Text Hannah Schmidt
Fotos Eli Cornejo
Die zehntstündige Performance Pariyestan beim »Klangteppich«-Festival in Berlin zeigte die politische Dimension der Entspannung. Ein Erfahrungsbericht.
Beim letzten Mal, als mir im Konzert die Augen zugefallen sind, war es Wagner. »Siegfried«, um genauer zu sein, im Bayreuther Festspielhaus. Zwei Tage »Ring«, ein bequemer Zufallsplatz in der Loge, und über gut zwei Stunden hinweg hatte noch keine Frau auf der Bühne gesungen. Ich war müde – ermüdet, um genauer zu sein, und döste für ein paar Minuten weg. Danach habe ich mich geschämt, sehr sogar, und bis heute niemandem davon etwas erzählt.
Bei Musik die Augen zuzumachen und nach und nach die Kontrolle abzugeben, so sehr, dass man leicht wegdämmert oder sogar richtig einschläft, das ist in der »westlich« geprägten klassischen Musik – und von ihr beeinflusst auch in manchen populären Richtungen – ein absoluter Fauxpas. »Respektlos« wäre wohl der Begriff, den manche Kolleg:innen dafür finden würden, und auf gewisse Weise hätten sie damit auch Recht: Im spezifischen kulturellen Kontext der »westlich« geprägten klassischen Musik schließlich ist Respekt eng verknüpft mit einem gewissen Grad an Aufmerksamkeit – und wer einschläft, ist nicht aufmerksam. Oder?
»Das Kunstverständnis in Europa ist dominiert von einer bestimmten Perspektive«, sagt der Komponist und Soundkünstler Hadi Bastani: »von der männlicher und nicht-queerer Schöpfer. Es gab in der Geschichte natürlich alle möglichen Künstler:innen, doch die Ästhetik dieser Männer ist dominant – ihre Techniken, Herangehensweisen und Instrumente, sogar die Art und Weise, wie ‚gute‘ Kunst rezipiert werden soll.«
Anfang Juni, es wurde draußen gerade etwas wärmer, füllte sich der kleine Barbereich des Theater Aufbau Kreuzberg (tak) in Berlin nach und nach mit Menschen. Ganz normale Konzertbesucher:innen, könnte man meinen, doch etwas war anders als sonst: Sie kamen nicht, um konzentriert einer Komposition zu lauschen und sich danach fachkundig über Engführungen und Soli zu unterhalten – sondern um zu schlafen. Sie hatten Ikea-Tüten mit Decken, Kissen und Zahnbürsten dabei, waren schon abgeschminkt und hatten die Haare hochgesteckt. Ein Besucher betrat das Theater direkt im Schlafanzug.
Auf zehn Stunden war die nächtliche Performance mit dem Titel »Pariyestan« angelegt, bei der Gedichte und Schlaflieder in mehreren Sprachen erklingen sollten – verbunden durch live gemischte Musik, die die ganze Nacht durchzog. Hadi Bastani hatte einen Teil der Musik komponiert, die in dieser Nacht gespielt wurde – die Idee zum Sleepover aber kam von der Künstlerin Parisa Madani. Mit einem Kollektiv aus queeren und nichtweißen Performer:innen und Kulturschaffenden erschuf sie in dem mit Matratzen und Decken ausgelegten Theatersaal einen Raum der Entspannung – vor allem aber einen geradezu zeitlosen Ort der Ruhe für diejenigen, denen Ruhe zu finden politisch und gesellschaftlich verwehrt wird.
Pariyestan sei ein Meilenstein, sagt Hadi Bastani im Videocall: »Die Performance befreit ihre Besucher:innen vom Alltagsstress, indem es sie in intimer Atmosphäre zum aktiven Teilnehmer werden lässt.« Das Projekt etabliere »Vertrauen und Intimität als Triebfedern für Kreativität. Dieses Vertrauen wird organisch durch den Akt des Einschlafens symbolisiert – und die darstellenden Körper werden zum Kunstwerk«, sagt Bastani.
Die Idee, sagt Parisa Madani im Gespräch, sei angelehnt gewesen an Dr. Tricia Herseys Modell und Manifest »Rest is Resistance«: 2013 begann die Schwarze Performerin, Theologin, Autorin und Theatermacherin Hersey mit dem Konzept der Ruhe und des zur Ruhe Kommens zu experimentieren. Auf ihrer Webseite schreibt sie: »Das Ruhen als Schwarze Frau in Amerika, die unter generationsbedingter Erschöpfung und rassistischen Traumata leidet, war für mich immer eine politische Verweigerung und ein Statement für soziale Gerechtigkeit.« Sie habe damals angefangen sich auszuruhen und kleine Nickerchen zu machen, um zu entschleunigen und letztendlich »mein Leben zu retten«: »um mich den Systemen zu widersetzen, die mir vorschreiben, mehr zu tun – und um meinen Vorfahren zu gedenken, denen der Raum zum Träumen genommen wurde.«
Seit 2016 ist The Nap Ministry nun eine Organisation, die mit Performances und Installationen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Communities Räume zum gemeinsamen Ausruhen erschafft. »In ihrer aktivistischen Arbeit konzentriert sich Tricia Hersey (The Nap Ministry, Georgia, USA) auf diejenigen, die durch Gesetzgebung, Regierungen, Strafverfolgungsbehörden, prekären Wohnungsmarkt oder finanzielle Sicherheit benachteiligt sind«, sagt Parisa Madani Mitte Juni. »Diese Themen – Identität und kulturelles Erbe – beschäftigen mich als deutsch-iranische Frau von trans-experience* schon mein ganzes Leben. Wir haben die Performance in Berlin als Experiment gestaltet, um qtbipoc und ihre Freund*Innen zusammen zu bringen, um gemeinsam eine Challenge in Community Care zu erleben.«
Kurz vor 22 Uhr öffneten sich in Berlin nun also die Türen zum Saal, die Besucher:innen hatten ein wenig gewartet, eigentlich sollte es um 21.30 Uhr losgehen. »Zehn Stunden, Leute«, sagte Parisa Madani einmal scherzhaft im Vorbeigehen, an diejenigen gerichtet, die schon zu früh Anstalten machten, den Raum zu betreten. Die Entschleunigung begann also schon vorher – denn was könnte entschleunigender sein als zu warten?
Am Eingang spritzten zwei Performer:innen den Hereinkommenden mit den Fingerspitzen etwas Wasser ins Gesicht. Sie lächelten, sprachen aber kein Wort. Im schwachen Licht im Saal zogen wir uns die Schuhe und Mäntel aus, ließen uns zu einer Matratze führen und legten oder setzten uns hin. Ruhig fließende Klänge aus den Lautsprechern mischten sich mit dem Rascheln der Decken, vereinzeltem Flüstern und dem Geräusch leiser Schritte um uns herum. Die Performer:innen ahmten Vogellaute nach und erzeugten leise kratzende Geräusche an den Mikrofonen, Parisa Madani klickerte im Vorbeigehen mit ihren langen Fingernägeln. Manche dieser Geräusche wirkten so unmittelbar entspannend auf mich, dass ich schon nach kurzer Zeit die Augen schloss.
»Musik kann die Zeit und das Zeitgefühl verändern«, sagt Parisa Madani im Gespräch. »Uns war wichtig, die Zuschauer*Innen zum Schlafen und Träumen einzuladen, um das menschliche Verständnis von Zeit zu vergessen, die Zeit wie Karamell lang zu ziehen, keinem Rhythmus mehr zu folgen.« Zwar war die Performance selbst in mehrere Teile unterteilt – sie hatte also in sich eine Form und einen Rhythmus –, doch waren die Übergänge so fließend und langsam, dass sie kaum als Übergänge wahrnehmbar waren. Die Besucher:innen durchlebten gemeinsam, die ganze Nacht über, verschiedene Zustände von Schlafen, Wachsein, Einschlafen, Aufwachen und Tagträumen. Anfangs und gegen Ende performten Parisa Madani und die anderen Künstler:innen noch kurze Intermezzi, bewegten sich im Raum, tanzten langsam, sprachen, sangen, lasen aus Büchern vor, verteilten Tee und Safranreis in kleinen Pappbechern.
»In der Mitte gab es dann einen Block von vier Stunden, der keinerlei Aufmerksamkeit benötigte«, erzählt Parisa Madani. »Da konnten die Leute einfach wegdriften und schlafen.« In diesen Zeitraum fällt auch einer der für sie schönsten Momente dieser Performance, sagt sie: »Ich habe zwar sehr versucht, wach zu bleiben, hatte aber auf einmal dieses beruhigende, entspannende Gefühl, das durch meinen ganzen Körper ging. Ich lag in eine Decke eingewickelt auf meinem Lieblingsteppich, das Mikrofon an meiner Nasenspitze um meinen Atem aufzufangen: Ich konnte fühlen, wie die Anspannung und die Ängste unter mir in den Boden und in die Kissen geglitten sind und das letzte, was ich hörte, war der Chor aus sanft schnarchenden uns schlafenden Gäst*Innen.«
Zurück im Saal. Nach nur zehn oder zwanzig Minuten, vielleicht auch dreißig – mein Zeitgefühl habe ich anscheinend mit meinen Schuhen zusammen am Rand stehen lassen – wäre auch ich das erste Mal beinahe eingeschlafen. Es hatten sich alle auf ihre Matratzen gelegt, manche kuschelten, lagen sich in den Armen oder streichelten sich die Haare. Das Licht, schien es, wurde zum ersten Mal noch ein Stück weiter gedimmt. Parisa Madani hatte alle Angekommenen kurz vorher begrüßt und etwas über Kleidungsstücke und Taschen erzählt, die auf Bügeln hier und dort an der Wand hingen. Ich erinnere mich kaum an das, was sie tatsächlich sagte – aber ihre Stimme, wenngleich ich sie zum ersten Mal in meinem Leben hörte, bewirkte die gleiche schwere Ruhe wie die vertraute Stimme damals, die mir abends aus einem Buch vorlas. Der einzige Unterschied: Komplett loszulassen und einzuschlafen fiel mir in diesem halböffentlichen Raum aus irgendeinem Grund dann doch nicht so leicht, wie ich dachte.
»Zeit ist ein weirdes Konzept«, sagt Parisa Madani. »Dinge brauchen Zeit, um sich zu entwickeln, wir brauchen Zeit und Zeit muss sich entfalten können, manchmal muss sie aber auch stillstehen. Zeit muss sich manchmal gebrochen und surreal anfühlen.« Aus ihrer Perspektive als Performerin seien die spannendsten Momente immer die, in denen Menschen die Zeit vergessen und in der Folge einschlafen: »Da wird es richtig spicy.«
Parisa Madani lacht kurz. Und trotzdem: Meine Unfähigkeit loszulassen – ständig und abwechselnd kreisend die Uhrzeit, verbleibende Stunden, bis der Wecker geht, und den bevorstehenden Weg zum Bahnhofshotel im Hinterkopf –, diese Unfähigkeit zeigte im Grunde nur, wie tief das Problem eigentlich sitzt: »Entspannung ist harte Arbeit«, sagt Parisa Madani zu mir. »Es bedarf richtiger Arbeit, um entspannen zu können. Es gibt so viele Strukturen in unseren Systemen, über die wir keine Kontrolle haben, allen voran die fucking Zeit, die uns davon abhält, eine gute Zeit zu haben – so viele Faktoren erschweren es uns, die Zeit einfach passieren zu lassen.«
Auch wenn es den anderen Besucher:innen offensichtlich gelang – ich war am Ende dann doch wieder die junge Frau, die um Mitternacht leise aus dem Raum huscht, den gelben Mantel überm Arm, die Brille noch im Schuh und die Schuhe in der Hand. Ich war nicht einfach nur eine Journalistin, die für einen Text über eine Sleepover-Performance ein paar Eindrücke gesammelt hatte und jetzt hoffte, noch genug Schlaf zu bekommen. Nein – erst viele Tage später wurde es mir bewusst – , in diesem Moment war ich die Verkörperung dessen, was der Raum, den Parisa Madani und ihre Kolleg:innen erschaffen hatten, erfolgreich vertreiben konnte: die kapitalistische Unruhe. Immer schon die nächste Station im Kopf, nirgendwo so richtig und immer auf dem Sprung. Ein Schatten, durch den die Zeit hindurch rinnt, und der verzweifelt hinter ihr her greift. Den Schlaf habe ich bekommen, meinen Zug auch. Und trotzdem: Könnte ich die Zeit zurückdrehen und noch einmal auf meiner Matratze Platz nehmen und dieses Mal liegen bleiben bis zum Morgen – ich würde es tun. ¶
Dieser Text erscheint in Kooperation mit Klangteppich https://www.klangteppich.berlin/en/klangteppich-iv/. Klangteppich wird unterstützt durch die Kulturstiftung des Bundes, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und den Koproduktionsfonds Berlin.
Text Hannah Schmidt
Fotos Eli Cornejo
Die zehntstündige Performance Pariyestan beim »Klangteppich«-Festival in Berlin zeigte die politische Dimension der Entspannung. Ein Erfahrungsbericht.
Beim letzten Mal, als mir im Konzert die Augen zugefallen sind, war es Wagner. »Siegfried«, um genauer zu sein, im Bayreuther Festspielhaus. Zwei Tage »Ring«, ein bequemer Zufallsplatz in der Loge, und über gut zwei Stunden hinweg hatte noch keine Frau auf der Bühne gesungen. Ich war müde – ermüdet, um genauer zu sein, und döste für ein paar Minuten weg. Danach habe ich mich geschämt, sehr sogar, und bis heute niemandem davon etwas erzählt.
Bei Musik die Augen zuzumachen und nach und nach die Kontrolle abzugeben, so sehr, dass man leicht wegdämmert oder sogar richtig einschläft, das ist in der »westlich« geprägten klassischen Musik – und von ihr beeinflusst auch in manchen populären Richtungen – ein absoluter Fauxpas. »Respektlos« wäre wohl der Begriff, den manche Kolleg:innen dafür finden würden, und auf gewisse Weise hätten sie damit auch Recht: Im spezifischen kulturellen Kontext der »westlich« geprägten klassischen Musik schließlich ist Respekt eng verknüpft mit einem gewissen Grad an Aufmerksamkeit – und wer einschläft, ist nicht aufmerksam. Oder?
»Das Kunstverständnis in Europa ist dominiert von einer bestimmten Perspektive«, sagt der Komponist und Soundkünstler Hadi Bastani: »von der männlicher und nicht-queerer Schöpfer. Es gab in der Geschichte natürlich alle möglichen Künstler:innen, doch die Ästhetik dieser Männer ist dominant – ihre Techniken, Herangehensweisen und Instrumente, sogar die Art und Weise, wie ‚gute‘ Kunst rezipiert werden soll.«
Anfang Juni, es wurde draußen gerade etwas wärmer, füllte sich der kleine Barbereich des Theater Aufbau Kreuzberg (tak) in Berlin nach und nach mit Menschen. Ganz normale Konzertbesucher:innen, könnte man meinen, doch etwas war anders als sonst: Sie kamen nicht, um konzentriert einer Komposition zu lauschen und sich danach fachkundig über Engführungen und Soli zu unterhalten – sondern um zu schlafen. Sie hatten Ikea-Tüten mit Decken, Kissen und Zahnbürsten dabei, waren schon abgeschminkt und hatten die Haare hochgesteckt. Ein Besucher betrat das Theater direkt im Schlafanzug.
Auf zehn Stunden war die nächtliche Performance mit dem Titel »Pariyestan« angelegt, bei der Gedichte und Schlaflieder in mehreren Sprachen erklingen sollten – verbunden durch live gemischte Musik, die die ganze Nacht durchzog. Hadi Bastani hatte einen Teil der Musik komponiert, die in dieser Nacht gespielt wurde – die Idee zum Sleepover aber kam von der Künstlerin Parisa Madani. Mit einem Kollektiv aus queeren und nichtweißen Performer:innen und Kulturschaffenden erschuf sie in dem mit Matratzen und Decken ausgelegten Theatersaal einen Raum der Entspannung – vor allem aber einen geradezu zeitlosen Ort der Ruhe für diejenigen, denen Ruhe zu finden politisch und gesellschaftlich verwehrt wird.
Pariyestan sei ein Meilenstein, sagt Hadi Bastani im Videocall: »Die Performance befreit ihre Besucher:innen vom Alltagsstress, indem es sie in intimer Atmosphäre zum aktiven Teilnehmer werden lässt.« Das Projekt etabliere »Vertrauen und Intimität als Triebfedern für Kreativität. Dieses Vertrauen wird organisch durch den Akt des Einschlafens symbolisiert – und die darstellenden Körper werden zum Kunstwerk«, sagt Bastani.
Die Idee, sagt Parisa Madani im Gespräch, sei angelehnt gewesen an Dr. Tricia Herseys Modell und Manifest »Rest is Resistance«: 2013 begann die Schwarze Performerin, Theologin, Autorin und Theatermacherin Hersey mit dem Konzept der Ruhe und des zur Ruhe Kommens zu experimentieren. Auf ihrer Webseite schreibt sie: »Das Ruhen als Schwarze Frau in Amerika, die unter generationsbedingter Erschöpfung und rassistischen Traumata leidet, war für mich immer eine politische Verweigerung und ein Statement für soziale Gerechtigkeit.« Sie habe damals angefangen sich auszuruhen und kleine Nickerchen zu machen, um zu entschleunigen und letztendlich »mein Leben zu retten«: »um mich den Systemen zu widersetzen, die mir vorschreiben, mehr zu tun – und um meinen Vorfahren zu gedenken, denen der Raum zum Träumen genommen wurde.«
Seit 2016 ist The Nap Ministry nun eine Organisation, die mit Performances und Installationen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Communities Räume zum gemeinsamen Ausruhen erschafft. »In ihrer aktivistischen Arbeit konzentriert sich Tricia Hersey (The Nap Ministry, Georgia, USA) auf diejenigen, die durch Gesetzgebung, Regierungen, Strafverfolgungsbehörden, prekären Wohnungsmarkt oder finanzielle Sicherheit benachteiligt sind«, sagt Parisa Madani Mitte Juni. »Diese Themen – Identität und kulturelles Erbe – beschäftigen mich als deutsch-iranische Frau von trans-experience* schon mein ganzes Leben. Wir haben die Performance in Berlin als Experiment gestaltet, um qtbipoc und ihre Freund*Innen zusammen zu bringen, um gemeinsam eine Challenge in Community Care zu erleben.«
Kurz vor 22 Uhr öffneten sich in Berlin nun also die Türen zum Saal, die Besucher:innen hatten ein wenig gewartet, eigentlich sollte es um 21.30 Uhr losgehen. »Zehn Stunden, Leute«, sagte Parisa Madani einmal scherzhaft im Vorbeigehen, an diejenigen gerichtet, die schon zu früh Anstalten machten, den Raum zu betreten. Die Entschleunigung begann also schon vorher – denn was könnte entschleunigender sein als zu warten?
Am Eingang spritzten zwei Performer:innen den Hereinkommenden mit den Fingerspitzen etwas Wasser ins Gesicht. Sie lächelten, sprachen aber kein Wort. Im schwachen Licht im Saal zogen wir uns die Schuhe und Mäntel aus, ließen uns zu einer Matratze führen und legten oder setzten uns hin. Ruhig fließende Klänge aus den Lautsprechern mischten sich mit dem Rascheln der Decken, vereinzeltem Flüstern und dem Geräusch leiser Schritte um uns herum. Die Performer:innen ahmten Vogellaute nach und erzeugten leise kratzende Geräusche an den Mikrofonen, Parisa Madani klickerte im Vorbeigehen mit ihren langen Fingernägeln. Manche dieser Geräusche wirkten so unmittelbar entspannend auf mich, dass ich schon nach kurzer Zeit die Augen schloss.
»Musik kann die Zeit und das Zeitgefühl verändern«, sagt Parisa Madani im Gespräch. »Uns war wichtig, die Zuschauer*Innen zum Schlafen und Träumen einzuladen, um das menschliche Verständnis von Zeit zu vergessen, die Zeit wie Karamell lang zu ziehen, keinem Rhythmus mehr zu folgen.« Zwar war die Performance selbst in mehrere Teile unterteilt – sie hatte also in sich eine Form und einen Rhythmus –, doch waren die Übergänge so fließend und langsam, dass sie kaum als Übergänge wahrnehmbar waren. Die Besucher:innen durchlebten gemeinsam, die ganze Nacht über, verschiedene Zustände von Schlafen, Wachsein, Einschlafen, Aufwachen und Tagträumen. Anfangs und gegen Ende performten Parisa Madani und die anderen Künstler:innen noch kurze Intermezzi, bewegten sich im Raum, tanzten langsam, sprachen, sangen, lasen aus Büchern vor, verteilten Tee und Safranreis in kleinen Pappbechern.
»In der Mitte gab es dann einen Block von vier Stunden, der keinerlei Aufmerksamkeit benötigte«, erzählt Parisa Madani. »Da konnten die Leute einfach wegdriften und schlafen.« In diesen Zeitraum fällt auch einer der für sie schönsten Momente dieser Performance, sagt sie: »Ich habe zwar sehr versucht, wach zu bleiben, hatte aber auf einmal dieses beruhigende, entspannende Gefühl, das durch meinen ganzen Körper ging. Ich lag in eine Decke eingewickelt auf meinem Lieblingsteppich, das Mikrofon an meiner Nasenspitze um meinen Atem aufzufangen: Ich konnte fühlen, wie die Anspannung und die Ängste unter mir in den Boden und in die Kissen geglitten sind und das letzte, was ich hörte, war der Chor aus sanft schnarchenden uns schlafenden Gäst*Innen.«
Zurück im Saal. Nach nur zehn oder zwanzig Minuten, vielleicht auch dreißig – mein Zeitgefühl habe ich anscheinend mit meinen Schuhen zusammen am Rand stehen lassen – wäre auch ich das erste Mal beinahe eingeschlafen. Es hatten sich alle auf ihre Matratzen gelegt, manche kuschelten, lagen sich in den Armen oder streichelten sich die Haare. Das Licht, schien es, wurde zum ersten Mal noch ein Stück weiter gedimmt. Parisa Madani hatte alle Angekommenen kurz vorher begrüßt und etwas über Kleidungsstücke und Taschen erzählt, die auf Bügeln hier und dort an der Wand hingen. Ich erinnere mich kaum an das, was sie tatsächlich sagte – aber ihre Stimme, wenngleich ich sie zum ersten Mal in meinem Leben hörte, bewirkte die gleiche schwere Ruhe wie die vertraute Stimme damals, die mir abends aus einem Buch vorlas. Der einzige Unterschied: Komplett loszulassen und einzuschlafen fiel mir in diesem halböffentlichen Raum aus irgendeinem Grund dann doch nicht so leicht, wie ich dachte.
»Zeit ist ein weirdes Konzept«, sagt Parisa Madani. »Dinge brauchen Zeit, um sich zu entwickeln, wir brauchen Zeit und Zeit muss sich entfalten können, manchmal muss sie aber auch stillstehen. Zeit muss sich manchmal gebrochen und surreal anfühlen.« Aus ihrer Perspektive als Performerin seien die spannendsten Momente immer die, in denen Menschen die Zeit vergessen und in der Folge einschlafen: »Da wird es richtig spicy.«
Parisa Madani lacht kurz. Und trotzdem: Meine Unfähigkeit loszulassen – ständig und abwechselnd kreisend die Uhrzeit, verbleibende Stunden, bis der Wecker geht, und den bevorstehenden Weg zum Bahnhofshotel im Hinterkopf –, diese Unfähigkeit zeigte im Grunde nur, wie tief das Problem eigentlich sitzt: »Entspannung ist harte Arbeit«, sagt Parisa Madani zu mir. »Es bedarf richtiger Arbeit, um entspannen zu können. Es gibt so viele Strukturen in unseren Systemen, über die wir keine Kontrolle haben, allen voran die fucking Zeit, die uns davon abhält, eine gute Zeit zu haben – so viele Faktoren erschweren es uns, die Zeit einfach passieren zu lassen.«
Auch wenn es den anderen Besucher:innen offensichtlich gelang – ich war am Ende dann doch wieder die junge Frau, die um Mitternacht leise aus dem Raum huscht, den gelben Mantel überm Arm, die Brille noch im Schuh und die Schuhe in der Hand. Ich war nicht einfach nur eine Journalistin, die für einen Text über eine Sleepover-Performance ein paar Eindrücke gesammelt hatte und jetzt hoffte, noch genug Schlaf zu bekommen. Nein – erst viele Tage später wurde es mir bewusst – , in diesem Moment war ich die Verkörperung dessen, was der Raum, den Parisa Madani und ihre Kolleg:innen erschaffen hatten, erfolgreich vertreiben konnte: die kapitalistische Unruhe. Immer schon die nächste Station im Kopf, nirgendwo so richtig und immer auf dem Sprung. Ein Schatten, durch den die Zeit hindurch rinnt, und der verzweifelt hinter ihr her greift. Den Schlaf habe ich bekommen, meinen Zug auch. Und trotzdem: Könnte ich die Zeit zurückdrehen und noch einmal auf meiner Matratze Platz nehmen und dieses Mal liegen bleiben bis zum Morgen – ich würde es tun. ¶
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