By Hannah Kendall, Harald Kisiedu and George Lewis
Übersetzt aus dem Englischen von Rebecca Beyer
Harald Kisiedu (HK): Hannah, George, vielen Dank, dass ihr an diesem Gespräch teilnehmt! Es ist toll, dass wir alle die Zeit gefunden haben, zusammenzukommen. Elisa Erkelenz bat uns, unsere Gedanken darüber zu äußern, wie zeitgenössische Musik diversifiziert werden kann. Unter anderem sollten wir uns vorstellen, wie die Donaueschinger Musiktage in den nächsten hundert Jahren aussehen könnten.
Hannah Kendall (HSGK): Diese Frage finde ich besonders interessant – also wie das Festival in den nächsten hundert, oder auch in nur zehn oder gar fünf Jahren aussehen könnte! Zunächst finde ich es großartig, und natürlich sehr wichtig und zeitgemäß, Musik von Schwarzen Komponist*innen aktiv in die Programme miteinzubeziehen. Aber was steckt hinter diesem Sinneswandel? Wie können wir uns sicher sein, dass dies eine langfristige Veränderung ist?
George Lewis (GL): Beim Afro-Modernism-Symposium des Ensemble Modern im November 2020 stellte Martina Taubenberger die ziemlich direkte Frage an Björn Gottstein: »Warum gibt es so wenige Composers of Color, die tatsächlich in die Programme mit aufgenommen werden? Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?« Björn gab zu, dass das Festival, das 2021 sein hundertjähriges Jubiläum feiert, in den letzten Jahrzehnten sehr wenige Composers of Color im Programm hatte.
HK: Tatsächlich war es so, dass sich vor der Premiere von Elaine Mitcheners On Being Human as Praxis in 2020 die Präsenz von Schwarzen Musiker*innen in Donaueschingen ausschließlich auf den Bereich des Jazz beschränkte.
Hannah Kendall
Ihre Arbeit wurde von der Sunday Times als »komplex und gekonnt« bezeichnet. Werke sind u.a. Disillusioned Dreamer (2018), vom San Francisco Chronicle für ihr »reiches Innenleben« gewürdigt, sowie The Knife of Dawn (2016), eine Kammeroper, die wegen der klaustrophobischen Darstellung des Gefängnisaufenthalts von Martin Carter, einem guyanischen politischen Aktivisten, von Kritiker*innen gelobt wurde. Sie wurde 2020 an der Royal Opera House in London uraufgeführt. Ihre Werke werden ausgiebig und plattformübergreifend gespielt, von Ensembles wie dem London Symphony Orchestra, New York Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, San Francisco Symphony, Ensemble Modern, und London Sinfonietta.
GL: Das stimmt, und ich war ja sogar 1976 da, zusammen mit Anthony Braxton. Aber was die Komponist*innen betrifft, die als ›klassisch‹ identifiziert sind, was wir damals nicht waren: Vor dem Projekt von Elaine Mitchener gab es nicht nur »sehr wenige«, sondern tatsächlich gar keine. Es war also Björn, der diese hundert Jahre alte Barriere in Donaueschingen durchbrochen hat. Elaines Projekt hatte so eine Art Jackie-Robinson-Aspekt, da drei Schwarze Komponist*innen gleichzeitig da waren: Jason Yarde, Matana Roberts und ich. 2019 war das ähnlich; ich erinnere mich, wie ich zu Ilan Volkov sagte, dass das Ensemble intercontemporain mit Roscoe Mitchell, Tyshawn Sorey und mir vermutlich zum allerersten Mal Werke Schwarzer Komponist*innen aufgeführt habe. Das Ensemble spielte unsere Werke großartig, aber die PR für dieses Event stellte uns als Outsider dar im Verhältnis zu der Welt der ›Musique Contemporaine‹. Man sagte, dass wir uns unseren »zeitgenössischen Pendants gegenüber neugierig und interessiert zeigten« – das ist eine seltsame Art, jemanden zu beschreiben, der einen Lehrstuhl für Komposition an der Columbia University innehat. Aber über diese Art von Identitätspolitik werden wir ja vermutlich im Laufe dieses Gesprächs noch genauer diskutieren.
HSGK: Dieses Thema betrifft mich nicht nur als Komponistin. In Großbritannien habe ich auch sehr viele Jahre im künstlerischen Management gearbeitet, wo ich mich für Diversität in diesem Sektor einsetzte und auch viel Widerstand von sogenannten ›gatekeepern‹ gespürt habe. Gibt es jetzt ein wahres Erwachen? Was passiert, wenn die Leiter*innen der Festivals und der Veranstaltungsorte weiterziehen? Mich hat die Keychange-Initiative sehr beeindruckt, und mit welchem Einsatz sie sich für Gendergerechtigkeit bei Festivals starkmacht. Organisationen können sich dort anmelden und bleiben angemeldet, auch wenn jemand neues die Leitung übernimmt. Die BBC Proms haben sich zum Beispiel registriert, und dort herrscht jetzt grundsätzlich eine bessere Balance. Die PRS-Stiftung in Großbritannien launchte neulich Power Up, eine »[…] neue, ambitionierte und langfristige Initiative, die Schwarze Musiker*innen, Branchenexpert*innen und Führungskräfte unterstützt, sowie anti-Schwarzen Rassismus und Ungleichheit im Musiksektor bekämpft.« Es wäre toll, wenn Festivals sich bei solchen Initiativen anmelden und sich dazu verpflichten könnten, bis zu einem bestimmten Jahr einen gewissen Prozentsatz an Diversität und guter Repräsentanz in den Programmen zu erreichen.
HK: Ganz genau. Momentan gibt es in Deutschland Konflikte bezüglich des jüngst ins Leben gerufenen Deutschen Jazzpreises. Eine Musiker*innen-Initiative namens Musicians For lehnt sich dagegen auf, dass unter den Preisträger*innen fast keine einzige Person of Color ist. Viele deutsche Kulturinstitutionen sträuben sich dagegen, dieses Thema anzugehen, oder es überhaupt erstmal als Thema anzuerkennen.
GL: Georgina Borns berühmtes Buch über das IRCAM ist ein fantastisches Modell, anhand dessen sich die Komplexität der zeitgenössischen Musikwelt nachvollziehen lässt, und selbst dieses Buch bietet nur einen Ausgangspunkt. Aus ihrer Perspektive sieht die zeitgenössische Musik aus wie ein Tausendfüßler: Hochschulen, Verlage, Kurator*innen, Stiftungen, Wissenschaftler*innen, Kulturbehörden, Kritier*innen, Journalist*innen, Musikhistoriker*innen, Professor*innen und viele mehr. Das Produkt aus den Tätigkeiten all dieser Gruppierungen, ob sie bewusst oder unbewusst an einem Strang ziehen, ist Wissen – oder das, was sich Wissen nennt. Und viel von diesem ›Wissen‹, das sich über die Jahrzehnte angehäuft hat, unterfüttert die Idee, dass es völlig richtig ist, Schwarze afro-diasporische Klänge, Arbeitsweisen, Geschichten und Perspektiven auszulöschen.
HK: Selbst die heutige zeitgenössische klassische Musik hält scheinbar daran fest, was der kritische Theoretiker Fred Moten hervorhob, nämlich dass es eine tiefere, vielleicht auch unbewusste Konzipierung gibt, dass die Avantgarde zwangsläufig nicht-Schwarz ist.
GL: Es erscheinen sogar jetzt noch Bücher über ›Die Zukunft der Musik‹, in denen keine einzige Schwarze Person erwähnt wird, und da muss ich an die Künstlerin Alisha B. Wormsley denken. Alles was sie tun musste, um Zensur zu provozieren, war, eine große Plakatwand aufzustellen mit den Worten: »Es gibt Schwarze Menschen in der Zukunft.« Vielleicht sollte ich Karten mit diesem Text drucken lassen, wie Adrian Pipers Calling Cards, und sie an diese Autor*innen schicken. Oder vielleicht könnte das mein Statement bei Fragerunden nach Vorträgen sein: »Wissen Sie, es gibt tatsächlich Schwarze Komponist*innen in der Zukunft.«
HK: Ja, und zwar deshalb, weil es in der Vergangenheit Schwarze Komponist*innen gab, die die axiomatischen Darstellungen der westlichen klassischen Musik als historisch und institutionell gesehen weißes Gebiet infrage stellten. Ich denke da an die afroamerikanischen Komponist*innen, die 1968 in New York die Society of Black Composers gründeten. Sie wollten einen institutionellen Raum schaffen, um Schwarze Komponist*innen und deren Werke und Ideen hervorzuheben, durch Konzerte, Symposien und Vorträge. Sie unterschieden nicht zwischen Genres. Sie waren überzeugt, dass Musik als Medium für den sozialen Wandel dienen könne, der das kulturelle Leben afroamerikanischer Communities bereichern würde.
Harald Kisiedu
Der Musikwissenschaftler hat an der Columbia University promoviert. Seine wissenschaftlichen Interessen sind u.a. Jazz als globales Phänomen, die Musik der afrikanischen Diaspora, Musik und Politik und Wagner. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Schriften über Peter Brötzmann, Ernst-Ludwig Petrowsky, Muhal Richard Abrams, über Jazz und Popularmusik im Konzentrationslager Theresienstadt sowie über Schwarze Komponist*innen. Kisiedu ist auch Saxophonist und stand u.a. mit Branford Marsalis und Henry Grimes auf der Bühne. Er lehrt Jazzgeschichte und Jazzwissenschaft an der Hochschule Osnabrück. Sein Buch European Echoes: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975 erschien 2020 im Wolke Verlag.
HSGK: Ich sehe da gewisse Ähnlichkeiten mit der Keychange-Initiative, bei der es darum geht, aktiv die Quote der Komponistinnen bei Festivals zu erhöhen. In Großbritannien lag 2011 der Anteil von Komponistinnen landesweit noch bei 13 Prozent. Die Initiative hat es also geschafft, den Prozentsatz professionell arbeitender Komponistinnen zu erhöhen. Die Power-Up-Initiative ist ganz ähnlich, befasst sich aber speziell damit, die Repräsentanz Schwarzer Komponist*innen, Musikschaffender und Songwriter*innen langfristig zu erhöhen. Dafür kooperiert sie mit Festivals, Kunstzentren etc.
GL: Aber was bedeutet Gendergleichheit in diesem Zusammenhang? Als wir 2018 bei den Berliner Festspielen das Projekt Defragmentation vorstellten, war dort auch eine Gruppe namens GRiNM – Gender Relations in New Music, die ihrerseits eine, wie soll man sagen, Art Gegendarstellung boten zu unserer These. Sie forderten hier und jetzt, dass 50 Prozent aller Festivalprogramme durch Frauen – Komponistinnen – bestritten werden sollten. Ist das die Definition von Gendergleichheit, in diesem Fall?
HSGK: Ja, ihr Ziel ist es, dass die Programme zu 50 Prozent aus Menschen bestehen, die sich als weiblich identifizieren oder einer Gender-Minderheit angehören.
GL: Okay, aber siehst du da keine Schwierigkeiten? Gibt es überhaupt genügend entsprechende Leute, dass man das einfach durchziehen kann?
HSGK: Ja, ich denke schon.
GL: Na, ich bin mir da nicht so sicher, und mir ist das ein Rätsel. Beispielsweise gelten ja die Kompositionsklassen der Hochschulen als Quelle für Neuzuwachs in dieser Branche. Die Lebensläufe sind in den Programmen abgedruckt und die Kurator*innen werfen einen Blick drauf: »Ah, diese Person hat an dieser oder jener Hochschule bei dem und dem Komponisten studiert.« Nach mehr als 30 Jahren Erfahrung als Jurymitglied an Universitäten, bei Stipendienvergaben oder Zulassungsprüfungen etc. kann ich jedoch sagen: Von den Bewerbungen auf Jobs oder auf Studienplätze im Fach Komposition kommen selten mehr als 20 Prozent von Frauen. Nun sollen also, trotz jahrzehntelanger Exklusion und Diskriminierung auf allen Ebenen, und trotz der Tatsache, dass es in vielen, ja sogar in den meisten Kompositionsklassen nach wie vor kaum Frauen gibt, die Frauen plötzlich da sein und Schlange stehen? Wo kommen denn all diese Frauen her, wenn sie nicht an den einschlägigen Hochschulen studiert haben?
HSGK: Wahrscheinlich machen sie ihr Ding im Alleingang. Meine Oper, The Knife of Dawn, wurde im Oktober 2020 auf der Hauptbühne der Royal Opera House uraufgeführt. Es war die erste Oper einer Person of Color, die dort jemals gezeigt wurde, und erst die dritte Oper aus der Feder einer Frau. Aber es war eigentlich ein selbst produziertes Projekt, das ich 2015/2016 begonnen hatte. Zu der Zeit war ich frustriert, dass es in Opern keine Rollen speziell für Menschen afro-karibischer Abstammung gab, und so dachte ich: Die einzige Möglichkeit, das zu ändern, ist, es einfach selbst zu machen. Auch habe ich damals im künstlerischen Management gearbeitet, und ein solches Auftragswerk schien erstmal nicht in greifbarer Nähe zu sein.
Was ich sagen möchte: Als dann 2020 das Royal Opera House ein Werk von mir aufführen wollte, stand dieses Stück schon in den Startlöchern. Das zeigt, dass vielleicht was dran ist an der Umverteilung von Fördergeldern für Künstler*innen. Denn auch wenn Künstler*innen von den einschlägigen Festivals und Veranstaltungsorten ausgeschlossen werden, heißt das ja nicht, dass sie nicht trotzdem arbeiten und finanzielle Unterstützung brauchen, um ihre Werke zu schaffen. In der Finanzierungsphase für The Knife of Dawn kam es zu der Situation, dass mir die Fördermittel ausgegangen waren, zu denen ich in Großbritannien Zugang hatte, und glücklicherweise ist das restliche Geld aus einem Topf in der Schweiz gekommen. Ohne dieses Wunder, das durch einen Freund zustande gekommen war, würde das Werk heute nicht existieren. In Großbritannien fließen die Gelder meist an eingetragene Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen, also genau an diejenigen, die, geschichtlich betrachtet, keinen Sinn für Inklusion haben, und ich denke mir: Indem man Komponist*innen die Möglichkeit bietet, ihre Werke zu ihren eigenen Bedingungen zu kreieren und aufzuführen, kann man doch zumindest sicherstellen, dass es mehr und mehr Werke gibt.
GL: Das ist ein sehr guter Punkt. Für mich bedeutet nämlich Gerechtigkeit auch Investition, nicht nur die Gleichheit unter dem Strich oder die Gleichheit der Proportionen bei der Repräsentanz auf Programmen. Anthony Davis, einer der herausragendsten Komponisten der USA, dem 2020 der Pulitzer-Preis verliehen wurde und dessen Musik in Europa fast gar nicht aufgeführt wird, ist nach wie vor der einzige Schwarze Komponist, der jemals große Produktionen an den bedeutenden Opernhäusern und Theatern hatte. Wir dürfen uns also nicht darauf beschränken, die Komponist*innen zu zählen, sondern müssen auch in Betracht ziehen, wieviel die Branche in deren Arbeit investiert – z.B. bei der Frage: Orchesterwerk oder Trio? Wird ein neues Werk in Auftrag gegeben oder bedient man sich schon existierender Stücke? Jemand rief mich neulich an und fragte, ob ich ein Stück empfehlen könne, von einer Schwarzen Komponistin, 16 Minuten, Besetzung mindestens 12 Musiker*innen. Ich musste antworten, dass ich, in Anbetracht der ästhetischen Ausrichtung des Ensembles (die man ja mit bedenken muss), es nicht oft erlebt habe, dass Schwarze Frauen Aufträge dieser Größenordnung erhalten, und dass er es unbedingt in Erwägung ziehen sollte, ein Werk in Auftrag zu geben. Es wird so wenig investiert, also müssen neue und substanzielle Aufträge denen erteilt werden, die zuvor ausgeschlossen waren. Wenn die Low-Budget-Aufträge unverhältnismäßig oft an Komponistinnen und speziell an Schwarze Frauen vergeben werden, dann ist das ein Gerechtigkeitsproblem, eine Ungleichheit der Investitionen, die nicht aus den reinen Zahlen ersichtlich ist.
HSGK: Es ist interessant, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Menschen in dieser Branche früher alles gesagt haben. Ich habe lange im künstlerischen Management gearbeitet, für eine Organisation, die versuchte, eine Wende herbeizuführen. Und mir wurde ständig gesagt: »Ach, weißt du, wir müssen einfach Programme fürs Publikum machen. Was die hören wollen, präsentieren wir ihnen.« Und jetzt, in den letzten Jahren, präsentieren sie endlich Artists of Color und schaffen Arbeitsplätze für eine Vielfalt von Künstler*innen. Aber was hat sich eigentlich genau verändert? Denn für mich ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ich könnte jede einzelne Absage zitieren, die mir früher erteilt wurde, als ich versuchte, bei Konzerthäusern, Veranstaltungsorten und Festivals für Diversität zu werben. Jetzt, seit einem Jahr, gibt es diesen neuen Drive. Ich bin mir nicht sicher, was es genau ist, aber es ist ein interessantes Thema. Und jetzt weiß man nicht, was man denen sagen soll – sowas wie »Echt jetzt? Vor zehn Jahren war euch das alles scheinbar egal! Was ist denn jetzt plötzlich passiert?«
GL: Ich heiße es sehr willkommen, wenn Menschen ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen, vor allem wenn sie an Fördermittel geknüpft ist. Was wir jetzt aber viel sehen, sind Standardformulierungen wie »Black lives matter«, und dass man seine Schwarzen Kolleg*innen unterstützen soll u.s.w., von Institutionen, die bis heute keine Schwarzen Komponist*innen in ihre Programme einbezogen haben.
HSGK: Du meine Güte, habt ihr die Geschichten über das Barbican Center gelesen? Das ist das größte Kulturzentrum in Europa, und ich habe dort früher als Pressesprecherin für die klassische Musik gearbeitet. Kürzlich wurde ein Buch veröffentlicht mit einer Sammlung von Aussagen Schwarzer Mitarbeiter*innen, die von Rassismus in Bezug auf die Programmzusammenstellung berichten, und auch von persönlichen rassistischen Übergriffen. Das war ein unglaublich mutiger Schritt, finde ich. Ich selbst habe keinen Beitrag geschrieben, aber es ist alles drin. Das gab eine riesige Kontroverse in Großbritannien. Die schreiben sich auf die Fahne, ein Ort von Gleichheit und Diversität zu sein, und die Künstler, die sie präsentieren, zu diversifizieren. Aber hinter der Fassade laufen all diese Dinge ab.
GL: Du warst jetzt schon in vielen dieser Gremien. Findest du, die Gremien sind in sich divers?
HSGK: Nein, nicht wirklich. Ich habe die Gremien verlassen, weil ich langsam frustriert war und mich gefragt habe, ob die mich nur dabeihaben wollten, um divers auszusehen, aber nicht wirklich hören wollten, was ich über die Realität dieser Branche zu sagen hatte. Also dachte ich, warum verschwende ich meine Zeit damit, wenn ich mich darauf konzentrieren könnte, die beste Musik zu schreiben, die ich überhaupt schreiben kann?
GL: Ja, so fühle ich mich auch langsam, vor allem, seitdem ich 69 Jahre alt geworden bin und mich frage, wieviel Zeit mir noch bleibt, um mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Ich war momentan Teil einer Jury, deren Regelwerk es erlaubte, zusätzlich zu den Bewerber*innen weitere Leute vorzuschlagen. Das ist ja an sich eine Möglichkeit, Diversität zu fördern. Aber ich war das einzige Jurymitglied, das Schwarze Menschen vorschlug, und diese waren dann die einzigen Schwarzen Menschen unter allen Bewerbungen. Diese drei Leute. Und ich war die einzige Schwarze Person in der Jury. Also begann ich mich zu fragen, was ich eigentlich hier mache. Sollte ich einfach aufhören, oder sollte ich als Fürsprecher bleiben? Würden die Leute den kulturellen Standpunkt dieser Werke genau so gut verstehen wie den der übrigen Werke? Da kommt die Frage auf, was für einen institutionellen Stempel die Anwesenheit einer Person of Color diesem Prozess eigentlich aufdrückt, in Bezug auf die Branche. Das fällt in die Rubrik ›systemisch ‹. Aber letztendlich bin ich optimistisch hinsichtlich der Möglichkeiten, denn wir lernen uns ja alle kennen. Und manchmal entsteht etwas Großartiges aus diesen Interaktionen. Du darfst nicht zynisch werden. Du findest heraus, dass auch weiße Menschen sich für Black Lives Matter einsetzen können. Was ich jedoch sagen will, ist: Wir brauchen neue Kurator*innen, wir brauchen neue Gremien. Wir brauchen neue Menschen, die die Institutionen aufrütteln. Es ist ja nicht so, dass Schwarze Kurator*innen so schwer zu finden wären.
HK: Wisst ihr, das war eine der Hauptforderungen von Musicians For: ein Gremium von größerer Diversität. Vor einiger Zeit war ich bei einer Podiumsdiskussion eingeladen, in Verbindung mit einem Jazzfestival, und das Thema war Gender und Diversität. Ich erinnere mich an eine Diskussionsteilnehmerin, sie war Mitglied einer Rundfunk-Bigband und erzählte von ihren Erfahrungen als einzige Frau in dieser Band. Die Diskussion dauerte ca. zwei Stunden, aber das Thema der Diversität im Hinblick auf Ethnizität und race kam nie wirklich auf. Die Leute sind sehr, sehr widerwillig. Ich glaube, manche Menschen denken sogar, dass sich Diversität auf Gender reduzieren lässt. Aber jenseits dessen gibt es etwas, das in Deutschland immer mehr hinterfragt wird, und das ist der Gedanke, dass die Debatte über race hierzulande nicht zu vergleichen ist mit dem, was in den USA los ist, als könne man sagen: Damit müssen wir uns doch hier nicht mehr befassen.
GL: Das bedeutet, dass man die verschleiernde Sprache der »Diversität« hinter sich lassen muss. Bei der klassischen Musik gibt es viele Löcher im Dach, und der Regen kommt jetzt stark rein. Ich sah keine Notwendigkeit, zu versuchen, mich all dieser Löcher anzunehmen, nur ein paar, bei denen ich mich dazu qualifiziert gefühlt habe. In diesem Fall: die Tendenz unserer Branche, alles Schwarze auszuradieren – etwas, worüber man nicht sprach.
HSGK: Was ich interessant fand: Die Umfrage, die Power Up mit Schwarzen Komponist*innen durchgeführt hat, ergab, dass hundert Prozent der befragten Komponist*innen in der klassischen Musikbranche schon einmal Rassismus erfahren haben. 100 Prozent!
GL: Ich hoffe, es ist noch nicht so weit gekommen, dass Schwarze Komponist*innen bedroht und ausgebuht werden, so wie Lewis Hamilton oder Simone Biles, oder auch diese englischen Fußballer.
HSGK: Das Ausbuhen ist ja eher privat, das passiert hinter verschlossener Tür und offenbart sich in Form von Abwesenheit. Diese Abwesenheit zeigt, was die Prioritäten in der Szene sind. Mein Eindruck ist, dass Donaueschingen sich eigentlich als hochpolitisiertes Festival positioniert hat, als Raum, wo Künstler*innen und Komponist*innen hochpolitisierte Werke vorstellen und diskutieren können. Aber meine Kritik daran ist, dass diese Politik bis vor kurzem unglaublich engstirnig war. Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass aktiv versucht wird, sich zu öffnen. Und natürlich hat Elaine Mitchener einen Teil zu dieser Öffnung beigetragen.
GL: Naja, was ist denn die Identität de Donaueschinger Musiktage? Ist es ein europäisches Festival? Ist es eine Darstellung von Europa? Und wenn Europa sich gerade ändert, sollte das Festival das nicht reflektieren? Oder wenn das Festival auch internationale Komponist*innen präsentiert, sollte diese Art von Veränderung auch reflektiert werden?
HK: 1957 stellte der deutsche Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt das Modern Jazz Quartet in Donaueschingen vor. Das war das erste Mal, dass afroamerikanische Musiker bei dem Festival auftraten. Dieses Konzert war in aller Munde und stellte sogar die deutsche Erstaufführung von Igor Strawinskys Agon in den Schatten. Anschließend verschwand plötzlich der Jazz für die nächsten zehn Jahre vom Festivalprogramm.
GL: Das ist absurd, war aber irgendwie zu erwarten.
HK: 40 Jahre nach diesem Konzert erschien ein Artikel von Berendt in einem Buch, das von Josef Häusler herausgegeben wurde. Dieser Artikel lieferte eine Erklärung für das Verstummen des Jazz auf dem Festival: Der Musikwissenschaftler Heinrich Strobel, der in Donaueschingen großen Einfluss hatte, hatte kurz vor seinem Tod gesagt, so sehr er den Jazz liebte – wäre er weiterhin Teil des Festivals geblieben, so hätte er im Laufe der Jahre vielleicht die zeitgenössische Musik in den Hintergrund gedrängt.
GL: Wow! »Ihr werdet uns nicht ersetzen.« Das ist die wahre Identitätspolitik.
HK: Ein paar Jahre zuvor wollte Bernd Alois Zimmermann sein Trompetenkonzert in Donaueschingen zur Aufführung zu bringen. Er versuchte tatsächlich, einen Schwarzen Trompeter als Solist für sein Stück zu finden, welches vom Schwarzsein und von Unterdrückung handelte. Strobel riet Zimmermann davon ab, doch letztendlich wurde das eines seiner großartigsten Werke.
GL: Ich habe es 2015 bei den Ostrava Days mit Reinhold Friedrich gehört – fantastisch!
HK: In dem Buch von Häusler spricht Berendt auch über die Interaktion zwischen Jazzmusikern und Komponisten wie Stockhausen und Berio. Er sagt, sie haben sich mit den Musikern unterhalten und wollten gerne etwas über erweiterte Instrumentaltechniken lernen. Ich habe mich gefragt: Hast du Erinnerungen an euren Auftritt 1976 in Donaueschingen, und wie war die Rezeption?
GL: Nun ja, das war vor 45 Jahren. Ich habe ein Duo mit Anthony Braxton gespielt. An die Rezeption erinnere ich mich kaum, vielleicht sollte ich da mal nachforschen. Aber es gibt einen Mitschnitt unseres Konzerts, der ca. 20 Jahre später veröffentlicht wurde. Anthony verfolgte die zeitgenössische Musikszene. Ich selbst hatte damit gerade erst begonnen, hauptsächlich unter seiner Anleitung. Ich besuchte viele Konzerte, aber ich kannte natürlich niemanden. Wenn ich mir jetzt das Programm aus dem Jahr anschaue, sehe ich, dass ich Tristan Murails Mémoire/Érosion hätte hören können. Ihn kannte ich damals auch nicht, habe ihn aber 1982 am IRCAM getroffen, und später waren wir dann Kollegen in der Fakultät für Komposition an der Columbia University. Der einzige Name, an den ich mich erinnere, ist Michael Finnissy. Sein Stück machte großen Eindruck auf mich, und ich fand es bemerkenswert, dass viel von dem Material, das wir nutzten, sich mit dem überschnitt, was er machte. Aber wir waren abgegrenzt, im Jazzbereich.
HK: Aha, so ähnlich wie bei Plessy v. Ferguson? [Lachen]
GL: Separat, aber nicht ganz gleichberechtigt [lacht]. Aber das hatte auch seine Vorzüge, so habe ich zum Beispiel Albert Mangelsdorff und Zbigniew Seifert kennengelernt (Letzterer ist leider viel zu jung gestorben) und auch Michał Urbaniak und Urszula Dudziak. Doch mit dem Festival kam ich nicht wieder in Kontakt, bis Björn Gottstein mich 2017 einlud, um meinen Creolization of Classical Music-Vortrag zu halten. Ich glaube, Anthony wurde auch nicht wieder eingeladen, außer vielleicht einmal auf der Jazz-Seite. Er ist einer der bekanntesten Komponist*innen unserer Zeit, aber seine Musik wird in Europa nie gespielt, es sei denn er bringt sein eigenes Ensemble mit. Was die ›Klassik-Seite‹ der Donaueschinger Musiktage betrifft, war er lediglich ein Name auf der superlangen Liste Schwarzer Komponist*innen, die bis 2020 ignoriert wurden. Ein wunderbarer Musiker von einem dieser großartigen deutschen Ensembles für zeitgenössische Musik sagte mir, es sei schwierig, Anthonys Musik in Europa zur Aufführung zu bringen, da die Kurator*innen sie eher in die Jazz-Ecke steckten, was dann vom Genre angeblich nicht zu ihrer Ausrichtung passte. Aber heute, in Zeiten des Internets, dauert es doch nicht länger als fünf Minuten, sich einen Überblick über Braxtons Musik zu verschaffen. Das Genre ist also nur ein Vorwand. Jeder weiß, wer Braxton ist, und wer das nicht weiß, sollte vielleicht nicht in der Position sein, kulturelle Entscheidungen zu treffen. Es gibt jetzt andere Leute da draußen.
HK: So wie ich das sehe, formuliert die Society of Black Composers eine Identität, die darauf basiert, was Guthrie P. Ramsey ›Afro-Moderne‹ nennt: »Die Reaktion von Schwarzen weltweit auf Moderne, Globalität und Antikolonialismus sowie auf mehr Experimentierfreude und die Sichtbarkeit schwarzer expressiver Kultur.« Durch die Nutzung einer ganzen Bandbreite ästhetischer Referenzen sowie durch weitgreifende kulturelle Beimischung hat die Society of Black Composers es geschafft, den Radius zeitgenössischer Musik wesentlich zu erweitern.
GL: Und nun gibt es immer mehr dieser neuen Populationen, neue Menschen, die neues Wissen, neue Geschichten, neue Ästhetiken mitbringen und dadurch nicht nur die Haltung Neuer Musik in Bezug auf race, Gender und ethnische Identität verändern, sondern auch auf einer fundamentalen Ebene den Klang Neuer Musik, und wie wir sie wahrnehmen. Das verhindert eine Erstarrung der Szene, führt aber auch zu einer Dekolonisierungs-Situation, wo wir die Komfortzone verlassen und lernen müssen, ohne die bequemen Routinen der Vergangenheit zu leben, wie es Chinua Achebe in seinem Buch No Longer At Ease beschreibt.
George Lewis
Der Komponist, Musikwissenschaftler, technologische Künstler und Posaunist ist Professor für amerikanische Musik an der Columbia University in New York. Er ist ›Fellow of the American Academy of Arts and Sciences and the American Academy of Arts and Letters‹ und ›Fellow of the British Academy‹. Weiterhin wurde er ausgezeichnet mit dem MacArthur Fellowship, dem Guggenheim Fellowship und dem Doris Duke Artist Award. Zu seinen Büchern gehören A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music (University of Chicago Press, 2008) sowie das zweibändige Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies (Oxford University Press, 2016). Seine Kompositionen für Instrumente und Technik werden weltweit aufgeführt. Er ist Ehrendoktor an der University of Edinburgh, dem New College of Florida und der Harvard University.
HK: Diese Bemühungen, die Welt der zeitgenössischen Musik und Kunst zu dekolonisieren, um dem entgegenzutreten, dass die Afro-moderne klassische und experimentelle Musik aus Konzertprogrammen und aus historischen Narrativen gelöscht wird, diese Bemühungen sind noch intensiver seit Black Lives Matter und den dazugehörigen globalen Auswirkungen – aber man kann definitiv mit Widerstand rechnen. Ich habe einen Artikel des Historikers A. Dirk Moses gelesen, und dieser Artikel spielt eine zentrale Rolle in Zusammenhang mit einer Debatte, die momentan in Deutschland stattfindet. Er spricht von einer Wende hin zu einem illiberalen Nachkriegsliberalismus, der versucht, demographische, kulturelle, und letztlich auch politische und moralische Veränderungen einzudämmen, die mit Migration und Generationenwandel einhergehen. Das fand ich extrem aufschlussreich, und auch sehr passend in Bezug auf das, worüber wir hier diskutieren.
GL: Das erinnert mich jetzt an eine merkwürdige Konzertkritik über das Ensemble Modern, das im Rahmen der MaerzMusik 2021 ein Konzert zum Thema Afro-Moderne gegeben hat. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, dass das Konzert sich um einen »Schwarzen Klang« bemüht habe, man jedoch keinen Unterschied habe ausmachen können zwischen dieser und anderer zeitgenössischer Musik. Aber wir haben ja nie behauptet, dass wir versuchen, einen ›Schwarzen Klang‹ zu definieren. Wir haben einfach sechs Schwarze Komponist*innen vorgestellt, die Musik geschrieben haben. Wir taten also etwas, das die Szene in Europa gerade nicht tat. Dieses Konzert vereinte afrodiasporische Perspektiven aus Europa, der Karibik, Großbritannien, den USA und Afrika, alles in einem Konzert, genauso vielfältig wie die afrodiasporische Musikveranstaltung, die Elaine Mitchener und ich mit der London Sinfonietta kuratiert haben. Bei beiden Konzerten präsentierten wir Musik von Tania León, deren Oeuvre auf dem europäischen Festland selten gespielt wird, und die jüngst mit dem Pulitzer-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Es macht nicht wirklich einen Unterschied, ob man ein Konzert mit afrodiasporischer neuer Musik zusammenstellt oder mit französischer neuer Musik, aber dieser Typ wollte tatsächlich ›den‹ Schwarzen Klang definieren und dann beurteilen, wie Schwarz die jeweilige Musik ist. Das ist im Grunde ein Versuch, sich an Macht festzuhalten, während sich um einen herum alles ändert – so wie Moses sagt: demographischen Wandel einzudämmen, aber auch die Macht zu bewahren über die Art und über das Tempo, in dem sich Dinge wandeln.
HK: Dazu fällt mir ein: Vor einer Weile habe ich einen Artikel eines deutschen Musikkritikers in einer sehr konservativen deutschen Zeitung gelesen, in dem es um Lehrplanreformen in der Musikabteilung der Oxford University ging. Dort hatten sich Leute dafür ausgesprochen, beispielsweise Miles Davis oder Hip-Hop in den Lehrplan mit aufzunehmen. Der Kritiker war entsetzt und stellte die rhetorische Frage: »Will man wirklich einfach […] Peter Tschaikowsky durch Miles Davis ersetzen?«
GL: Nun ja, ich persönlich würde das in Erwägung ziehen. Aber diese Bemerkung erinnert mich an die ›culture wars‹ der 1990er Jahre in den USA, wo Menschen abschätzig behaupteten, auf der Suche nach dem Tolstoi der Zulus zu sein, um einen berühmten Romanautoren zu zitieren. Es wurden künstliche Dichotomien geschaffen – Identität oder Qualität, Vielfältigkeit oder Vortrefflichkeit.
HK: Ich fand, die Bemerkung dieses Kritikers war ein gutes Beispiel dafür, worüber Moses spricht: der kulturelle Wandel, der mit Migration und Generationenwandel einhergeht.
GL: Sowohl physische als auch konzeptuelle Migration. Wir befassen wir uns gerade mit einer solcher Angelegenheit an der Columbia. Ihr habt ja beide dort den Kurs ›Masterpieces of Western Music‹ unterrichtet. Aktuell setzen Studierende die Fakultät unter Druck, um eine Dekolonisierung dieses Lehrplans durchzusetzen, so ungefähr wie das, was sie an der Harvard gemacht haben, und speziell in Bezug auf Schwarze Komponist*innen.
HSGK: Ich weiß, wovon du mit Blick auf den Lehrplan sprichst. Kürzlich gab es in Großbritannien Auseinandersetzungen, weil ein Werk von Courtney Pine – dem einzigen Schwarzen Komponisten, dessen Oeuvre Teil eines Lehrplans auf nationalem Hochschulniveau war – herausgenommen werden sollte. Der Grund: Wegen der Pandemie hatten die Lehrkräfte Schwierigkeiten, die Prüfungen zu benoten. Also sollte, um es den Lehrenden einfacher zu machen, der Stundenplan reduziert werden. Doch es gab landesweit eine starke Reaktion darauf, und das Werk von Pine wurde wieder aufgenommen. Ich merke, dass viele Leute nicht mal wirklich den Begriff des Kolonialismus verstehen. Die ganze Windrush-Situation, als Menschen, die in den 1960er Jahren die britische Staatsbürgerschaft bekommen hatten, deportiert wurden, weil kein Verständnis darüber herrschte, was es hieß, aus einer britischen Kolonie zu stammen, ein ›British subject‹ zu sein – all das wird gar nicht gelehrt. Was meine eigene Musik betrifft, so interessiere ich mich immer mehr für die Idee der Kreolisierung, denn diese vereint auf eine Weise all diese Aspekte, über die wir gerade sprechen, und schafft Raum für Veränderung.
GL: Ich musste gerade an noch etwas denken, das Björn Gottstein bei dem Afro-Modernism- Symposium sagte: »Wissen Sie, Sie müssen einfach mit den richtigen Leuten darüber sprechen.« Das sehe ich genauso. Ich stelle mir gerne vor, wie nach unseren afrodiasporischen Veranstaltungen mit dem Ensemble Modern bei der MaerzMusik 2021 in Berlin die Handys heiß liefen vor lauter interessanten Gesprächen. Zum Beispiel könnte jemand eine*n Kritiker*in, Musikwissenschaftler*in, Professor*in oder Kurator*in angerufen haben: »Wow, das war ein fantastisches Konzert. Hast du von diesen Komponist*innen schon mal was gehört? Nein? Warum nicht? Vielleicht sollten wir neue Leute suchen, die mehr wissen.« Wir sind an einem Punkt, an dem neues Wissen zu einer Bedrohung der etablierten Ordnung wird, und diese Bedrohung kann sehr schnell in eine rassifizierte oder genderbezogene Richtung gehen. Letztendlich bedeutet das, dass wir eine neue Generation von Kurator*innen brauchen, Leute, mit denen wir reden können und die sich dieser Thematiken bewusst sind. Wer wird der Okwui Enwezor der zeitgenössischen Musik? ¶
Der Text erscheint gedruckt im Reader »Dynamische Traditionen«, herausgegeben von Elisa Erkelenz und Katja Heldt anlässlich von Donaueschingen global 2021.
By Hannah Kendall, Harald Kisiedu and George Lewis
Übersetzt aus dem Englischen von Rebecca Beyer
Harald Kisiedu (HK): Hannah, George, vielen Dank, dass ihr an diesem Gespräch teilnehmt! Es ist toll, dass wir alle die Zeit gefunden haben, zusammenzukommen. Elisa Erkelenz bat uns, unsere Gedanken darüber zu äußern, wie zeitgenössische Musik diversifiziert werden kann. Unter anderem sollten wir uns vorstellen, wie die Donaueschinger Musiktage in den nächsten hundert Jahren aussehen könnten.
Hannah Kendall (HSGK): Diese Frage finde ich besonders interessant – also wie das Festival in den nächsten hundert, oder auch in nur zehn oder gar fünf Jahren aussehen könnte! Zunächst finde ich es großartig, und natürlich sehr wichtig und zeitgemäß, Musik von Schwarzen Komponist*innen aktiv in die Programme miteinzubeziehen. Aber was steckt hinter diesem Sinneswandel? Wie können wir uns sicher sein, dass dies eine langfristige Veränderung ist?
George Lewis (GL): Beim Afro-Modernism-Symposium des Ensemble Modern im November 2020 stellte Martina Taubenberger die ziemlich direkte Frage an Björn Gottstein: »Warum gibt es so wenige Composers of Color, die tatsächlich in die Programme mit aufgenommen werden? Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?« Björn gab zu, dass das Festival, das 2021 sein hundertjähriges Jubiläum feiert, in den letzten Jahrzehnten sehr wenige Composers of Color im Programm hatte.
HK: Tatsächlich war es so, dass sich vor der Premiere von Elaine Mitcheners On Being Human as Praxis in 2020 die Präsenz von Schwarzen Musiker*innen in Donaueschingen ausschließlich auf den Bereich des Jazz beschränkte.
Hannah Kendall
Ihre Arbeit wurde von der Sunday Times als »komplex und gekonnt« bezeichnet. Werke sind u.a. Disillusioned Dreamer (2018), vom San Francisco Chronicle für ihr »reiches Innenleben« gewürdigt, sowie The Knife of Dawn (2016), eine Kammeroper, die wegen der klaustrophobischen Darstellung des Gefängnisaufenthalts von Martin Carter, einem guyanischen politischen Aktivisten, von Kritiker*innen gelobt wurde. Sie wurde 2020 an der Royal Opera House in London uraufgeführt. Ihre Werke werden ausgiebig und plattformübergreifend gespielt, von Ensembles wie dem London Symphony Orchestra, New York Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, San Francisco Symphony, Ensemble Modern, und London Sinfonietta.
GL: Das stimmt, und ich war ja sogar 1976 da, zusammen mit Anthony Braxton. Aber was die Komponist*innen betrifft, die als ›klassisch‹ identifiziert sind, was wir damals nicht waren: Vor dem Projekt von Elaine Mitchener gab es nicht nur »sehr wenige«, sondern tatsächlich gar keine. Es war also Björn, der diese hundert Jahre alte Barriere in Donaueschingen durchbrochen hat. Elaines Projekt hatte so eine Art Jackie-Robinson-Aspekt, da drei Schwarze Komponist*innen gleichzeitig da waren: Jason Yarde, Matana Roberts und ich. 2019 war das ähnlich; ich erinnere mich, wie ich zu Ilan Volkov sagte, dass das Ensemble intercontemporain mit Roscoe Mitchell, Tyshawn Sorey und mir vermutlich zum allerersten Mal Werke Schwarzer Komponist*innen aufgeführt habe. Das Ensemble spielte unsere Werke großartig, aber die PR für dieses Event stellte uns als Outsider dar im Verhältnis zu der Welt der ›Musique Contemporaine‹. Man sagte, dass wir uns unseren »zeitgenössischen Pendants gegenüber neugierig und interessiert zeigten« – das ist eine seltsame Art, jemanden zu beschreiben, der einen Lehrstuhl für Komposition an der Columbia University innehat. Aber über diese Art von Identitätspolitik werden wir ja vermutlich im Laufe dieses Gesprächs noch genauer diskutieren.
HSGK: Dieses Thema betrifft mich nicht nur als Komponistin. In Großbritannien habe ich auch sehr viele Jahre im künstlerischen Management gearbeitet, wo ich mich für Diversität in diesem Sektor einsetzte und auch viel Widerstand von sogenannten ›gatekeepern‹ gespürt habe. Gibt es jetzt ein wahres Erwachen? Was passiert, wenn die Leiter*innen der Festivals und der Veranstaltungsorte weiterziehen? Mich hat die Keychange-Initiative sehr beeindruckt, und mit welchem Einsatz sie sich für Gendergerechtigkeit bei Festivals starkmacht. Organisationen können sich dort anmelden und bleiben angemeldet, auch wenn jemand neues die Leitung übernimmt. Die BBC Proms haben sich zum Beispiel registriert, und dort herrscht jetzt grundsätzlich eine bessere Balance. Die PRS-Stiftung in Großbritannien launchte neulich Power Up, eine »[…] neue, ambitionierte und langfristige Initiative, die Schwarze Musiker*innen, Branchenexpert*innen und Führungskräfte unterstützt, sowie anti-Schwarzen Rassismus und Ungleichheit im Musiksektor bekämpft.« Es wäre toll, wenn Festivals sich bei solchen Initiativen anmelden und sich dazu verpflichten könnten, bis zu einem bestimmten Jahr einen gewissen Prozentsatz an Diversität und guter Repräsentanz in den Programmen zu erreichen.
HK: Ganz genau. Momentan gibt es in Deutschland Konflikte bezüglich des jüngst ins Leben gerufenen Deutschen Jazzpreises. Eine Musiker*innen-Initiative namens Musicians For lehnt sich dagegen auf, dass unter den Preisträger*innen fast keine einzige Person of Color ist. Viele deutsche Kulturinstitutionen sträuben sich dagegen, dieses Thema anzugehen, oder es überhaupt erstmal als Thema anzuerkennen.
GL: Georgina Borns berühmtes Buch über das IRCAM ist ein fantastisches Modell, anhand dessen sich die Komplexität der zeitgenössischen Musikwelt nachvollziehen lässt, und selbst dieses Buch bietet nur einen Ausgangspunkt. Aus ihrer Perspektive sieht die zeitgenössische Musik aus wie ein Tausendfüßler: Hochschulen, Verlage, Kurator*innen, Stiftungen, Wissenschaftler*innen, Kulturbehörden, Kritier*innen, Journalist*innen, Musikhistoriker*innen, Professor*innen und viele mehr. Das Produkt aus den Tätigkeiten all dieser Gruppierungen, ob sie bewusst oder unbewusst an einem Strang ziehen, ist Wissen – oder das, was sich Wissen nennt. Und viel von diesem ›Wissen‹, das sich über die Jahrzehnte angehäuft hat, unterfüttert die Idee, dass es völlig richtig ist, Schwarze afro-diasporische Klänge, Arbeitsweisen, Geschichten und Perspektiven auszulöschen.
HK: Selbst die heutige zeitgenössische klassische Musik hält scheinbar daran fest, was der kritische Theoretiker Fred Moten hervorhob, nämlich dass es eine tiefere, vielleicht auch unbewusste Konzipierung gibt, dass die Avantgarde zwangsläufig nicht-Schwarz ist.
GL: Es erscheinen sogar jetzt noch Bücher über ›Die Zukunft der Musik‹, in denen keine einzige Schwarze Person erwähnt wird, und da muss ich an die Künstlerin Alisha B. Wormsley denken. Alles was sie tun musste, um Zensur zu provozieren, war, eine große Plakatwand aufzustellen mit den Worten: »Es gibt Schwarze Menschen in der Zukunft.« Vielleicht sollte ich Karten mit diesem Text drucken lassen, wie Adrian Pipers Calling Cards, und sie an diese Autor*innen schicken. Oder vielleicht könnte das mein Statement bei Fragerunden nach Vorträgen sein: »Wissen Sie, es gibt tatsächlich Schwarze Komponist*innen in der Zukunft.«
HK: Ja, und zwar deshalb, weil es in der Vergangenheit Schwarze Komponist*innen gab, die die axiomatischen Darstellungen der westlichen klassischen Musik als historisch und institutionell gesehen weißes Gebiet infrage stellten. Ich denke da an die afroamerikanischen Komponist*innen, die 1968 in New York die Society of Black Composers gründeten. Sie wollten einen institutionellen Raum schaffen, um Schwarze Komponist*innen und deren Werke und Ideen hervorzuheben, durch Konzerte, Symposien und Vorträge. Sie unterschieden nicht zwischen Genres. Sie waren überzeugt, dass Musik als Medium für den sozialen Wandel dienen könne, der das kulturelle Leben afroamerikanischer Communities bereichern würde.
Harald Kisiedu
Der Musikwissenschaftler hat an der Columbia University promoviert. Seine wissenschaftlichen Interessen sind u.a. Jazz als globales Phänomen, die Musik der afrikanischen Diaspora, Musik und Politik und Wagner. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Schriften über Peter Brötzmann, Ernst-Ludwig Petrowsky, Muhal Richard Abrams, über Jazz und Popularmusik im Konzentrationslager Theresienstadt sowie über Schwarze Komponist*innen. Kisiedu ist auch Saxophonist und stand u.a. mit Branford Marsalis und Henry Grimes auf der Bühne. Er lehrt Jazzgeschichte und Jazzwissenschaft an der Hochschule Osnabrück. Sein Buch European Echoes: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975 erschien 2020 im Wolke Verlag.
HSGK: Ich sehe da gewisse Ähnlichkeiten mit der Keychange-Initiative, bei der es darum geht, aktiv die Quote der Komponistinnen bei Festivals zu erhöhen. In Großbritannien lag 2011 der Anteil von Komponistinnen landesweit noch bei 13 Prozent. Die Initiative hat es also geschafft, den Prozentsatz professionell arbeitender Komponistinnen zu erhöhen. Die Power-Up-Initiative ist ganz ähnlich, befasst sich aber speziell damit, die Repräsentanz Schwarzer Komponist*innen, Musikschaffender und Songwriter*innen langfristig zu erhöhen. Dafür kooperiert sie mit Festivals, Kunstzentren etc.
GL: Aber was bedeutet Gendergleichheit in diesem Zusammenhang? Als wir 2018 bei den Berliner Festspielen das Projekt Defragmentation vorstellten, war dort auch eine Gruppe namens GRiNM – Gender Relations in New Music, die ihrerseits eine, wie soll man sagen, Art Gegendarstellung boten zu unserer These. Sie forderten hier und jetzt, dass 50 Prozent aller Festivalprogramme durch Frauen – Komponistinnen – bestritten werden sollten. Ist das die Definition von Gendergleichheit, in diesem Fall?
HSGK: Ja, ihr Ziel ist es, dass die Programme zu 50 Prozent aus Menschen bestehen, die sich als weiblich identifizieren oder einer Gender-Minderheit angehören.
GL: Okay, aber siehst du da keine Schwierigkeiten? Gibt es überhaupt genügend entsprechende Leute, dass man das einfach durchziehen kann?
HSGK: Ja, ich denke schon.
GL: Na, ich bin mir da nicht so sicher, und mir ist das ein Rätsel. Beispielsweise gelten ja die Kompositionsklassen der Hochschulen als Quelle für Neuzuwachs in dieser Branche. Die Lebensläufe sind in den Programmen abgedruckt und die Kurator*innen werfen einen Blick drauf: »Ah, diese Person hat an dieser oder jener Hochschule bei dem und dem Komponisten studiert.« Nach mehr als 30 Jahren Erfahrung als Jurymitglied an Universitäten, bei Stipendienvergaben oder Zulassungsprüfungen etc. kann ich jedoch sagen: Von den Bewerbungen auf Jobs oder auf Studienplätze im Fach Komposition kommen selten mehr als 20 Prozent von Frauen. Nun sollen also, trotz jahrzehntelanger Exklusion und Diskriminierung auf allen Ebenen, und trotz der Tatsache, dass es in vielen, ja sogar in den meisten Kompositionsklassen nach wie vor kaum Frauen gibt, die Frauen plötzlich da sein und Schlange stehen? Wo kommen denn all diese Frauen her, wenn sie nicht an den einschlägigen Hochschulen studiert haben?
HSGK: Wahrscheinlich machen sie ihr Ding im Alleingang. Meine Oper, The Knife of Dawn, wurde im Oktober 2020 auf der Hauptbühne der Royal Opera House uraufgeführt. Es war die erste Oper einer Person of Color, die dort jemals gezeigt wurde, und erst die dritte Oper aus der Feder einer Frau. Aber es war eigentlich ein selbst produziertes Projekt, das ich 2015/2016 begonnen hatte. Zu der Zeit war ich frustriert, dass es in Opern keine Rollen speziell für Menschen afro-karibischer Abstammung gab, und so dachte ich: Die einzige Möglichkeit, das zu ändern, ist, es einfach selbst zu machen. Auch habe ich damals im künstlerischen Management gearbeitet, und ein solches Auftragswerk schien erstmal nicht in greifbarer Nähe zu sein.
Was ich sagen möchte: Als dann 2020 das Royal Opera House ein Werk von mir aufführen wollte, stand dieses Stück schon in den Startlöchern. Das zeigt, dass vielleicht was dran ist an der Umverteilung von Fördergeldern für Künstler*innen. Denn auch wenn Künstler*innen von den einschlägigen Festivals und Veranstaltungsorten ausgeschlossen werden, heißt das ja nicht, dass sie nicht trotzdem arbeiten und finanzielle Unterstützung brauchen, um ihre Werke zu schaffen. In der Finanzierungsphase für The Knife of Dawn kam es zu der Situation, dass mir die Fördermittel ausgegangen waren, zu denen ich in Großbritannien Zugang hatte, und glücklicherweise ist das restliche Geld aus einem Topf in der Schweiz gekommen. Ohne dieses Wunder, das durch einen Freund zustande gekommen war, würde das Werk heute nicht existieren. In Großbritannien fließen die Gelder meist an eingetragene Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen, also genau an diejenigen, die, geschichtlich betrachtet, keinen Sinn für Inklusion haben, und ich denke mir: Indem man Komponist*innen die Möglichkeit bietet, ihre Werke zu ihren eigenen Bedingungen zu kreieren und aufzuführen, kann man doch zumindest sicherstellen, dass es mehr und mehr Werke gibt.
GL: Das ist ein sehr guter Punkt. Für mich bedeutet nämlich Gerechtigkeit auch Investition, nicht nur die Gleichheit unter dem Strich oder die Gleichheit der Proportionen bei der Repräsentanz auf Programmen. Anthony Davis, einer der herausragendsten Komponisten der USA, dem 2020 der Pulitzer-Preis verliehen wurde und dessen Musik in Europa fast gar nicht aufgeführt wird, ist nach wie vor der einzige Schwarze Komponist, der jemals große Produktionen an den bedeutenden Opernhäusern und Theatern hatte. Wir dürfen uns also nicht darauf beschränken, die Komponist*innen zu zählen, sondern müssen auch in Betracht ziehen, wieviel die Branche in deren Arbeit investiert – z.B. bei der Frage: Orchesterwerk oder Trio? Wird ein neues Werk in Auftrag gegeben oder bedient man sich schon existierender Stücke? Jemand rief mich neulich an und fragte, ob ich ein Stück empfehlen könne, von einer Schwarzen Komponistin, 16 Minuten, Besetzung mindestens 12 Musiker*innen. Ich musste antworten, dass ich, in Anbetracht der ästhetischen Ausrichtung des Ensembles (die man ja mit bedenken muss), es nicht oft erlebt habe, dass Schwarze Frauen Aufträge dieser Größenordnung erhalten, und dass er es unbedingt in Erwägung ziehen sollte, ein Werk in Auftrag zu geben. Es wird so wenig investiert, also müssen neue und substanzielle Aufträge denen erteilt werden, die zuvor ausgeschlossen waren. Wenn die Low-Budget-Aufträge unverhältnismäßig oft an Komponistinnen und speziell an Schwarze Frauen vergeben werden, dann ist das ein Gerechtigkeitsproblem, eine Ungleichheit der Investitionen, die nicht aus den reinen Zahlen ersichtlich ist.
HSGK: Es ist interessant, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Menschen in dieser Branche früher alles gesagt haben. Ich habe lange im künstlerischen Management gearbeitet, für eine Organisation, die versuchte, eine Wende herbeizuführen. Und mir wurde ständig gesagt: »Ach, weißt du, wir müssen einfach Programme fürs Publikum machen. Was die hören wollen, präsentieren wir ihnen.« Und jetzt, in den letzten Jahren, präsentieren sie endlich Artists of Color und schaffen Arbeitsplätze für eine Vielfalt von Künstler*innen. Aber was hat sich eigentlich genau verändert? Denn für mich ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ich könnte jede einzelne Absage zitieren, die mir früher erteilt wurde, als ich versuchte, bei Konzerthäusern, Veranstaltungsorten und Festivals für Diversität zu werben. Jetzt, seit einem Jahr, gibt es diesen neuen Drive. Ich bin mir nicht sicher, was es genau ist, aber es ist ein interessantes Thema. Und jetzt weiß man nicht, was man denen sagen soll – sowas wie »Echt jetzt? Vor zehn Jahren war euch das alles scheinbar egal! Was ist denn jetzt plötzlich passiert?«
GL: Ich heiße es sehr willkommen, wenn Menschen ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen, vor allem wenn sie an Fördermittel geknüpft ist. Was wir jetzt aber viel sehen, sind Standardformulierungen wie »Black lives matter«, und dass man seine Schwarzen Kolleg*innen unterstützen soll u.s.w., von Institutionen, die bis heute keine Schwarzen Komponist*innen in ihre Programme einbezogen haben.
HSGK: Du meine Güte, habt ihr die Geschichten über das Barbican Center gelesen? Das ist das größte Kulturzentrum in Europa, und ich habe dort früher als Pressesprecherin für die klassische Musik gearbeitet. Kürzlich wurde ein Buch veröffentlicht mit einer Sammlung von Aussagen Schwarzer Mitarbeiter*innen, die von Rassismus in Bezug auf die Programmzusammenstellung berichten, und auch von persönlichen rassistischen Übergriffen. Das war ein unglaublich mutiger Schritt, finde ich. Ich selbst habe keinen Beitrag geschrieben, aber es ist alles drin. Das gab eine riesige Kontroverse in Großbritannien. Die schreiben sich auf die Fahne, ein Ort von Gleichheit und Diversität zu sein, und die Künstler, die sie präsentieren, zu diversifizieren. Aber hinter der Fassade laufen all diese Dinge ab.
GL: Du warst jetzt schon in vielen dieser Gremien. Findest du, die Gremien sind in sich divers?
HSGK: Nein, nicht wirklich. Ich habe die Gremien verlassen, weil ich langsam frustriert war und mich gefragt habe, ob die mich nur dabeihaben wollten, um divers auszusehen, aber nicht wirklich hören wollten, was ich über die Realität dieser Branche zu sagen hatte. Also dachte ich, warum verschwende ich meine Zeit damit, wenn ich mich darauf konzentrieren könnte, die beste Musik zu schreiben, die ich überhaupt schreiben kann?
GL: Ja, so fühle ich mich auch langsam, vor allem, seitdem ich 69 Jahre alt geworden bin und mich frage, wieviel Zeit mir noch bleibt, um mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Ich war momentan Teil einer Jury, deren Regelwerk es erlaubte, zusätzlich zu den Bewerber*innen weitere Leute vorzuschlagen. Das ist ja an sich eine Möglichkeit, Diversität zu fördern. Aber ich war das einzige Jurymitglied, das Schwarze Menschen vorschlug, und diese waren dann die einzigen Schwarzen Menschen unter allen Bewerbungen. Diese drei Leute. Und ich war die einzige Schwarze Person in der Jury. Also begann ich mich zu fragen, was ich eigentlich hier mache. Sollte ich einfach aufhören, oder sollte ich als Fürsprecher bleiben? Würden die Leute den kulturellen Standpunkt dieser Werke genau so gut verstehen wie den der übrigen Werke? Da kommt die Frage auf, was für einen institutionellen Stempel die Anwesenheit einer Person of Color diesem Prozess eigentlich aufdrückt, in Bezug auf die Branche. Das fällt in die Rubrik ›systemisch ‹. Aber letztendlich bin ich optimistisch hinsichtlich der Möglichkeiten, denn wir lernen uns ja alle kennen. Und manchmal entsteht etwas Großartiges aus diesen Interaktionen. Du darfst nicht zynisch werden. Du findest heraus, dass auch weiße Menschen sich für Black Lives Matter einsetzen können. Was ich jedoch sagen will, ist: Wir brauchen neue Kurator*innen, wir brauchen neue Gremien. Wir brauchen neue Menschen, die die Institutionen aufrütteln. Es ist ja nicht so, dass Schwarze Kurator*innen so schwer zu finden wären.
HK: Wisst ihr, das war eine der Hauptforderungen von Musicians For: ein Gremium von größerer Diversität. Vor einiger Zeit war ich bei einer Podiumsdiskussion eingeladen, in Verbindung mit einem Jazzfestival, und das Thema war Gender und Diversität. Ich erinnere mich an eine Diskussionsteilnehmerin, sie war Mitglied einer Rundfunk-Bigband und erzählte von ihren Erfahrungen als einzige Frau in dieser Band. Die Diskussion dauerte ca. zwei Stunden, aber das Thema der Diversität im Hinblick auf Ethnizität und race kam nie wirklich auf. Die Leute sind sehr, sehr widerwillig. Ich glaube, manche Menschen denken sogar, dass sich Diversität auf Gender reduzieren lässt. Aber jenseits dessen gibt es etwas, das in Deutschland immer mehr hinterfragt wird, und das ist der Gedanke, dass die Debatte über race hierzulande nicht zu vergleichen ist mit dem, was in den USA los ist, als könne man sagen: Damit müssen wir uns doch hier nicht mehr befassen.
GL: Das bedeutet, dass man die verschleiernde Sprache der »Diversität« hinter sich lassen muss. Bei der klassischen Musik gibt es viele Löcher im Dach, und der Regen kommt jetzt stark rein. Ich sah keine Notwendigkeit, zu versuchen, mich all dieser Löcher anzunehmen, nur ein paar, bei denen ich mich dazu qualifiziert gefühlt habe. In diesem Fall: die Tendenz unserer Branche, alles Schwarze auszuradieren – etwas, worüber man nicht sprach.
HSGK: Was ich interessant fand: Die Umfrage, die Power Up mit Schwarzen Komponist*innen durchgeführt hat, ergab, dass hundert Prozent der befragten Komponist*innen in der klassischen Musikbranche schon einmal Rassismus erfahren haben. 100 Prozent!
GL: Ich hoffe, es ist noch nicht so weit gekommen, dass Schwarze Komponist*innen bedroht und ausgebuht werden, so wie Lewis Hamilton oder Simone Biles, oder auch diese englischen Fußballer.
HSGK: Das Ausbuhen ist ja eher privat, das passiert hinter verschlossener Tür und offenbart sich in Form von Abwesenheit. Diese Abwesenheit zeigt, was die Prioritäten in der Szene sind. Mein Eindruck ist, dass Donaueschingen sich eigentlich als hochpolitisiertes Festival positioniert hat, als Raum, wo Künstler*innen und Komponist*innen hochpolitisierte Werke vorstellen und diskutieren können. Aber meine Kritik daran ist, dass diese Politik bis vor kurzem unglaublich engstirnig war. Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass aktiv versucht wird, sich zu öffnen. Und natürlich hat Elaine Mitchener einen Teil zu dieser Öffnung beigetragen.
GL: Naja, was ist denn die Identität de Donaueschinger Musiktage? Ist es ein europäisches Festival? Ist es eine Darstellung von Europa? Und wenn Europa sich gerade ändert, sollte das Festival das nicht reflektieren? Oder wenn das Festival auch internationale Komponist*innen präsentiert, sollte diese Art von Veränderung auch reflektiert werden?
HK: 1957 stellte der deutsche Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt das Modern Jazz Quartet in Donaueschingen vor. Das war das erste Mal, dass afroamerikanische Musiker bei dem Festival auftraten. Dieses Konzert war in aller Munde und stellte sogar die deutsche Erstaufführung von Igor Strawinskys Agon in den Schatten. Anschließend verschwand plötzlich der Jazz für die nächsten zehn Jahre vom Festivalprogramm.
GL: Das ist absurd, war aber irgendwie zu erwarten.
HK: 40 Jahre nach diesem Konzert erschien ein Artikel von Berendt in einem Buch, das von Josef Häusler herausgegeben wurde. Dieser Artikel lieferte eine Erklärung für das Verstummen des Jazz auf dem Festival: Der Musikwissenschaftler Heinrich Strobel, der in Donaueschingen großen Einfluss hatte, hatte kurz vor seinem Tod gesagt, so sehr er den Jazz liebte – wäre er weiterhin Teil des Festivals geblieben, so hätte er im Laufe der Jahre vielleicht die zeitgenössische Musik in den Hintergrund gedrängt.
GL: Wow! »Ihr werdet uns nicht ersetzen.« Das ist die wahre Identitätspolitik.
HK: Ein paar Jahre zuvor wollte Bernd Alois Zimmermann sein Trompetenkonzert in Donaueschingen zur Aufführung zu bringen. Er versuchte tatsächlich, einen Schwarzen Trompeter als Solist für sein Stück zu finden, welches vom Schwarzsein und von Unterdrückung handelte. Strobel riet Zimmermann davon ab, doch letztendlich wurde das eines seiner großartigsten Werke.
GL: Ich habe es 2015 bei den Ostrava Days mit Reinhold Friedrich gehört – fantastisch!
HK: In dem Buch von Häusler spricht Berendt auch über die Interaktion zwischen Jazzmusikern und Komponisten wie Stockhausen und Berio. Er sagt, sie haben sich mit den Musikern unterhalten und wollten gerne etwas über erweiterte Instrumentaltechniken lernen. Ich habe mich gefragt: Hast du Erinnerungen an euren Auftritt 1976 in Donaueschingen, und wie war die Rezeption?
GL: Nun ja, das war vor 45 Jahren. Ich habe ein Duo mit Anthony Braxton gespielt. An die Rezeption erinnere ich mich kaum, vielleicht sollte ich da mal nachforschen. Aber es gibt einen Mitschnitt unseres Konzerts, der ca. 20 Jahre später veröffentlicht wurde. Anthony verfolgte die zeitgenössische Musikszene. Ich selbst hatte damit gerade erst begonnen, hauptsächlich unter seiner Anleitung. Ich besuchte viele Konzerte, aber ich kannte natürlich niemanden. Wenn ich mir jetzt das Programm aus dem Jahr anschaue, sehe ich, dass ich Tristan Murails Mémoire/Érosion hätte hören können. Ihn kannte ich damals auch nicht, habe ihn aber 1982 am IRCAM getroffen, und später waren wir dann Kollegen in der Fakultät für Komposition an der Columbia University. Der einzige Name, an den ich mich erinnere, ist Michael Finnissy. Sein Stück machte großen Eindruck auf mich, und ich fand es bemerkenswert, dass viel von dem Material, das wir nutzten, sich mit dem überschnitt, was er machte. Aber wir waren abgegrenzt, im Jazzbereich.
HK: Aha, so ähnlich wie bei Plessy v. Ferguson? [Lachen]
GL: Separat, aber nicht ganz gleichberechtigt [lacht]. Aber das hatte auch seine Vorzüge, so habe ich zum Beispiel Albert Mangelsdorff und Zbigniew Seifert kennengelernt (Letzterer ist leider viel zu jung gestorben) und auch Michał Urbaniak und Urszula Dudziak. Doch mit dem Festival kam ich nicht wieder in Kontakt, bis Björn Gottstein mich 2017 einlud, um meinen Creolization of Classical Music-Vortrag zu halten. Ich glaube, Anthony wurde auch nicht wieder eingeladen, außer vielleicht einmal auf der Jazz-Seite. Er ist einer der bekanntesten Komponist*innen unserer Zeit, aber seine Musik wird in Europa nie gespielt, es sei denn er bringt sein eigenes Ensemble mit. Was die ›Klassik-Seite‹ der Donaueschinger Musiktage betrifft, war er lediglich ein Name auf der superlangen Liste Schwarzer Komponist*innen, die bis 2020 ignoriert wurden. Ein wunderbarer Musiker von einem dieser großartigen deutschen Ensembles für zeitgenössische Musik sagte mir, es sei schwierig, Anthonys Musik in Europa zur Aufführung zu bringen, da die Kurator*innen sie eher in die Jazz-Ecke steckten, was dann vom Genre angeblich nicht zu ihrer Ausrichtung passte. Aber heute, in Zeiten des Internets, dauert es doch nicht länger als fünf Minuten, sich einen Überblick über Braxtons Musik zu verschaffen. Das Genre ist also nur ein Vorwand. Jeder weiß, wer Braxton ist, und wer das nicht weiß, sollte vielleicht nicht in der Position sein, kulturelle Entscheidungen zu treffen. Es gibt jetzt andere Leute da draußen.
HK: So wie ich das sehe, formuliert die Society of Black Composers eine Identität, die darauf basiert, was Guthrie P. Ramsey ›Afro-Moderne‹ nennt: »Die Reaktion von Schwarzen weltweit auf Moderne, Globalität und Antikolonialismus sowie auf mehr Experimentierfreude und die Sichtbarkeit schwarzer expressiver Kultur.« Durch die Nutzung einer ganzen Bandbreite ästhetischer Referenzen sowie durch weitgreifende kulturelle Beimischung hat die Society of Black Composers es geschafft, den Radius zeitgenössischer Musik wesentlich zu erweitern.
GL: Und nun gibt es immer mehr dieser neuen Populationen, neue Menschen, die neues Wissen, neue Geschichten, neue Ästhetiken mitbringen und dadurch nicht nur die Haltung Neuer Musik in Bezug auf race, Gender und ethnische Identität verändern, sondern auch auf einer fundamentalen Ebene den Klang Neuer Musik, und wie wir sie wahrnehmen. Das verhindert eine Erstarrung der Szene, führt aber auch zu einer Dekolonisierungs-Situation, wo wir die Komfortzone verlassen und lernen müssen, ohne die bequemen Routinen der Vergangenheit zu leben, wie es Chinua Achebe in seinem Buch No Longer At Ease beschreibt.
George Lewis
Der Komponist, Musikwissenschaftler, technologische Künstler und Posaunist ist Professor für amerikanische Musik an der Columbia University in New York. Er ist ›Fellow of the American Academy of Arts and Sciences and the American Academy of Arts and Letters‹ und ›Fellow of the British Academy‹. Weiterhin wurde er ausgezeichnet mit dem MacArthur Fellowship, dem Guggenheim Fellowship und dem Doris Duke Artist Award. Zu seinen Büchern gehören A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music (University of Chicago Press, 2008) sowie das zweibändige Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies (Oxford University Press, 2016). Seine Kompositionen für Instrumente und Technik werden weltweit aufgeführt. Er ist Ehrendoktor an der University of Edinburgh, dem New College of Florida und der Harvard University.
HK: Diese Bemühungen, die Welt der zeitgenössischen Musik und Kunst zu dekolonisieren, um dem entgegenzutreten, dass die Afro-moderne klassische und experimentelle Musik aus Konzertprogrammen und aus historischen Narrativen gelöscht wird, diese Bemühungen sind noch intensiver seit Black Lives Matter und den dazugehörigen globalen Auswirkungen – aber man kann definitiv mit Widerstand rechnen. Ich habe einen Artikel des Historikers A. Dirk Moses gelesen, und dieser Artikel spielt eine zentrale Rolle in Zusammenhang mit einer Debatte, die momentan in Deutschland stattfindet. Er spricht von einer Wende hin zu einem illiberalen Nachkriegsliberalismus, der versucht, demographische, kulturelle, und letztlich auch politische und moralische Veränderungen einzudämmen, die mit Migration und Generationenwandel einhergehen. Das fand ich extrem aufschlussreich, und auch sehr passend in Bezug auf das, worüber wir hier diskutieren.
GL: Das erinnert mich jetzt an eine merkwürdige Konzertkritik über das Ensemble Modern, das im Rahmen der MaerzMusik 2021 ein Konzert zum Thema Afro-Moderne gegeben hat. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, dass das Konzert sich um einen »Schwarzen Klang« bemüht habe, man jedoch keinen Unterschied habe ausmachen können zwischen dieser und anderer zeitgenössischer Musik. Aber wir haben ja nie behauptet, dass wir versuchen, einen ›Schwarzen Klang‹ zu definieren. Wir haben einfach sechs Schwarze Komponist*innen vorgestellt, die Musik geschrieben haben. Wir taten also etwas, das die Szene in Europa gerade nicht tat. Dieses Konzert vereinte afrodiasporische Perspektiven aus Europa, der Karibik, Großbritannien, den USA und Afrika, alles in einem Konzert, genauso vielfältig wie die afrodiasporische Musikveranstaltung, die Elaine Mitchener und ich mit der London Sinfonietta kuratiert haben. Bei beiden Konzerten präsentierten wir Musik von Tania León, deren Oeuvre auf dem europäischen Festland selten gespielt wird, und die jüngst mit dem Pulitzer-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Es macht nicht wirklich einen Unterschied, ob man ein Konzert mit afrodiasporischer neuer Musik zusammenstellt oder mit französischer neuer Musik, aber dieser Typ wollte tatsächlich ›den‹ Schwarzen Klang definieren und dann beurteilen, wie Schwarz die jeweilige Musik ist. Das ist im Grunde ein Versuch, sich an Macht festzuhalten, während sich um einen herum alles ändert – so wie Moses sagt: demographischen Wandel einzudämmen, aber auch die Macht zu bewahren über die Art und über das Tempo, in dem sich Dinge wandeln.
HK: Dazu fällt mir ein: Vor einer Weile habe ich einen Artikel eines deutschen Musikkritikers in einer sehr konservativen deutschen Zeitung gelesen, in dem es um Lehrplanreformen in der Musikabteilung der Oxford University ging. Dort hatten sich Leute dafür ausgesprochen, beispielsweise Miles Davis oder Hip-Hop in den Lehrplan mit aufzunehmen. Der Kritiker war entsetzt und stellte die rhetorische Frage: »Will man wirklich einfach […] Peter Tschaikowsky durch Miles Davis ersetzen?«
GL: Nun ja, ich persönlich würde das in Erwägung ziehen. Aber diese Bemerkung erinnert mich an die ›culture wars‹ der 1990er Jahre in den USA, wo Menschen abschätzig behaupteten, auf der Suche nach dem Tolstoi der Zulus zu sein, um einen berühmten Romanautoren zu zitieren. Es wurden künstliche Dichotomien geschaffen – Identität oder Qualität, Vielfältigkeit oder Vortrefflichkeit.
HK: Ich fand, die Bemerkung dieses Kritikers war ein gutes Beispiel dafür, worüber Moses spricht: der kulturelle Wandel, der mit Migration und Generationenwandel einhergeht.
GL: Sowohl physische als auch konzeptuelle Migration. Wir befassen wir uns gerade mit einer solcher Angelegenheit an der Columbia. Ihr habt ja beide dort den Kurs ›Masterpieces of Western Music‹ unterrichtet. Aktuell setzen Studierende die Fakultät unter Druck, um eine Dekolonisierung dieses Lehrplans durchzusetzen, so ungefähr wie das, was sie an der Harvard gemacht haben, und speziell in Bezug auf Schwarze Komponist*innen.
HSGK: Ich weiß, wovon du mit Blick auf den Lehrplan sprichst. Kürzlich gab es in Großbritannien Auseinandersetzungen, weil ein Werk von Courtney Pine – dem einzigen Schwarzen Komponisten, dessen Oeuvre Teil eines Lehrplans auf nationalem Hochschulniveau war – herausgenommen werden sollte. Der Grund: Wegen der Pandemie hatten die Lehrkräfte Schwierigkeiten, die Prüfungen zu benoten. Also sollte, um es den Lehrenden einfacher zu machen, der Stundenplan reduziert werden. Doch es gab landesweit eine starke Reaktion darauf, und das Werk von Pine wurde wieder aufgenommen. Ich merke, dass viele Leute nicht mal wirklich den Begriff des Kolonialismus verstehen. Die ganze Windrush-Situation, als Menschen, die in den 1960er Jahren die britische Staatsbürgerschaft bekommen hatten, deportiert wurden, weil kein Verständnis darüber herrschte, was es hieß, aus einer britischen Kolonie zu stammen, ein ›British subject‹ zu sein – all das wird gar nicht gelehrt. Was meine eigene Musik betrifft, so interessiere ich mich immer mehr für die Idee der Kreolisierung, denn diese vereint auf eine Weise all diese Aspekte, über die wir gerade sprechen, und schafft Raum für Veränderung.
GL: Ich musste gerade an noch etwas denken, das Björn Gottstein bei dem Afro-Modernism- Symposium sagte: »Wissen Sie, Sie müssen einfach mit den richtigen Leuten darüber sprechen.« Das sehe ich genauso. Ich stelle mir gerne vor, wie nach unseren afrodiasporischen Veranstaltungen mit dem Ensemble Modern bei der MaerzMusik 2021 in Berlin die Handys heiß liefen vor lauter interessanten Gesprächen. Zum Beispiel könnte jemand eine*n Kritiker*in, Musikwissenschaftler*in, Professor*in oder Kurator*in angerufen haben: »Wow, das war ein fantastisches Konzert. Hast du von diesen Komponist*innen schon mal was gehört? Nein? Warum nicht? Vielleicht sollten wir neue Leute suchen, die mehr wissen.« Wir sind an einem Punkt, an dem neues Wissen zu einer Bedrohung der etablierten Ordnung wird, und diese Bedrohung kann sehr schnell in eine rassifizierte oder genderbezogene Richtung gehen. Letztendlich bedeutet das, dass wir eine neue Generation von Kurator*innen brauchen, Leute, mit denen wir reden können und die sich dieser Thematiken bewusst sind. Wer wird der Okwui Enwezor der zeitgenössischen Musik? ¶
Der Text erscheint gedruckt im Reader »Dynamische Traditionen«, herausgegeben von Elisa Erkelenz und Katja Heldt anlässlich von Donaueschingen global 2021.
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.