzten 1000 Jahre in Europa entstanden sei, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Zeit von 1700 bis 1950.
Nun heißt das Fach zwar nicht, geographisch und historisch eingegrenzt, »Theorien zur europäischen Musik im zweiten Jahrtausend des gregorianischen Kalenders«. Vielleicht aber teilen die deutschen Musiktheoretiker*innen insgeheim eine weitverbreitete Auffassung, dass die europäisch-westliche Musik schlicht die am weitesten entwickelte Musik sei – man befasst sich eben mit dem fortgeschrittensten Modell der Musik. Alle anderen Arten, Musik zu machen, empfindet man dann als verblühte Zweige am Baum der musikalischen Evolution. Die renommierte Musikhistorikerin Cristina Urchueguía karikierte diese Haltung in ihrem Keynote-Vortrag so:
»1) Einige Kulturen haben an dieser Entwicklung aktiv mitgewirkt. Es sind die fortgeschrittenen Kulturen. (Glückwunsch!)
2) Andere Kulturen haben nicht teilgenommen, es sind die primitiven Kulturen. (Pech!)
3) Wieder andere haben irgendwann den Anschluss verpasst und sind zurückgeblieben. (Selber schuld!)
4) Viele Kulturen haben irgendwann die Superiorität [der europäischen Musiktradition] erkannt und haben diese angenommen. (Geht doch!)«1
Die sogenannte »ernste« Musik europäischer Machart wird von vielen, die über sie nachdenken, als das historische Endergebnis eines wachen, aufgeklärten, universellen Musikforschens empfunden, neben dem alle anderen Arten des Musikmachens nur als ehrlich bemühte, aber letztlich unreife Versuche erscheinen können.2 Im Grunde geht man dabei unbewusst von einer Parallele zwischen Technologie und Musik aus: So wie die avancierte Technologie der westlichen Welt alle anderen Technologien in sich aufgenommen habe, und alle lokalen Technologien nur primitive Vorformen dieses der Menschheit zur Verfügung stehenden Wissens sein können, so gebe es auch in der Musik eine breite Straße in die Zukunft, nämlich die der westlichen Musik, im Verhältnis zu der alle anderen Musikformen manchmal reizende, aber eigentlich Vorformen und Seitenpfade seien. Doch irgendwann, so hofft man für diese armen Seelen, wird auch ihnen Haydns »Licht« am Beginn seiner »Schöpfung« aufgehen – oder gar jenes wochentägige Licht Karlheinz Stockhausens.
Möglicherweise möchten viele noch nicht einmal das: In mir kommt ab und zu der Verdacht auf, dass insbesondere die sogenannte »ernste« Musikszene Europas und Nordamerikas von ihren Liebhaber*innen als eine Art Heimatwerk, als eine Schutzzone gegen die ansonsten überall – in den Bildenden Künsten, im Kino, in den Theatern – ausufernde kulturelle Globalisierung empfunden wird: Das Symphonie- und besonders das Kammermusikkonzert abendländischer Prägung ist für sie einer der letzten Orte, wo man noch kulturell ungestört, quasi »unter sich« sein kann.
Gegen derlei musikalische Heimeligkeit würden sich Anhänger*innen der sogenannten Neuen Musik natürlich vehement wehren. Offenheit für das Unbequeme, Aufbruch ins Unvertraute gehören zu ihrem Motto. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – durchwebt eine kulturevolutionistische Heilserzählung auch den Diskurs der sogenannten »Neuen Musik« seit den 1920er Jahren: Man gehe der Musik der gesamten Menschheit voran, sei Avantgarde nicht nur für die Bildungsbürger der Städte des Westens, sondern für die gesamte Weltmusikgeschichte. Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) wurde vor hundert Jahren gegründet, um in der ganzen Welt jene Musik zu verbreiten und zu fördern, die sich an dem Vorbild der europäisch-amerikanischen Avantgarde orientiert. Diese Kampagne war durchaus erfolgreich – in vielen Nationen gibt es inzwischen Landesverbände der IGNM (oder ISCM, wie sie auf Englisch heißt). Beim alljährlich über den Globus ziehenden Festival dieser Gesellschaft hört man Werke von Komponist*innen, deren Namen aus allen möglichen Kulturen stammen – und die alle, mit kleinen lokalen Varianten, im Duktus der sogenannten »Neuen Musik« schreiben.
Diese frohe Botschaft der Neuen Musik treibt allerdings manchmal kuriose Blüten. Ich habe bislang von allen im Westen studierten Komponierenden aus Asien, Afrika und Lateinamerika eine ähnliche Geschichte gehört: Sie kamen überhaupt nur durch die Aufnahmeprüfung in die Klasse, weil sie die eurologische Tradition perfekt gelernt hatten. Sehr bald nach ihren ersten Stunden forderten die Lehrenden sie aber unmissverständlich auf, sich doch auch dringend mit der traditionellen Musik „ihrer“ Kultur zu befassen. Es wurde ihnen damit zu verstehen gegeben, dass ohne diese »authentische« Farbe ihre »eurologische« Musik wie ein Imitat wirken könnte. Irgendwie scheint diesen Lehrenden das Komponieren für Geigen und Trompeten dann doch im Kern eine Sache für Leute mit weisser Haut und europäisch klingenden Namen zu sein. Derlei Alltagsrassismus ist an Musikhochschulen und im Musikbetrieb gang und gäbe – er nimmt sogar mit wachsendem Bewusstsein für koloniale Unterdrückung zu. Auch hier ist Halbwissen fast gefährlicher als Unwissen.
Von Offenheit für Unbequemes und dem Aufbruch ins Unvertraute ist da wenig zu spüren. Vielmehr scheint es darum zu gehen, dass die ganze Welt den Abendländer*innen zurückspiegeln soll, wie revolutionär Europa im vergangenen Jahrhundert gewesen sei, und wie man die Errungenschaften der europäischen Komponisten-Ahnengalerie nun quasi in der Diaspora fortführe. Ein anderes Beispiel für kulturelle Heimeligkeit also, diesmal auf globaler Bühne.
Derartige Musik weiterhin nur »eurozentrisch« oder »westlich« zu nennen, wäre also zumindest geographisch irreführend. Seit einigen Jahren verwende ich daher den Begriff »eurologisch« für alle Musikformen, die sich, wie z.B. die Neue Musik der ISCM, bewusst auf die kulturelle Logik Europas stützen. Die Omnipräsenz einstmals in Europa entwickelter Musizierpraktiken hat viele in der Szene der eurologischen zeitgenössischen und klassischen Musik dazu verleitet, ihre eigene Musikpraxis als das Maß aller Dinge zu empfinden. Und ihre flächendeckende geographische Ausbreitung erklärt man sich folgerichtig durch die transkulturelle Überzeugungskraft, die überragende Qualität dieses Musizierens.
Irgendwie ist es fast liebenswürdig, dass die Freund*innen der klassischen eurologischen Musik sich die Welt so idealistisch denken. In der Linguistik gibt es allerdings eine bekannte zynische Definition dessen, was eine Sprache sei: »Eine Sprache ist ein Dialekt – mit einer Armee.« Die Tatsache, dass die eurologische Musiksprache von vielen als die musikalische lingua franca der Welt angesehen wird, hat nicht nur beiläufig, sondern in der Tat gehörig mit der europäischen Kolonialgeschichte zu tun.
Im Jahre 1905 bat zum Beispiel der in Sachen nicht-europäischer Musiktraditionen neugierig gewordene Claude Debussy einen befreundeten Musikkenner, ihm doch über die sagenhaft schöne Musik der Südseevölker zu erzählen, in deren Meer er in den kommenden Jahren als französischer Marine- und Kolonialoffizier kreuzen würde. Bald darauf erhielt Debussy einen umfangreichen Essay, dessen Titel eigentlich schon alles sagt: »Voix mortes – Tote Stimmen«. Darin beschrieb der später als Theoretiker des Exotismus berühmt gewordene Victor Segalen, wie die indigene Musik der Maori und Polynesier am Beginn des 20. Jahrhunderts schon fast nicht mehr vorhanden zu sein schien, weil christliche Missionare, tatkräftig von der französischen Armee unterstützt, ihren Kirchengesang gegen die traditionellen Gesänge durchgesetzt hatten. Segalen entdeckte mit großer Trauer nur noch an vereinzelten Intonationen, merkwürdigen Wendungen, an einer gewissen Rauheit der Stimme, dass diese Kehlen ursprünglich wohl andere Lieder zu singen gewohnt gewesen waren. Sein Bericht an Debussy liest sich deprimierend – wenn auch das allmähliche Wiederaufleben einiger polynesischer Musiken nach 1945 darauf hindeuten könnte, dass die Maori ihre eigenen Gesänge im Verborgenen sehr wohl weiter pflegten.
Viele indigene Musiken wurden allerdings in den – vielerorts noch kaum vergangenen – Jahrhunderten europäischer Kolonisation durch derartig gewaltbewehrte kulturmissionarische Prozesse (oder durch brutale Massenmorde) tatsächlich für immer ausgelöscht, besonders in den beiden Amerikas. Nicht umsonst war in der Ethnologie lange Zeit eine zentrale Aufgabe die »salvage«, die Sicherstellung: In einem Rennen gegen die Zeit versuchten Ethnolog*innen, die kulturellen Artefakte und Phänomene der Welt so gut es ging zu dokumentieren, bevor sie von der eurologischen Raubkultur erfasst und verdaut wurden – und diese Traditionen der vorkapitalistischen Welt so vor dem Vergessen zu bewahren. Auch die mit Wachswalzen und Tonbandgeräten ins Feld ziehende Musikethnologie des 20. Jahrhunderts war hier gefordert – und mittlerweile schlummern in vielen universitären und musealen Klangarchiven wundervolle Musiken, die kein Mensch mehr zu singen oder spielen vermag. Manchmal erwachen sie dennoch wieder: Der kanadische Tenor Jeremy Dutcher, ein Angehöriger des Wolastoq-Volkes, fand vor einigen Jahren im Klangarchiv des Museums der Zivilisationen in Ottawa musikethnologische Aufnahmen seines Volkes mit Liedern, an die sich die Ältesten wieder freudig erinnerten, als sie sie hörten, die sie aber selber nicht mehr hätten singen können. Das tat er nun für sie: Es war sehr bewegend, ihn bei diesem Prozess der Aneignung fast verlorener Stimmen hautnah mitzuerleben.
Bei diesem Beispiel sieht man übrigens verblüffende Parallelen zu der in der Welt der Museen stattfindenden Debatte um die Restitution von sogenannter »Raubkunst«. Und auch hier trifft man oft auf defensive Argumente: Will man die heutigen, an dieser Geschichte unschuldigen Musiker*innen und Hörer*innen etwa für die Schandtaten längst begrabener Kolonialpolitiker, multinationaler Corporates und auch der anderen Künste büßen lassen – und ihre geliebte klassische Musik verfemen? Schließlich seien Beispiele für wirkliche Gewaltkontexte in der Geschichte von musikalischer Migration eher selten. So gebe es mangels Materialität des Mediums auch keine Parallele zur Raubkunst, also keine »Raubmusik«.
So sicher ist das nicht. Zum einen löschen wirtschaftliche Globalisierungsprozesse auch heute noch durchaus Musiken aus – und wenn diese kurz vorher noch von Ethnolog*innen aufgezeichnet wurde und woanders weiterlebt, könnte man ein solches Klangarchiv durchaus als »Raubmusik« bezeichnen, die eventuell den Nachkommen der Beraubten zurückgegeben werden müsse. Die Tatsache, dass Musik kein Objekt ist, würde eine solche Rückgabe erleichtern – auch wenn dies, eben weil sie immaterielles Erbe ist, immer noch ein immens komplizierter Vorgang wäre. Man kann ebenfalls von »Raubmusik« sprechen, zum Beispiel wenn, wie so oft in Festivals Neuer Musik zu beobachten, ein*e Komponist*in nach einer relativ kurzen Beschäftigung mit einer anderen Musiktradition ihre/seine danach nur oberflächlich veränderte eurologische Musik als interkulturell o.ä. deklariert – wenn man also aber den politisch/ästhetischen Mehrwert einer anderen Musik vor allem für die eigene Karriere nutzt. Dies betrifft oft auch Komponiste*innen mit nicht-»westlichen« Namen, die von den Marktmechanismen der Neuen Musik zur Selbst-Exotisierung gezwungen sind.3 Oder wenn eine Melodie aus einem nicht-westlichen Herkunftskontext plagiiert wird, ohne dies kenntlich zu machen, und die Tantiemen/Honorare auf das Konto der »Musikräuber*innen« fließen. Die Musikpraxis, ihre Lebensrealität, das, was der philippinische Musikwissenschaftler meLê yamomo als den »sonus« der Musik bezeichnet, kann natürlich nicht im wortwörtlichen Sinne geraubt werden – aber man raubt ohne Fragen und Erlaubnis, meist sogar ohne Wissen der Herkunftskulturen das, was den Wert dieser Musik ausmacht.
Wenn also viele Musiktraditionen der Welt heute im Vergleich zur westlichen klassischen Tradition selbst in ihren Heimatländern schwach aufgestellt und marginal zu sein scheinen, so liegt das eben auch daran, dass diese Musiken sich nicht auf machtvolle politische, militärische und wirtschaftliche Strukturen stützen konnten. In vielen Ländern rund um den Globus müssen Regierungen, die ihre einheimischen Musiktraditionen erhalten wollen, dies in einer bewusst konservatorischen Geste tun, als einen Akt des institutionalisierten kulturellen Widerstands gegen den immer neue Märkte erobern wollenden Angriff westlicher klassischer Musik.
Geraubte Musik?
Sandeep Bhagwati fordert in@vanmusik #outernational Tantiemen und Rückgabe.
Denn selbst ihre eigenen Eliten sehen diese Musik eindeutig als Schauzeichen wirtschaftlichen Erfolges: Wer sich ein Orchester, gar ein Opernhaus leisten kann, zeigt sowohl wirtschaftliche wie kulturelle Potenz. Damit wiederholen die wirtschaftlich und machtpolitisch aufstrebenden Staaten Asiens (und auch einige in Afrika) denselben Gestus sozialen Aufstiegs, mit dem einst im 19. Jahrhundert die Bürger*innen Europas und Nordamerikas die »klassische« Musik von den Fürstenhöfen und Landsitzen in die Konzertsäle und philharmonischen Vereinigungen im Herzen ihrer Städte holten: Wer im Begriff ist, zur Macht aufzusteigen, leiht sich kulturelles Prestige von der Kunst der dekadenten Vorgänger*innen. Nicht umsonst ist der Begriff »klassisch« Anfang des 19. Jahrhunderts bewusst von den reichsten und damit in Geschmacksfragen vorbildlichen Bürger*innen im antiken Rom, den classici, abgeleitet worden. Als »klassisch« verstanden einige Kritiker*innen um 1830 jene Musik, die ihnen im Rückblick – Haydn, Mozart und Beethoven waren schon tot – als mustergültig für alle anderen erschien.
Nur Indien ist diesen kulturellen Ausdrucksformen wirtschaftlichen Wettbewerbs bislang glücklich entkommen. Es ist das einzige asiatische Land, in dem die anspruchsvolle einheimische Musikkultur in jeder Hinsicht, vor allem in den Ohren ihrer Bildungsbürger*innen, weit vor der westlichen Klassik rangiert. Insofern müssen wir mit den anfangs so gescholtenen Orchesterdirektor*innen etwas Nachsicht üben: Wie hätten sie ahnen können, dass ausgerechnet das in der Welt derart aufsteigende Indien von allen Ländern Asiens die ihnen so natürlich erscheinenden eurologischen Institutionen und Traditionen überhaupt nicht pflegt – und deren Abwesenheit auch nicht als ein Manko empfindet, das man schon aus Statusgründen unbedingt beheben möchte, sobald man es sich finanziell leisten kann?
Man könnte noch viele Beispiele anführen, der Sachverhalt aber ist klar: Die globalen Ungleichheiten der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Sphäre machen auch um die Musik keinen Bogen. Im Gegenteil, sie sind im Grundkonsens der verschiedenen eurologischen Musikszenen so tief verankert, dass man ihnen als Akteur*in in diesen nicht ausweichen kann. Eurologisch-afroamerikanische Musik hat sich im Zuge der militärisch-wirtschaftlichen Dominanz des »Westens« ein selbstverständliches Privileg auf Aufmerksamkeit, Präsenz und Wertschätzung in Konzert, Medien und Wissenschaft gesichert, das andere Musikkulturen und -traditionen in die Ungehörtheit drängt.
Wie kann dann das Musizieren in der globalen Gesellschaft sich mit den vielfältigen Formen der Ungleichheit sozial, infrastrukturell wie ästhetisch auseinandersetzen? Kann es Dissonanzen und deren Auflösungen aufzeigen? Kann Musizieren eventuell sogar zum Besseren beitragen?
Wenn man das will: Was müsste sich dann in der »westlichen« Vorstellung dessen, was Musik und Klangkunst sind und zu welchem Ende man sie betreibt, dringend ändern? Wie können Musikmachen, Musikorganisation und Musikerfahrung sich diesen Ungleichheiten offen stellen und mit ihnen in einen menschlich erträglichen, gesellschaftlich produktiven und ästhetisch bereichernden Prozess der Erweiterung des Musizierens eintreten?
Dazu müsste man sich erstmal darüber verständigen, was die Vorstellung einer Weltmusik oder des Weltmusizierens überhaupt bedeutet. Gegenwärtig kursieren in der europäisch-nordamerikanischen Musikwelt zwei verschiedene, aber komplementäre Modelle dessen, was Musizieren in der globalen Gesellschaft sei.
Erstens: Die Weltsprache Musik. Die Fiktion, dass es nur Musik in der Einzahl gebe, dass Musik die einzige wirkliche Weltsprache sei – das ist im Kern die oben en detail ausgeführte kulturdarwinistisch-kolonialistische Perspektive. Diese verleitet viele Veranstalter*innen und Zuhörer*innen, Konzerte mit Mitwirkenden aus verschiedenen Kulturen, die alle gemeinsam Brahms spielen, genauso als Ausdruck eines globalen Bewusstseins zu empfinden wie Festivals Neuer Musik, in denen Komponist*innen mit indischen, arabischen, chinesischen etc. Namen und Herkunftsgeschichten Werke für Streichquartett, Orchester, Elektronik etc. schreiben.
Kolonialismus und Musik in der globalen Welt:
Sandeep Bhagwati holt in@vanmusik #outernational aus.
Auch an den deutschen Unis unterscheidet man, mit wenigen Ausnahmen, noch immer fein zwischen »historischer Musikwissenschaft / Musiktheorie«, die vorwiegend an eurologischer Musik interessiert ist, aber ein durchaus universelles Selbstbild hat, und »Musikethnologie / systematischer Musikwissenschaft«, die zuständig sein sollen für alle anderen, »lokal begrenzten« Musikformen. Der relativ neue Trend, dass die Ethnologie auch die heiligen Bezirke der klassischen und neuen Musik beforscht, ist für die Szene beunruhigend und wird misstrauisch beäugt – man selber könne doch kein Gegenstand der Musikethnologie sein, die sei doch für die »Anderen« da. Und diese gehören ja eben nicht zur »Weltsprache Musik«, sondern in die…
World Music (Weltmusik): Dieser Marketingbegriff wurde Anfang der 1980er Jahre von einem Konsortium kommerzieller Plattenlabel erfunden.4 Er sollte im Plattenladen alle eurologische Musik mit deutlich wahrnehmbaren dominanten nicht-eurologischen Anteilen kennzeichnen. Oft waren diese Musiken auch das Resultat strategisch gecasteter Zusammenkünfte zwischen Musiker*innen verschiedener Musiktraditionen. Der Logik des Marketings folgend, wurden bald auch alle traditionellen Musikformen unter dem Label »Weltmusik« vermarktet. Weltmusik, so wie sie hier betrieben wird, bedient elegant Schuldgefühle des »westlichen« meist bildungsbürgerlichen Publikums, die sich in einer Abkehr sowohl von der als elitär empfundenen bürgerlichen Kunstmusik als auch der allgegenwärtigen Kommerzmusik ausleben. Und da im bildungsbürgerlichen Kunstverständnis Marktorientierung und künstlerische Relevanz als irgendwie antipodisch empfunden werden, festigte diese Strategie der Labels das wissenschaftlich-bürgerliche Vorurteil, daß auch alle Kunst-Musiken außerhalb der »klassischen europäischen« nachrangige Ausdrucksformen seien.
Wohl eher unabsichtlich demokratisierten und speisten die Vertriebswege der »Weltmusik« damit aber auch das mit kolonialem Vokabular unterfütterte Expansionsstreben vieler Komponist*innen und Musiker*innen, die von ihrem Probenraum aus in bislang unerhörtes Terrain vordringen und mit Hilfe »abenteuerlicher, unerhörter« Klänge und Klangordnungen musikalisches Neuland »entdecken«, »erobern«, »besetzen« wollten.
Besonders dafür sei die Diversität des Musizierens in der Welt erhaltenswert: wichtig vor allem als musikökologische Ressource für die fortwährende Ausdifferenzierung der eurologischen Musik. Eine ernsthafte, regelmäßige und dauerhafte musikalisch-ästhetische Beschäftigung mit ihren Formen, zum Beispiel an Schulen und Musikuniversitäten, sei zu komplex, d.h. lohne den Aufwand nicht. Man lernt ja auch nicht Türkisch, nur weil man mal einen Döner essen will.
Gerade gutwillige, an der Musik »der Anderen« durchaus interessierte Akteur*innen des Musikbetriebes reagieren auf derlei Vorhaltungen defensiv: Es seien doch seit Jahrhunderten viele europäische Intellektuelle und Künstler*innen, von unstillbarem Fernweh erfasst, tief eingetaucht in diese anderen Kulturen – und hätten beim Auftauchen ewig gültige kulturelle Schätze gehoben: vom I Ching zum Rigveda, vom Haiku bis zu den Liedern von Rumi und Hafiz. Das ist richtig. Nur war keiner dieser Schätze – Musik. Aber dann heute: Seit den Beatles hätten doch gerade in der Musikszene Deutschlands indische, afrikanische, arabische traditionelle und Kunst-Musik geradezu einen Ehrenplatz und fänden viele deutsche Anhänger*innen. Das stimmt. Allerdings sind deren Konzerte und Festivals fast immer punktuelle und prekäre Initiativen der freien Szene oder der jeweiligen Diaspora, oder sie finden im musealen oder akademischen Kontext – also quasi »außer musikalischer Konkurrenz« – statt. Dagegen sind alle ganzjährig durchfinanzierten und erlauchten deutschen Musikinstitutionen, Musikhochschulen, Musiksender, Musikpublikationen mit überwältigender Gewichtung der Ausbildung zur, der Präsentation von und dem Durchhören der eurologischen Musik verschrieben.
Man müsste also die Institutionen ändern, oder die Institutionen müssten sich selbst auf ihre eigenen kolonialen Haltungen prüfen. Doch da stellt sich sehr schnell die Frage: Gibt es denn Alternativen zu diesen beiden auf verschiedene Weise kolonialistisch-geprägten Modellen? Wie sähe denn ein Modell für ein gerechteres Weltmusikökosystem aus?
1 Aus: Cristina Urchueguía, Kartöffelchen am Stiel oder semiotisches U-Boot? Die Note, diese bekannte Unbekannte. Keynote am: XIX. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie, Zürich 4.10.2019
2 Vgl. zu diesem Thema den grandiosen Aufsatz Globale Horizonte europäischer Kunstmusik 1860-1930 des Historikers Jürgen Osterhammel, erschienen 2012 in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft, 38. Jahrg., Heft 1, Seiten 86–132.
3 Eine schöne Fallstudie hier ist Yara El-Ghadbans Text Facing the music: Rituals of belonging and recognition in Western art music, in: American Ethnologist Vol.36 no. 1 pp. 140-160 (2009) ISSN 1548-1425
4 Siehe dazu: Simon Frith, The Discourse of World Music in: Born, Hesmondhalgh (Hg.) Western Music and its Others, UC Press Berkeley 2000, S.305-322 und Glaucia Peres da Silva’s Buch Wie klingt die globale Ordnung? Die Entstehung eines Marktes für World Music Wiesbaden 2016
Passagen dieses Artikels wurden im Auftrag des Goethe Instituts erstellt.
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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