Text Sophie Emilie Beha
Bilder © Gerhard Kühne
Wie ist gerade die aktuelle Situation der Kulturszene in Griechenland?
Wir haben in Griechenland in den letzten zehn Jahren einiges durchgemacht. Es war schon hart. Die Wirtschaftskrise hat so viele Probleme in der Gesellschaft geschaffen – natürlich besonders in der Kulturszene, da wurden zuerst die Mittel gekürzt. Corona hat all das nur noch komplizierter gemacht. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt nicht nur als Musiker und Komponist, sondern unterrichte auch an der Universität in Thessaloniki. Deshalb hatte ich nicht diese finanziellen Sorgen wie viele meiner Kolleg:innen.
Du spielst Lyra, ein birnenförmiges, dreisaitiges Streichinstrument, das fest in der griechischen Volksmusik verankert ist. Warum hast du dich für dieses Instrument entschieden?
Die Lyra ist in Griechenland sehr populär. Man kennt sie hier so wie man in anderen Ländern Gitarren kennt. Das war also eine sehr naheliegende Entscheidung. Die Lyra ist über 5.000 Jahre alt. Sie hat eine starke Persönlichkeit, die sich aus der Geschichte der Region und deren Musik formt. Ich kann aus dieser Vergangenheit Kraft schöpfen, darauf aufbauen, etwas Neues erschaffen und vielleicht damit auch einen Blick aus der Vergangenheit heraus in die Zukunft werfen.
Du hast mit 14 Jahren angefangen, Lyra zu spielen. Ross Daly, ein Multiinstrumentalist irischer Abstammung, war dein Mentor und Lehrer. Wie kam es dazu?
Ich habe mich in seine Persönlichkeit verliebt. Er war so anders als alle anderen. Aber ich hatte auch nicht wirklich die Wahl: In Griechenland wollte man damals seine Musiktradition vergessen – besonders in den Städten und ich habe da schon in Athen gewohnt. Nach nur fünf Jahren änderte sich die Situation gewaltig und es gab eine Riesenbewegung von jungen Leuten, die sich mit ihren musikalischen Traditionen auseinandergesetzt haben. Heute ist es unvorstellbar, wie anders das damals war. Es gab nicht einmal Universitäten oder Musikschulen, an denen man traditionelle Musik lernen konnte.
Bevor Daly für eine Weile nach Athen gezogen ist, ist er viel gereist und hat sich unter anderem auch mit verschiedenen Musiktraditionen in Indien, Afghanistan, Iran oder der Türkei auseinandergesetzt. Die Nähe zu anderen Musiktraditionen ist auch in deiner Arbeit ein wichtiger Bestandteil. Ist dafür maßgeblich Ross Daly verantwortlich?
Absolut. Durch ihn habe ich mich mit den benachbarten Traditionen des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie der griechischen Musik wie wir sie kennen sehr ähneln. Das ist logisch, denn über die Jahrhunderte hinweg haben sich die verschiedenen Stile gegenseitig beeinflusst und befruchtet. Ich habe aber nicht nur diese Traditionen untersucht und erforscht, sondern durch Ross Daly auch deren Musiker:innen kennengelernt. Wie zum Beispiel Djamchid Chemirani, ein iranischer Zarbspieler, der mit zwanzig Jahren nach Frankreich gezogen war.
Mit seinen Söhnen Bijan und Keyvan hast du später gemeinsam mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras das Album »Thrace« aufgenommen. Die Spurensuche nach einer reichen Musikkultur, der Dialog zwischen verschiedenen Traditionen oder Vergangenheit und Gegenwart – hat das für dich auch eine politische Komponente?
Ja, hat es. Von Anfang an war all mein Musizieren mit Musiker:innen aus vielen verschiedenen Nationen politisch. Ein anderes Beispiel dafür sind meine Duo-Projekte mit Derya Türkan, einem türkischen Musiker. Er ist wie ein Bruder für mich – auch musikalisch, denn wir spielen das gleiche Instrument. Wir sind uns in Istanbul begegnet, als wir beide zwischen 18 und 20 Jahre alt waren. Wir haben sofort gemerkt, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben: Nicht nur was das Instrument angeht, sondern auch unseren Musikgeschmack. Seitdem stehen wir uns sehr nahe. Mittlerweile haben wir gemeinsam drei Alben veröffentlicht. Das letzte war ein Duo-Album und ist 2020 erschienen. Das war eine Zeit mit vielen Spannungen zwischen unseren beiden Ländern wegen der Grenzen und der Geflüchteten. Das Konzept und die Entstehung des Albums waren rein künstlerisch, wir haben vier Jahre daran gearbeitet und den Veröffentlichungszeitpunkt sicher nicht abgepasst. Aber trotzdem denke ich, dass dieses Album ein politischer Akt war.
Bei deinen Projekten hast du viele unterschiedliche Skalen und tonale Systeme kennengelernt. Gibt es etwas, das all diese Systeme gemein haben?
Oh, das ist eine sehr gute Frage. Erstmal liegt es in der menschlichen Natur, dass wir, wenn wir etwas vergleichen, zuerst auf die Unterschiede achten. Wenn wir beispielsweise Geschwister anschauen, denken wir vielleicht zuerst »oh, die sind sich ja ähnlich«, aber dann suchen wir nach Unterschieden. Das ist gut für die Wissenschaft, aber nicht für die Musik. Als ich all die Lieder studiert habe, habe ich zunächst auch die Unterschiede verglichen. Aber irgendwann hatte ich das Bedürfnis, zwischen den einzelnen Elementen eine Verbindung herzustellen. Mir wurde klar, dass all die Bausteine der verschiedenen Musiktraditionen wie Teile eines großen Puzzles sind. Die heutigen Traditionen teilen im Grunde eigentlich alle die gleichen modalen Systeme.
Was ist aus dieser Erkenntnis gefolgt?
Ich habe daraus eine Theorie entwickelt, die ich bald veröffentlichen werde. Ich nenne sie die »Urknall-Musiktheorie«. Sie erklärt, wie die verschiedenen Musiktraditionen und ihre Merkmale über die Zeit hinweg entstanden sind. Dabei starte ich bei den Skalen im Jahr 2021 und verfolge die einzelnen Spuren zurück bis zu ihren Anfängen wie beispielsweise Echos, Modi oder Maqamen. Ich will erklären, wie all das nach und nach entstanden ist. Dann wird nämlich klar, dass viele Musiktraditionen eigentlich Zweige desselben Baumes sind – ganz besonders die Traditionen, über die wir gesprochen haben, vom Balkan, dem östlichen Mittelmeerraum und dem Nahen Osten. Diese Zeit, in der ich das herausgefunden habe und wie aus einer Vogelperspektive auf die verschiedenen Puzzleteile blicken konnte, war auch die Zeit, in der ich das Bedürfnis hatte, meine eigenen Kompositionen zu veröffentlichen.
Das war im Jahr 2015. Du hast mit deinem Quartett die erste CD bei ECM veröffentlicht, »Eight Winds«.
Genau, das ist gar nicht so lange her. Damals war ich 41 Jahre alt. Ich bin sehr froh, dass ich all die Zeit zwischen 14 – als ich angefangen habe, Lyra zu spielen – und 41 Jahren damit verbracht habe, Musik zu machen, Musiker:innen zu treffen und ständig Neues zu lernen. Der Titel »Eight Winds« steht für die verschiedenen Genres und Musikkulturen, die mich beeinflusst haben und auch immer noch beeinflussen. Es geht dabei nicht darum, den verschiedenen Winden zu folgen. Man muss einen festen Ort finden, wie die Mitte, und dann die Winde einfach um sich herumwehen lassen.
Was hat dir dazu den Impuls gegeben?
Das war Charles Lloyd. Er ist einer der wichtigsten Jazzmusiker überhaupt und noch immer sehr präsent. Ich habe ihn zum ersten Mal vor zehn Jahren getroffen und mit ihm in einer Combo gespielt. Das war wirklich Jazz auf dem höchsten technischen und ästhetischen Niveau überhaupt. Ich hatte das Gefühl, dass sich hier der Kreis schloss. Ich hatte mich selbst, all mein Potenzial erfüllt. Dadurch habe ich mich bereit gefühlt, meine eigenen Kompositionen mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Was machen deine eigenen Kompositionen für dich aus?
Die Musik ist destilliert, wie ein Schnaps. Sie enthält all die Einflüsse der unterschiedlichen Traditionen, über die wir gesprochen haben, auch wenn sie manchmal nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.
Und warum hast du dich für eine Jazzbesetzung entschieden mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug?
Das war mehr ein Zufall. Mir ging es bei der Besetzung nicht um die Instrumente, sondern um die, die sie spielen. Und das ist natürlich auch eine Idee, die aus dem Jazz kommt. Aber das Konzept des Albums war nicht, Jazz zu spielen. Das kann ich sowieso nicht. Aber das Musizieren mit Charles Lloyd und seinen Musikern hat etwas in mir ausgelöst: Ich habe mich frei gefühlt. Und innerhalb dieser Freiheit habe ich mich sicher gefühlt und Lust gehabt, Grenzen zu überschreiten. Denn alle Musiktraditionen, auch die jahrtausendealten, entwickeln sich weiter. Natürlich gibt es auch Grenzen, aber diese Grenzen sind dehnbar. Diese Freiheit war für mich das letzte Teil des Puzzles. Das habe ich gebraucht, um mich wohlzufühlen und an meinen eigenen Kompositionen zu arbeiten.
Aber kann man nicht in allen Musiktraditionen, Epochen, Genres und Stilen musikalische Freiheit finden?
Es stimmt: Freiheit kann man nicht messen. Entweder sie ist da oder nicht. Und auch in klassischer Musik gibt es diese Freiheit, auch wenn das einige verneinen würden. Beim gemeinsamen Musizieren geht es darum, Orte zu schaffen, in denen man frei sein kann. Wie dieser Raum aussieht, wie groß oder klein er ist, das hängt stark von den Musiker:innen ab. Aber egal wie viel oder wenig Platz für Freiheit es gibt – in diesen Momenten der Freiheit erfahren wir Musiker:innen, aber auch das Publikum, die Musik in all ihrer Größe und Transzendenz.
Wie kann man diese Freiheit beim gemeinsamen Musizieren finden?
Zuerst einmal muss man sich an die Umgebung anpassen. Wenn ich in einer Gruppe spiele, in der wir uns einer bestimmten Musiktradition widmen, ihren eigenen Regeln und Ästhetiken, dann übernehme ich davon so viel wie es geht. Zum Beispiel habe ich in den letzten Jahren viel zusammengearbeitet mit L’Achéron, einem Barockensemble aus Frankreich. Wir haben Musik von John Dowland gespielt, polyphone Pentatonik aus dem 16. Jahrhundert. Ich versuche zwar, dabei so viel wie möglich zu adaptieren, aber natürlich kann ich niemals genau so klingen wie ein Originalinstrument. Das brauche ich auch nicht. Ich will mich einerseits anpassen und andererseits immer nah bei der Lyra bleiben, ihrer Persönlichkeit, ihrer Geschichte und ihrem Klang. Deshalb muss man von Anfang an eigentlich ein neues Genre schaffen wie einen Raum, wo sich die verschiedenen Traditionen und Instrumente treffen und gemeinsam etwas Neues gestalten können.
Was macht die Persönlichkeit einer Lyra aus?
Die Lyra hat einen starken Charakter, weil sie so ein altes Instrument ist. Sie leitet mich und sagt mir, wann ich Dinge ausprobieren soll, welche Grenzen ich überschreiten kann und welche nicht. Letztendlich ist die Lyra nämlich sehr limitiert: Sie hat drei Saiten. Der Tonumfang ist eingeschränkt und die einzelnen Töne zu wechseln ist nicht so leicht wie bei anderen Streichinstrumenten – mit der Lyra fühlt es sich an, als würde man jedes Mal über einen Zaun springen. Diese Grenzen muss man respektieren.
Du hast gerade davon gesprochen, dass man sich seinen eigenen Raum schaffen muss für die Musik, die man macht. Wann hast du das für dich entdeckt?
Am Anfang gab es diesen Raum gar nicht. Ich gebe es nur ungern zu, aber als ich in der Schule war, habe ich meinen Mitschüler:innen nicht erzählt, dass ich Lyra spiele. Ich hatte Angst, komisch angesehen zu werden. Das hat sich dann aber schnell geändert, ein paar Jahre später war ich der Klassenheld. Heute fühle ich mich trotz meinen vielseitigen Projekten am meisten verbunden mit den östlichen Musiktraditionen. Wenn ich mit Musiker:innen aus diesen Ländern oder vor einem solchen Publikum spiele, fühle ich mich zu Hause.
Und wie ist das in Europa?
Da habe ich manchmal das Gefühl, dass ich einen zu großen Schritt in Richtung Jazz, Barock oder anderen Musikrichtungen gemacht habe. Ich habe Angst, es zu übertreiben. Aber dann lassen mich die Reaktionen aus dem Publikum wieder entspannen, denn egal wie weit ich mich dem Anderen annähere – diese Musik klingt für europäische Ohren doch unüberhörbar griechisch und fest verwurzelt in unseren Traditionen. Sehr selten erlebe ich es, dass meine Musik exotisiert wird – dann denken manche, dass sie aus der Zeit von Platon stammt oder ich am besten im Pantheon auftreten soll [lacht]. Das ist aber zum Glück die Ausnahme. ¶
Text Sophie Emilie Beha
Bilder © Gerhard Kühne
Wie ist gerade die aktuelle Situation der Kulturszene in Griechenland?
Wir haben in Griechenland in den letzten zehn Jahren einiges durchgemacht. Es war schon hart. Die Wirtschaftskrise hat so viele Probleme in der Gesellschaft geschaffen – natürlich besonders in der Kulturszene, da wurden zuerst die Mittel gekürzt. Corona hat all das nur noch komplizierter gemacht. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt nicht nur als Musiker und Komponist, sondern unterrichte auch an der Universität in Thessaloniki. Deshalb hatte ich nicht diese finanziellen Sorgen wie viele meiner Kolleg:innen.
Du spielst Lyra, ein birnenförmiges, dreisaitiges Streichinstrument, das fest in der griechischen Volksmusik verankert ist. Warum hast du dich für dieses Instrument entschieden?
Die Lyra ist in Griechenland sehr populär. Man kennt sie hier so wie man in anderen Ländern Gitarren kennt. Das war also eine sehr naheliegende Entscheidung. Die Lyra ist über 5.000 Jahre alt. Sie hat eine starke Persönlichkeit, die sich aus der Geschichte der Region und deren Musik formt. Ich kann aus dieser Vergangenheit Kraft schöpfen, darauf aufbauen, etwas Neues erschaffen und vielleicht damit auch einen Blick aus der Vergangenheit heraus in die Zukunft werfen.
Du hast mit 14 Jahren angefangen, Lyra zu spielen. Ross Daly, ein Multiinstrumentalist irischer Abstammung, war dein Mentor und Lehrer. Wie kam es dazu?
Ich habe mich in seine Persönlichkeit verliebt. Er war so anders als alle anderen. Aber ich hatte auch nicht wirklich die Wahl: In Griechenland wollte man damals seine Musiktradition vergessen – besonders in den Städten und ich habe da schon in Athen gewohnt. Nach nur fünf Jahren änderte sich die Situation gewaltig und es gab eine Riesenbewegung von jungen Leuten, die sich mit ihren musikalischen Traditionen auseinandergesetzt haben. Heute ist es unvorstellbar, wie anders das damals war. Es gab nicht einmal Universitäten oder Musikschulen, an denen man traditionelle Musik lernen konnte.
Bevor Daly für eine Weile nach Athen gezogen ist, ist er viel gereist und hat sich unter anderem auch mit verschiedenen Musiktraditionen in Indien, Afghanistan, Iran oder der Türkei auseinandergesetzt. Die Nähe zu anderen Musiktraditionen ist auch in deiner Arbeit ein wichtiger Bestandteil. Ist dafür maßgeblich Ross Daly verantwortlich?
Absolut. Durch ihn habe ich mich mit den benachbarten Traditionen des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie der griechischen Musik wie wir sie kennen sehr ähneln. Das ist logisch, denn über die Jahrhunderte hinweg haben sich die verschiedenen Stile gegenseitig beeinflusst und befruchtet. Ich habe aber nicht nur diese Traditionen untersucht und erforscht, sondern durch Ross Daly auch deren Musiker:innen kennengelernt. Wie zum Beispiel Djamchid Chemirani, ein iranischer Zarbspieler, der mit zwanzig Jahren nach Frankreich gezogen war.
Mit seinen Söhnen Bijan und Keyvan hast du später gemeinsam mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras das Album »Thrace« aufgenommen. Die Spurensuche nach einer reichen Musikkultur, der Dialog zwischen verschiedenen Traditionen oder Vergangenheit und Gegenwart – hat das für dich auch eine politische Komponente?
Ja, hat es. Von Anfang an war all mein Musizieren mit Musiker:innen aus vielen verschiedenen Nationen politisch. Ein anderes Beispiel dafür sind meine Duo-Projekte mit Derya Türkan, einem türkischen Musiker. Er ist wie ein Bruder für mich – auch musikalisch, denn wir spielen das gleiche Instrument. Wir sind uns in Istanbul begegnet, als wir beide zwischen 18 und 20 Jahre alt waren. Wir haben sofort gemerkt, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben: Nicht nur was das Instrument angeht, sondern auch unseren Musikgeschmack. Seitdem stehen wir uns sehr nahe. Mittlerweile haben wir gemeinsam drei Alben veröffentlicht. Das letzte war ein Duo-Album und ist 2020 erschienen. Das war eine Zeit mit vielen Spannungen zwischen unseren beiden Ländern wegen der Grenzen und der Geflüchteten. Das Konzept und die Entstehung des Albums waren rein künstlerisch, wir haben vier Jahre daran gearbeitet und den Veröffentlichungszeitpunkt sicher nicht abgepasst. Aber trotzdem denke ich, dass dieses Album ein politischer Akt war.
Bei deinen Projekten hast du viele unterschiedliche Skalen und tonale Systeme kennengelernt. Gibt es etwas, das all diese Systeme gemein haben?
Oh, das ist eine sehr gute Frage. Erstmal liegt es in der menschlichen Natur, dass wir, wenn wir etwas vergleichen, zuerst auf die Unterschiede achten. Wenn wir beispielsweise Geschwister anschauen, denken wir vielleicht zuerst »oh, die sind sich ja ähnlich«, aber dann suchen wir nach Unterschieden. Das ist gut für die Wissenschaft, aber nicht für die Musik. Als ich all die Lieder studiert habe, habe ich zunächst auch die Unterschiede verglichen. Aber irgendwann hatte ich das Bedürfnis, zwischen den einzelnen Elementen eine Verbindung herzustellen. Mir wurde klar, dass all die Bausteine der verschiedenen Musiktraditionen wie Teile eines großen Puzzles sind. Die heutigen Traditionen teilen im Grunde eigentlich alle die gleichen modalen Systeme.
Was ist aus dieser Erkenntnis gefolgt?
Ich habe daraus eine Theorie entwickelt, die ich bald veröffentlichen werde. Ich nenne sie die »Urknall-Musiktheorie«. Sie erklärt, wie die verschiedenen Musiktraditionen und ihre Merkmale über die Zeit hinweg entstanden sind. Dabei starte ich bei den Skalen im Jahr 2021 und verfolge die einzelnen Spuren zurück bis zu ihren Anfängen wie beispielsweise Echos, Modi oder Maqamen. Ich will erklären, wie all das nach und nach entstanden ist. Dann wird nämlich klar, dass viele Musiktraditionen eigentlich Zweige desselben Baumes sind – ganz besonders die Traditionen, über die wir gesprochen haben, vom Balkan, dem östlichen Mittelmeerraum und dem Nahen Osten. Diese Zeit, in der ich das herausgefunden habe und wie aus einer Vogelperspektive auf die verschiedenen Puzzleteile blicken konnte, war auch die Zeit, in der ich das Bedürfnis hatte, meine eigenen Kompositionen zu veröffentlichen.
Das war im Jahr 2015. Du hast mit deinem Quartett die erste CD bei ECM veröffentlicht, »Eight Winds«.
Genau, das ist gar nicht so lange her. Damals war ich 41 Jahre alt. Ich bin sehr froh, dass ich all die Zeit zwischen 14 – als ich angefangen habe, Lyra zu spielen – und 41 Jahren damit verbracht habe, Musik zu machen, Musiker:innen zu treffen und ständig Neues zu lernen. Der Titel »Eight Winds« steht für die verschiedenen Genres und Musikkulturen, die mich beeinflusst haben und auch immer noch beeinflussen. Es geht dabei nicht darum, den verschiedenen Winden zu folgen. Man muss einen festen Ort finden, wie die Mitte, und dann die Winde einfach um sich herumwehen lassen.
Was hat dir dazu den Impuls gegeben?
Das war Charles Lloyd. Er ist einer der wichtigsten Jazzmusiker überhaupt und noch immer sehr präsent. Ich habe ihn zum ersten Mal vor zehn Jahren getroffen und mit ihm in einer Combo gespielt. Das war wirklich Jazz auf dem höchsten technischen und ästhetischen Niveau überhaupt. Ich hatte das Gefühl, dass sich hier der Kreis schloss. Ich hatte mich selbst, all mein Potenzial erfüllt. Dadurch habe ich mich bereit gefühlt, meine eigenen Kompositionen mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Was machen deine eigenen Kompositionen für dich aus?
Die Musik ist destilliert, wie ein Schnaps. Sie enthält all die Einflüsse der unterschiedlichen Traditionen, über die wir gesprochen haben, auch wenn sie manchmal nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.
Und warum hast du dich für eine Jazzbesetzung entschieden mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug?
Das war mehr ein Zufall. Mir ging es bei der Besetzung nicht um die Instrumente, sondern um die, die sie spielen. Und das ist natürlich auch eine Idee, die aus dem Jazz kommt. Aber das Konzept des Albums war nicht, Jazz zu spielen. Das kann ich sowieso nicht. Aber das Musizieren mit Charles Lloyd und seinen Musikern hat etwas in mir ausgelöst: Ich habe mich frei gefühlt. Und innerhalb dieser Freiheit habe ich mich sicher gefühlt und Lust gehabt, Grenzen zu überschreiten. Denn alle Musiktraditionen, auch die jahrtausendealten, entwickeln sich weiter. Natürlich gibt es auch Grenzen, aber diese Grenzen sind dehnbar. Diese Freiheit war für mich das letzte Teil des Puzzles. Das habe ich gebraucht, um mich wohlzufühlen und an meinen eigenen Kompositionen zu arbeiten.
Aber kann man nicht in allen Musiktraditionen, Epochen, Genres und Stilen musikalische Freiheit finden?
Es stimmt: Freiheit kann man nicht messen. Entweder sie ist da oder nicht. Und auch in klassischer Musik gibt es diese Freiheit, auch wenn das einige verneinen würden. Beim gemeinsamen Musizieren geht es darum, Orte zu schaffen, in denen man frei sein kann. Wie dieser Raum aussieht, wie groß oder klein er ist, das hängt stark von den Musiker:innen ab. Aber egal wie viel oder wenig Platz für Freiheit es gibt – in diesen Momenten der Freiheit erfahren wir Musiker:innen, aber auch das Publikum, die Musik in all ihrer Größe und Transzendenz.
Wie kann man diese Freiheit beim gemeinsamen Musizieren finden?
Zuerst einmal muss man sich an die Umgebung anpassen. Wenn ich in einer Gruppe spiele, in der wir uns einer bestimmten Musiktradition widmen, ihren eigenen Regeln und Ästhetiken, dann übernehme ich davon so viel wie es geht. Zum Beispiel habe ich in den letzten Jahren viel zusammengearbeitet mit L’Achéron, einem Barockensemble aus Frankreich. Wir haben Musik von John Dowland gespielt, polyphone Pentatonik aus dem 16. Jahrhundert. Ich versuche zwar, dabei so viel wie möglich zu adaptieren, aber natürlich kann ich niemals genau so klingen wie ein Originalinstrument. Das brauche ich auch nicht. Ich will mich einerseits anpassen und andererseits immer nah bei der Lyra bleiben, ihrer Persönlichkeit, ihrer Geschichte und ihrem Klang. Deshalb muss man von Anfang an eigentlich ein neues Genre schaffen wie einen Raum, wo sich die verschiedenen Traditionen und Instrumente treffen und gemeinsam etwas Neues gestalten können.
Was macht die Persönlichkeit einer Lyra aus?
Die Lyra hat einen starken Charakter, weil sie so ein altes Instrument ist. Sie leitet mich und sagt mir, wann ich Dinge ausprobieren soll, welche Grenzen ich überschreiten kann und welche nicht. Letztendlich ist die Lyra nämlich sehr limitiert: Sie hat drei Saiten. Der Tonumfang ist eingeschränkt und die einzelnen Töne zu wechseln ist nicht so leicht wie bei anderen Streichinstrumenten – mit der Lyra fühlt es sich an, als würde man jedes Mal über einen Zaun springen. Diese Grenzen muss man respektieren.
Du hast gerade davon gesprochen, dass man sich seinen eigenen Raum schaffen muss für die Musik, die man macht. Wann hast du das für dich entdeckt?
Am Anfang gab es diesen Raum gar nicht. Ich gebe es nur ungern zu, aber als ich in der Schule war, habe ich meinen Mitschüler:innen nicht erzählt, dass ich Lyra spiele. Ich hatte Angst, komisch angesehen zu werden. Das hat sich dann aber schnell geändert, ein paar Jahre später war ich der Klassenheld. Heute fühle ich mich trotz meinen vielseitigen Projekten am meisten verbunden mit den östlichen Musiktraditionen. Wenn ich mit Musiker:innen aus diesen Ländern oder vor einem solchen Publikum spiele, fühle ich mich zu Hause.
Und wie ist das in Europa?
Da habe ich manchmal das Gefühl, dass ich einen zu großen Schritt in Richtung Jazz, Barock oder anderen Musikrichtungen gemacht habe. Ich habe Angst, es zu übertreiben. Aber dann lassen mich die Reaktionen aus dem Publikum wieder entspannen, denn egal wie weit ich mich dem Anderen annähere – diese Musik klingt für europäische Ohren doch unüberhörbar griechisch und fest verwurzelt in unseren Traditionen. Sehr selten erlebe ich es, dass meine Musik exotisiert wird – dann denken manche, dass sie aus der Zeit von Platon stammt oder ich am besten im Pantheon auftreten soll [lacht]. Das ist aber zum Glück die Ausnahme. ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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