Text Leonie Reineke
Titelbild Jasper Kettner
Emre Dündar sammelt Sprachen. Seit vielen Jahren trägt der 1972 in Istanbul geborene Komponist klingende Erinnerungen zusammen – Erinnerungen an Gesprochenes aus allen möglichen Lebensbereichen und Zeiten: Sprachaufnahmen, Laute, phonetische Besonderheiten und Melodien der unzähligen Dialekte, die er um sich herum wahrnimmt. Dieses akustische Material verarbeitet er dann in seinen Kompositionen.
2020 und 2021 war Emre Dündar Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Leonie Reineke hat ihn getroffen und mit ihm über seine künstlerische Arbeit gesprochen.
Emre Dündar, du bist Komponist, Dirigent und Pianist. In einem deiner Stücke wirkst du aber auch als Rezitator und Stimm-Improvisator mit. Bist du also auch ausgebildeter Sänger oder Stimmperformer?
Nein, ich bin eigentlich kein Stimmperformer! Ich wirke nur bei meinem Projekt »Parergon« mit meiner eigenen Stimme mit. Es geht darin um ausgestorbene oder vom Aussterben bedrohte Sprachen aus Anatolien. Ich habe viele solcher Sprachklänge über Jahre aufgenommen und transkribiert. Und später habe ich diese Klänge als kompositorisches Material verwendet. Ich habe versucht, mir die akustischen Eigenschaften der Sprachen ins Bewusstsein zu rufen und dann damit improvisiert. Das ist die Vorbereitung für einen Kompositionsprozess. Auf Basis dieser Arbeit kann ich dann für andere Musiker schreiben. Aber erst einmal muss ich ein wenig mit meiner eigenen Stimme herumprobieren.
Die Verbindung von Musik und Sprache ist auch generell ein zentrales Thema in deinen Kompositionen. Was fasziniert dich an Sprache beziehungsweise am Sprechen?
Das Konzept des Erzählens ist für mich eine basale Eigenschaft meiner Arbeit. Und sprachliche Phänomene sind ein großer Bestandteil von Erzählungen; und zwar in allen Lebensbereichen, auch im Alltag. Wenn Menschen flirten, streiten, diskutieren – das sind für mich musikalische Ereignisse. Ich höre sehr gerne Menschen zu, wenn sie sich unterhalten. Denn jeder von uns hat eine andere Art, zu sprechen, eine andere Art, seine Stimme einzusetzen, Worte zu artikulieren, sich auszudrücken. Und dann gibt es nochmal besondere Unterschiede zwischen Kulturen und Regionen. Zum Beispiel sprechen die Menschen auf der Seite von Anatolien, die an das Schwarze Meer grenzt, extrem laut – selbst, wenn es um eine heimliche Liebesbeziehung geht. Wenn man ihnen zuhört, denkt man zuerst, sie seien aufgebracht oder verärgert. Aber das stimmt nicht. Sie sprechen einfach immer so, egal um was es geht. Und das Verrückte ist, dass sie am Ende eines Satzes immer ganz sanfte, leise Glissandi machen. Das ist sehr merkwürdig. Solche typischen Eigenheiten von Sprachen oder Dialekten gibt es überall. Für mich sind das musikalische Qualitäten. Denn die Menschen drücken sich eben nicht nur über Worte aus, sondern auch über ihren Sprachstil, Artikulation, Sprechlautstärke, Tempovariationen und so weiter. Spannend finde ich auch, die Klanglichkeit verschiedener Sprachen zu vergleichen.
In den kaukasischen Sprachen zum Beispiel gibt es sehr viele Konsonanten. Das klingt sehr rhythmisch. Andere Sprachen klingen deutlich melodischer. Das hat mit der Balance zwischen Konsonanten und Vokalen zu tun. Aber natürlich gibt es noch viele andere Dinge, die Sprachen ihre jeweilige Eigenart verleihen. Und das interessiert mich für meine kompositorische Arbeit – vor allem, wenn es um die Mikroebene eines Stückes geht. Mit Blick auf die großformale Anlage einer Komposition denke ich in narrativen Mustern. Viele andere Komponisten betrachten Musik vielleicht eher als abstrakte Kunstform und eine Komposition als Objekt, als Skulptur. Ich dagegen plane meine Stücke immer von links nach rechts – wie eine Erzählung, die man in einem Buch lesen kann. Deshalb ist ein wichtiger Ausgangspunkt für meine Arbeit auch das Erforschen von narrativen Konzepten in der Kunstgeschichte.
Und wie übersetzt du dann deine Vorstellungen von Erzählung und von Sprachklang in Musik?
Manchmal suche ich bestimmte Aspekte eines Sprachklanges heraus und versuche, Sie auf Musikinstrumente zu übertragen. Man kann eine Spektralanalyse eines Sprachfragments mit dem Computer machen und dann nach Ähnlichkeiten im Spektrum eines bestimmten Instruments suchen. Man kann aber auch einfach mit seiner Intuition und seiner Hör-Erfahrung arbeiten. Ich weiß ja, wie zum Beispiel eine Klarinette klingt. Und ich kann mir eine grobe Vorstellung davon machen, was mit den Artikulationsmöglichkeiten dieses Instruments machbar ist und was nicht. Außerdem improvisiere ich ja immer noch mit meiner Stimme, um mir die Eigenschaften eines Klangs zu vergegenwärtigen. Ich habe dafür etliche Tonaufnahmen von verschiedenen sprechenden Menschen angesammelt. Das ist sozusagen mein »figuratives Reservoire«, aus dem ich all meine Ideen für musikalische Figuren ableite.
Du bist auch Mitglied des »Istanbul Composers Collective«. Was ist das für eine Gruppe? Und wann und vor allem warum ist sie entstanden?
Ich denke, dass Verbindungen zwischen Komponisten enorm wichtig sind. Denn besonders in meinem Heimatland – der Türkei – ist man viel allein, wenn man Komponist ist. Zeitgenössische Musik zieht ja auch keine Massen von Menschen an. Und um weniger allein zu sein, haben ein paar Kollegen und ich irgendwann entschieden, dieses Kollektiv zu gründen, um unsere Ideen und kompositorischen Werkzeuge miteinander zu teilen. Natürlich geht es auch darum, eine bessere Informationskultur in der Szene zu etablieren und gemeinsam Projekte zu initiieren. Mit einigen Kollegen habe ich schon unzählig viele Konzerte auf die Beine gestellt. Und auch, wenn ich aktuell in Deutschland bin, stehen wir weiterhin in engem Kontakt. Jeder von uns weiß immer, woran die anderen gerade arbeiten. Und wir zeigen uns unsere Arbeit auch gegenseitig, kritisieren uns, geben Feedback.
Im Kern sind wir sechs Mitglieder. Manche von uns sind nicht nur Komponisten, sondern auch Musiker. So können wir regelmäßig Aufnahmesessions zusammen machen, in denen wir improvisieren und experimentieren. Auf diese Weise teilen wir uns einen großen Pool von musikalischen Inspirationen, auf den wir alle zugreifen können. Und daraus kann jeder von uns wieder neue Ideen für seine eigene Arbeit entwickeln.
Du hast dich dazu entschieden, nach deiner DAAD-Residenz erst einmal weiterhin in Berlin zu bleiben. Wie kam es dazu?
Ich kam damals nach Berlin, einen Monat vor Ausbruch der Coronapandemie. Insofern konnte ich weder die Stadt und ihr Kulturleben erkunden, noch konnte ich meine geplanten Projekte realisieren. Gegen Ende meiner Residenzzeit bekam ich dann eine Förderung vom Berliner Senat, um etwas für das Ensemble KNM Berlin zu komponieren. Seitdem bin ich hier geblieben und habe mich sehr an die Stadt gewöhnt. Inzwischen ist das Kulturleben ja auch wieder einigermaßen auf den Beinen.
Das mag wie ein Klischee klingen, aber für einen Künstler ist es sehr leicht, Berlin zu mögen. Hier liegt dieses seltsame Gefühl in der Luft, frei zu sein. Man spürt es auf den Straßen, sieht es in den Gesichtern der Menschen … Ich liebe dieses Gefühl. Auch wenn es natürlich erst einmal nicht einfach ist, als Komponist aus dem Ausland in Berlin Fuß zu fassen.
Hattest du während deiner Zeit in Berlin spannende Begegnungen mit anderen Menschen, anderen Künstlern? Haben sich neue kollaborative Projekte entwickelt?
Ich bin grundsätzlich sehr interessiert an Lyrik. Dieses Feld hat meine Arbeit schon immer mitbestimmt. Während meiner Zeit in Berlin habe ich großartige Persönlichkeiten kennengelernt, wie etwa die Schriftstellerinnen Don Mee Choi und Odile Kennel. Mit vielen habe ich mich angefreundet. Mir macht es Spaß, gemeinsame Projekte mit Lyrikern zu realisieren. Und andersherum haben auch viele Schreibende Lust darauf, mit Musikern zu arbeiten.
Natürlich habe ich aber auch eine Menge Musikerinnen und Musiker kennengelernt – im Zuge der Aufführung meiner Kompositionen zum Beispiel. Ich bin allerdings mindestens genauso leidenschaftlich im Bereich der improvisierten Musik unterwegs. Mit anderen Impro-Musikern auf der Bühne zu stehen, gibt mir nochmal eine andere, unmittelbarere Energie als das Komponieren. Ich versuche, in diesem Bereich noch viel mehr zu machen. Denn ich möchte nicht, dass dieses typische Bild des an den Schreibtisch gefesselten Komponisten meine gesamte Identität ausmacht. Ich begreife mich selbst eben auch als Musiker.
Gibt es etwas, dass dich in Berlin überrascht hat – etwas Unerwartetes, womit du nicht gerechnet hattest?
Ja, und das sind verschiedene Dinge. Erst einmal habe ich das Werk von Komponisten entdeckt, die außerhalb von Deutschland nicht besonders bekannt sind. Georg Katzer wäre da eines von vielen Beispielen. Überraschende Entdeckungen dieser Art kann man hier gut machen, scheint mir.
Etwas anderes, das mir aufgefallen ist, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Kunst in Berlin gehegt und gepflegt wird. Die enorme Präsenz und auch das Untereinander-Teilen und Miteinander-Kommunizieren von allen möglichen zeitgenössischen Kunstformen springt sofort ins Auge. Für diejenigen, die hier geboren sind, mag das nichts Besonderes sein. Aber ich als ausländischer Künstler registriere das mit großer Faszination. Dass freie Kunst einen derart natürlichen Teil des Stadtlebens ausmacht, sehe ich als große historische Errungenschaft und Chance, derer man sich unbedingt bewusst sein sollte.
Gleichzeitig habe ich aber auch festgestellt, dass diese Selbstverständlichkeit offenbar hin und wieder dazu führt, dass künstlerische Projekte zu schnell und mit zu wenig Sorgfalt aus dem Boden gestampft werden. Das ist schade, denn ich halte es für wichtig, seine Arbeit immer genau zu durchdenken und diszipliniert zu bleiben. Kunst ist eben doch harte Arbeit und kein Job, den man schnell und lieblos erledigen kann.
Manchmal sind es aber auch einfach andere Arbeitsformen, die zu einem bestimmten künstlerischen Ergebnis führen. Da gibt es manches, dem ich bisher eher skeptisch gegenüberstand – Trends beispielsweise, die in eine neo-konzeptuelle Richtung gehen. Und trotzdem muss ich sagen, dass ich beobachte, dass ich auch in dieser Hinsicht offener geworden bin. Berlin hat meine Vorbehalte ein wenig gelockert. Ich selbst halte zwar fest an einer strengen kompositorisch-handwerklichen Disziplin, aber natürlich gibt es auch viel anderes, das ich wertschätze. Der ästhetische Wert einer Komposition bemisst sich meines Erachtens vor allem an der Aufmerksamkeit, die ihr Schöpfer kleinsten Details geschenkt hat. Und wenn eine solche Art der Arbeit in einem Musikstück steckt, dann vermittelt sich das auch seinen Hörerinnen und Hörern. ¶
Text Leonie Reineke
Titelbild Jasper Kettner
Emre Dündar sammelt Sprachen. Seit vielen Jahren trägt der 1972 in Istanbul geborene Komponist klingende Erinnerungen zusammen – Erinnerungen an Gesprochenes aus allen möglichen Lebensbereichen und Zeiten: Sprachaufnahmen, Laute, phonetische Besonderheiten und Melodien der unzähligen Dialekte, die er um sich herum wahrnimmt. Dieses akustische Material verarbeitet er dann in seinen Kompositionen.
2020 und 2021 war Emre Dündar Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Leonie Reineke hat ihn getroffen und mit ihm über seine künstlerische Arbeit gesprochen.
Emre Dündar, du bist Komponist, Dirigent und Pianist. In einem deiner Stücke wirkst du aber auch als Rezitator und Stimm-Improvisator mit. Bist du also auch ausgebildeter Sänger oder Stimmperformer?
Nein, ich bin eigentlich kein Stimmperformer! Ich wirke nur bei meinem Projekt »Parergon« mit meiner eigenen Stimme mit. Es geht darin um ausgestorbene oder vom Aussterben bedrohte Sprachen aus Anatolien. Ich habe viele solcher Sprachklänge über Jahre aufgenommen und transkribiert. Und später habe ich diese Klänge als kompositorisches Material verwendet. Ich habe versucht, mir die akustischen Eigenschaften der Sprachen ins Bewusstsein zu rufen und dann damit improvisiert. Das ist die Vorbereitung für einen Kompositionsprozess. Auf Basis dieser Arbeit kann ich dann für andere Musiker schreiben. Aber erst einmal muss ich ein wenig mit meiner eigenen Stimme herumprobieren.
Die Verbindung von Musik und Sprache ist auch generell ein zentrales Thema in deinen Kompositionen. Was fasziniert dich an Sprache beziehungsweise am Sprechen?
Das Konzept des Erzählens ist für mich eine basale Eigenschaft meiner Arbeit. Und sprachliche Phänomene sind ein großer Bestandteil von Erzählungen; und zwar in allen Lebensbereichen, auch im Alltag. Wenn Menschen flirten, streiten, diskutieren – das sind für mich musikalische Ereignisse. Ich höre sehr gerne Menschen zu, wenn sie sich unterhalten. Denn jeder von uns hat eine andere Art, zu sprechen, eine andere Art, seine Stimme einzusetzen, Worte zu artikulieren, sich auszudrücken. Und dann gibt es nochmal besondere Unterschiede zwischen Kulturen und Regionen. Zum Beispiel sprechen die Menschen auf der Seite von Anatolien, die an das Schwarze Meer grenzt, extrem laut – selbst, wenn es um eine heimliche Liebesbeziehung geht. Wenn man ihnen zuhört, denkt man zuerst, sie seien aufgebracht oder verärgert. Aber das stimmt nicht. Sie sprechen einfach immer so, egal um was es geht. Und das Verrückte ist, dass sie am Ende eines Satzes immer ganz sanfte, leise Glissandi machen. Das ist sehr merkwürdig. Solche typischen Eigenheiten von Sprachen oder Dialekten gibt es überall. Für mich sind das musikalische Qualitäten. Denn die Menschen drücken sich eben nicht nur über Worte aus, sondern auch über ihren Sprachstil, Artikulation, Sprechlautstärke, Tempovariationen und so weiter. Spannend finde ich auch, die Klanglichkeit verschiedener Sprachen zu vergleichen.
In den kaukasischen Sprachen zum Beispiel gibt es sehr viele Konsonanten. Das klingt sehr rhythmisch. Andere Sprachen klingen deutlich melodischer. Das hat mit der Balance zwischen Konsonanten und Vokalen zu tun. Aber natürlich gibt es noch viele andere Dinge, die Sprachen ihre jeweilige Eigenart verleihen. Und das interessiert mich für meine kompositorische Arbeit – vor allem, wenn es um die Mikroebene eines Stückes geht. Mit Blick auf die großformale Anlage einer Komposition denke ich in narrativen Mustern. Viele andere Komponisten betrachten Musik vielleicht eher als abstrakte Kunstform und eine Komposition als Objekt, als Skulptur. Ich dagegen plane meine Stücke immer von links nach rechts – wie eine Erzählung, die man in einem Buch lesen kann. Deshalb ist ein wichtiger Ausgangspunkt für meine Arbeit auch das Erforschen von narrativen Konzepten in der Kunstgeschichte.
Und wie übersetzt du dann deine Vorstellungen von Erzählung und von Sprachklang in Musik?
Manchmal suche ich bestimmte Aspekte eines Sprachklanges heraus und versuche, Sie auf Musikinstrumente zu übertragen. Man kann eine Spektralanalyse eines Sprachfragments mit dem Computer machen und dann nach Ähnlichkeiten im Spektrum eines bestimmten Instruments suchen. Man kann aber auch einfach mit seiner Intuition und seiner Hör-Erfahrung arbeiten. Ich weiß ja, wie zum Beispiel eine Klarinette klingt. Und ich kann mir eine grobe Vorstellung davon machen, was mit den Artikulationsmöglichkeiten dieses Instruments machbar ist und was nicht. Außerdem improvisiere ich ja immer noch mit meiner Stimme, um mir die Eigenschaften eines Klangs zu vergegenwärtigen. Ich habe dafür etliche Tonaufnahmen von verschiedenen sprechenden Menschen angesammelt. Das ist sozusagen mein »figuratives Reservoire«, aus dem ich all meine Ideen für musikalische Figuren ableite.
Du bist auch Mitglied des »Istanbul Composers Collective«. Was ist das für eine Gruppe? Und wann und vor allem warum ist sie entstanden?
Ich denke, dass Verbindungen zwischen Komponisten enorm wichtig sind. Denn besonders in meinem Heimatland – der Türkei – ist man viel allein, wenn man Komponist ist. Zeitgenössische Musik zieht ja auch keine Massen von Menschen an. Und um weniger allein zu sein, haben ein paar Kollegen und ich irgendwann entschieden, dieses Kollektiv zu gründen, um unsere Ideen und kompositorischen Werkzeuge miteinander zu teilen. Natürlich geht es auch darum, eine bessere Informationskultur in der Szene zu etablieren und gemeinsam Projekte zu initiieren. Mit einigen Kollegen habe ich schon unzählig viele Konzerte auf die Beine gestellt. Und auch, wenn ich aktuell in Deutschland bin, stehen wir weiterhin in engem Kontakt. Jeder von uns weiß immer, woran die anderen gerade arbeiten. Und wir zeigen uns unsere Arbeit auch gegenseitig, kritisieren uns, geben Feedback.
Im Kern sind wir sechs Mitglieder. Manche von uns sind nicht nur Komponisten, sondern auch Musiker. So können wir regelmäßig Aufnahmesessions zusammen machen, in denen wir improvisieren und experimentieren. Auf diese Weise teilen wir uns einen großen Pool von musikalischen Inspirationen, auf den wir alle zugreifen können. Und daraus kann jeder von uns wieder neue Ideen für seine eigene Arbeit entwickeln.
Du hast dich dazu entschieden, nach deiner DAAD-Residenz erst einmal weiterhin in Berlin zu bleiben. Wie kam es dazu?
Ich kam damals nach Berlin, einen Monat vor Ausbruch der Coronapandemie. Insofern konnte ich weder die Stadt und ihr Kulturleben erkunden, noch konnte ich meine geplanten Projekte realisieren. Gegen Ende meiner Residenzzeit bekam ich dann eine Förderung vom Berliner Senat, um etwas für das Ensemble KNM Berlin zu komponieren. Seitdem bin ich hier geblieben und habe mich sehr an die Stadt gewöhnt. Inzwischen ist das Kulturleben ja auch wieder einigermaßen auf den Beinen.
Das mag wie ein Klischee klingen, aber für einen Künstler ist es sehr leicht, Berlin zu mögen. Hier liegt dieses seltsame Gefühl in der Luft, frei zu sein. Man spürt es auf den Straßen, sieht es in den Gesichtern der Menschen … Ich liebe dieses Gefühl. Auch wenn es natürlich erst einmal nicht einfach ist, als Komponist aus dem Ausland in Berlin Fuß zu fassen.
Hattest du während deiner Zeit in Berlin spannende Begegnungen mit anderen Menschen, anderen Künstlern? Haben sich neue kollaborative Projekte entwickelt?
Ich bin grundsätzlich sehr interessiert an Lyrik. Dieses Feld hat meine Arbeit schon immer mitbestimmt. Während meiner Zeit in Berlin habe ich großartige Persönlichkeiten kennengelernt, wie etwa die Schriftstellerinnen Don Mee Choi und Odile Kennel. Mit vielen habe ich mich angefreundet. Mir macht es Spaß, gemeinsame Projekte mit Lyrikern zu realisieren. Und andersherum haben auch viele Schreibende Lust darauf, mit Musikern zu arbeiten.
Natürlich habe ich aber auch eine Menge Musikerinnen und Musiker kennengelernt – im Zuge der Aufführung meiner Kompositionen zum Beispiel. Ich bin allerdings mindestens genauso leidenschaftlich im Bereich der improvisierten Musik unterwegs. Mit anderen Impro-Musikern auf der Bühne zu stehen, gibt mir nochmal eine andere, unmittelbarere Energie als das Komponieren. Ich versuche, in diesem Bereich noch viel mehr zu machen. Denn ich möchte nicht, dass dieses typische Bild des an den Schreibtisch gefesselten Komponisten meine gesamte Identität ausmacht. Ich begreife mich selbst eben auch als Musiker.
Gibt es etwas, dass dich in Berlin überrascht hat – etwas Unerwartetes, womit du nicht gerechnet hattest?
Ja, und das sind verschiedene Dinge. Erst einmal habe ich das Werk von Komponisten entdeckt, die außerhalb von Deutschland nicht besonders bekannt sind. Georg Katzer wäre da eines von vielen Beispielen. Überraschende Entdeckungen dieser Art kann man hier gut machen, scheint mir.
Etwas anderes, das mir aufgefallen ist, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Kunst in Berlin gehegt und gepflegt wird. Die enorme Präsenz und auch das Untereinander-Teilen und Miteinander-Kommunizieren von allen möglichen zeitgenössischen Kunstformen springt sofort ins Auge. Für diejenigen, die hier geboren sind, mag das nichts Besonderes sein. Aber ich als ausländischer Künstler registriere das mit großer Faszination. Dass freie Kunst einen derart natürlichen Teil des Stadtlebens ausmacht, sehe ich als große historische Errungenschaft und Chance, derer man sich unbedingt bewusst sein sollte.
Gleichzeitig habe ich aber auch festgestellt, dass diese Selbstverständlichkeit offenbar hin und wieder dazu führt, dass künstlerische Projekte zu schnell und mit zu wenig Sorgfalt aus dem Boden gestampft werden. Das ist schade, denn ich halte es für wichtig, seine Arbeit immer genau zu durchdenken und diszipliniert zu bleiben. Kunst ist eben doch harte Arbeit und kein Job, den man schnell und lieblos erledigen kann.
Manchmal sind es aber auch einfach andere Arbeitsformen, die zu einem bestimmten künstlerischen Ergebnis führen. Da gibt es manches, dem ich bisher eher skeptisch gegenüberstand – Trends beispielsweise, die in eine neo-konzeptuelle Richtung gehen. Und trotzdem muss ich sagen, dass ich beobachte, dass ich auch in dieser Hinsicht offener geworden bin. Berlin hat meine Vorbehalte ein wenig gelockert. Ich selbst halte zwar fest an einer strengen kompositorisch-handwerklichen Disziplin, aber natürlich gibt es auch viel anderes, das ich wertschätze. Der ästhetische Wert einer Komposition bemisst sich meines Erachtens vor allem an der Aufmerksamkeit, die ihr Schöpfer kleinsten Details geschenkt hat. Und wenn eine solche Art der Arbeit in einem Musikstück steckt, dann vermittelt sich das auch seinen Hörerinnen und Hörern. ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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