»Music does not stand still«, sagt der Musikforscher Michael Church. »When people migrate, it migrates with them.« Was aber passiert, wenn nicht Menschen, sondern künstlerische Motive, Stilelemente, Formen sich auf Reisen begeben? Welche Fehldeutungen und Machtansprüche verbergen sich unter dem Passierschein der kulturellen Aneignung, zwischen Orientalismus und Folklore? In einer dreiteiligen Serie versucht Patrick Hahn nach Indien zu reisen, durchhorcht einige prägnante Beispiele der nordwesteuropäischen Musikgeschichte und stellt sich den Ambivalenzen der Kulturellen Appropriation anhand ausgewählter »West-Eastern Divas«.
Text Patrick Hahn
Titelbild »A European in Indian dress, smoking a hookah and watching a nautch in his house at Delhi«, ca. 1820 (Public Domain)
Kultureller Austausch war, vorsichtig ausgedrückt, nicht das Kernanliegen der so abenteuerlustigen wie einflussreichen Unternehmer, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Britische Ostindien-Kompanie gründeten. Sie wetteiferten mit Portugiesen und Niederländern, Dänen, Schweden und Franzosen um das Privileg, mit Gewürzen, Tee und anderen Kostbarkeiten aus Indien und dem südostasiatischen Raum zu handeln und waren Vorhut, Statthalter und Nutznießer kolonialer Repression zugleich. Mit den Jahren trugen die Handelsschiffe jedoch nicht nur Tauschgüter und Waren über den Pazifik. Sie brachten auch die Familien der Kaufleute nach Indien – und mit ihnen immer wieder auch Musikinstrumente, wie diese Episode eines überraschenden Austauschs verrät, in der zwei musikliebenden Engländerinnen und einer echten indischen Diva zunächst die Hauptrolle zukommt. Margaret Fowke ist darunter, Tochter eines britischen Diamantenhändlers, die 1776 im Alter von siebzehn Jahren nach Indien reiste, wo sie – nachdem sowohl ihre Mutter als auch ihre Tante verstorben waren – bei Ihrem Onkel lebte. Von ihr wissen wir, welchen Schwierigkeiten eine Cembalospielerin sich im indischen Monsun ausgesetzt sah: »Ich habe gerade mein Cembalo angefasst und finde es zu meinem unendlichen Bedauern verhext«, schreibt sie ihrem Vater. »Gestern wurde es gestimmt und gestern Abend war es noch in perfekter Ordnung – heute morgen, als ich meine Akkorde herunterrasseln wollte, haben die Tasten auf meine Berührungen nicht reagiert. Es klingt wie ein altes Cembalo, das für zehn Jahre nicht gestimmt worden ist. Einige Tasten haben gar keinen Klang – andere einen dumpfen Ton. Kurzum: das bezaubernde Instrument ist ziemlich ruiniert. Heftige Regenfälle sind in den letzten zwei Tagen heruntergekommen und letzte Nacht, als ich auf dem Cembalo spielte, war die Luft so dunstig, dass man sich vorstellen konnte, Wasser wäre über alle Tasten geschüttet worden.« Als ihre Tasten wieder ansprachen, begnügte sie sich nicht damit, die Musik von Haydn, Scarlatti oder Couperin auf dem Cembalo zu üben, sie versuchte auch, die Musik der indischen Musiker:innen für ihr Instrument zu übersetzen. Eine Sendung dieser Hindustani Airs an ihren Vater, transkribiert für Cembalo, versah sie mit dem Hinweis, dass er versichert sein könne, dass diese »exakt seien und auf mich schön wirken. Ungeachtet dessen kann ich nicht sicher sein, dass sie Euch gefallen; denn Noten können den Stil nicht ausdrücken und der Stil dieser Airs ist sehr eigenwillig und neu. Ich habe die Musiker gebeten, ihre Instrumente nach dem Cembalo zu stimmen, damit ich zu ihrem kleinen Orchester dazu kommen kann. Sie wirkten stets entzückt von der Begleitung des Cembalos und sangen mit außerordentlicher Lebhaftigkeit und Freude für sie selbst, die ich in ihren Gesichtern lesen konnte. … Während der Arien lassen sie die Saiten ihrer Instrumente rauschen, was ein ununterbrochenes Summen erzeugt, das an ein Insekt erinnert, dem ich schon oft begegnet bin.« Die Schilderung der Begegnung zwischen Margaret Fowke und lokalen Musiker:innen deutet an, dass solche Begegnungen durchaus Neugier auf beiden Seiten zu wecken vermochte, wie auch das Beispiel von Sophia Plowden unterstreicht. Plowden folgte ihrem Mann, einem Offizier der East India Company, nach Kalkutta, wo sie nicht nur zahlreiche Kinder zur Welt brachte, sondern sich auch mit einer der berühmtesten Sängerinnen Indiens anfreundete, der Kurtisane Khanum Jan. Musikalische Begegnungen fanden häufig unter Umständen statt, wie man sie sich ambivalenter kaum ausdenken könnte. Nordindische Kurtisanen sangen, tanzten und rezitierten Gedichte im sogenannten »nautch«, wie die intimen musikalischen Parties hießen, die von europäischen wie indischen Herren gleichermaßen geschätzt wurden. Alle Techniken, die in den Hindutempeln zur Verehrung der Gottheit geübt wurden, wurden hier zum Vergnügen der Männer eingesetzt. Sophia Plowden war von den Auftritten der Khanum Jan so begeistert, dass sie ihre Lieder (und deren Texte) transkribierte.
Jeder, der auch nur einmal oberflächlich mit indischer Musik in Berührung gekommen ist, ahnt die Schwierigkeiten, denen die beiden musikbegeisterten Engländerinnen beim Versuch ihre Erlebnisse festzuhalten, ausgesetzt waren. Zum einen sangen ihre indischen Vorbilder vermutlich kein Lied zweimal gleich, bildet doch Improvisation ein wichtiges Element der indischen Musik. Zum anderen verwenden die indischen Modi, die Ragas, viel kleinere Tonschritte als europäische Tonleitern: 22 Töne bringen sie im gleichen Raum unter, in dem auf der Cembalotastatur bloß zwölf Töne liegen. Eine indische »Air« in das Prokrustesbett der temperierten Stimmung zu zwingen, simpel zu harmonisieren und womöglich auch noch vereinfachend zu rhythmisieren, wird dieser zwangsläufig nicht gerecht. Und doch sorgte genau dieser Schritt dafür, dass neben indischen Gewürzen und indischem Tee auch ein Hauch von der indischen Poesie in Europa bekannt werden konnte. Maßgeblich dafür verantwortlich war William Hamilton Bird, ein Musiker und Konzertveranstalter, der unter den Expats bereits berüchtigt war, weil er mit seinen Versuchen, in Indien mit Aufführungen von Corelli oder Haydn erfolgreich zu sein, wiederholt Schiffbruch erlitten hatte. Eine Sammlung indischer Airs, zusammengestellt für den Salongebrauch, taugte da zur Rettung. Bird profitierte von den Vorarbeiten von Sophia Plowden und sanierte seine Finanzen mit Oriental Miscellany, einer faszinierenden Kollektion von Cembalostücken, zwischen »Bombay Sapphire« und »Philosophie im Boudoir«.
Die Nautch-Musiker:innen wiederum integrierten im frühen 20. Jahrhundert ein Harmonium in ihr Instrumentarium . Davon abgesehen pflegt die indische klassische Musik bis heute ihr Eigenleben, nicht minder um sich selbst kreisend als die nordwesteuropäische, wie Sandeep Bhagwati – dem ich den Hinweis William Hamilton Bird verdanke – schon 2003 schön beschrieben hat. »Fast könnte man sagen: Der Westen und Indien leben auf zwei so grundverschiedenen Zeitachsen, dass sie einander nicht wirklich tiefgreifend beeinflussen können.«
Spätestens seit der Weltausstellung von Paris 1889, auf der Claude Debussy gemeinsam mit einer staunenden europäischen Öffentlichkeit erstmals indonesische Gamelan-Musik erlebt hat, hat sich die Frequenz erhöht, mit der Komponist:innen ihre Erfindungen mit exotischen Reizen würzen oder sich fremde Instrumente und Techniken kannibalisch einverleiben. An die Stelle des kolonialistischen Zugriffs trat zunehmend die unverbindliche Neugier des Touristen, die aber in der Konsequenz nicht weniger einflussreich war und ist. 1973 veröffentlichte Karlheinz Stockhausen erstmals seine Gedanken zu einer »Weltmusik«, der er zugleich in seinem eigenen Schaffen spätestens seit TELEMUSIK (1966) auf der Spur war – eine Zeit, in der auf der einen Seite der Pauschaltourismus seine ersten Blüten trieb, während andererseits sinnsuchende New Ager in Ostasien nach spiritueller und sexueller Erleuchtung suchten. Als Vielgereister wusste er: »Man kann noch so viele Bücher über Musik anderer Völker lesen, Photos oder Fernsehsendungen anschauen, Schallplatten und Rundfunksendungen hören: das Erlebnis einer Originalaufführung am richtigen Ort zur richtigen Zeit und mit den richtigen Leuten ist unersetzbar. Das darf man nie vergessen.« Die Begegnung mit anderen Kulturen sah Stockhausen als ein Mittel an, um im Individuum eine Verantwortlichkeit für die gesamte Welt zu wecken. »Für jemanden, der sich nicht nur für die Kultur in dem engeren Bereich, in dem er lebt und sich bewegt, interessiert, sondern der in sich den Erdling entdeckt, dessen Kultur die gesamte Erdkultur ist und in dem auch jenes Verantwortungsgefühl wach ist, sich für die Zukunft der Menschheit mitverantwortlich zu fühlen, ist also von nun an die Beschäftigung mit der Musik anderer Kulturen kein Hobby, sondern eine notwendige Voraussetzung, um andere Menschen besser verstehen zu können und dadurch den ganzen Menschen zu wecken und zu ›kultivieren‹.« Wie so oft beim Großmeister aus Kürten, empfing er die richtigen Signale – und setzte sie dann doch auf verstörende Weise selbst ins Werk. Sind die Aufnahmen traditioneller ethnischer Musiken in Telemusik (1966) bis zur völligen Unkenntlichkeit atomisiert, abstrahiert und damit auch wieder neutralisiert, erscheint das Treibgut exotischer Versatzstücke in seiner Vokalkomposition Stimmung (1968) in naiver bis albern-grotesker Konkretheit. Es war wegweisend, wie Stockhausen den Gepflogenheiten des Konzertbetriebs eine Gruppe von sechs Stimmen entgegensetzte, die – einander zu- und dem Publikum abgewandt – sich in einer etwas mehr als einstündigen zeremoniellen Übung der uralten Technik des Oberton-Gesangs verschrieben. Bekannt ist diese Form des Gesangs vor allem aus der traditionellen Musik in zentralasiatischen Kulturen und der von Stockhausen selbst verbreiteten Legende nach entdeckte er diese Technik für sich wieder, als seine Partnerin Mary Bauermeister ihn aufforderte, wegen der schlafenden Kinder leise zu singen. Ganz jugendfrei ist das Ergebnis dieser nächtlichen Übung freilich nicht: An die Seite der »magischen Namen«, die von den Sänger*innen angerufen werden, stellt Stockhausen erotische Verse, die den Hörer in ihrer Ambivalenz zwischen dadaistischem und pennälerhaftem Scherz ratlos zurücklassen. Der hehre Anspruch, auf allen Registern der menschlichen Vibrationen zu spielen, scheitert vorläufig noch an einer Mischung aus rheinischem Leichtsinn und an der ins Absurde reichenden Weigerung, sich mit der Bedeutung der Inventarisierung magischer Götternamen in sein elektronisch verstärktes Gesumme zu beschäftigen: »The male is basically an animale. Salem aleikum – Salami-Ei«.
Auf die Studierenden, die zum Zeitpunkt der Uraufführung gegen das Establishment auf die Straße gingen, wirkte diese hybride Verbindung ebenso verstörend wie auf die Kolleg:innen der Avantgarde und das bürgerliche Konzertpublikum.
Die »West Eastern Divas«, die ich Ihnen in dieser dreiteiligen Serie vorgestellt habe, haben eines gemeinsam: Sie sind allesamt Produkte einer »Nahgesellschaft«, deren Ende der Medientheoretiker Peter Weibel angesichts der Corona-Pandemie nun beschreibt.
Angesichts der Pandemie »beginnt nun das Zeitalter der Ferngesellschaft, die auf digitalen Technologien der Fernkommunikation basiert.« Wird eine »postpandemische Gesellschaft« auch eine Gesellschaft sein, in der die Massenmobilität zurückgehen wird? In der die – technologisch überwundene – Ferne eine neue Normalität darstellt? Welche Konsequenzen wird es haben, wenn der Austausch durch die Nutzung digitaler Medien weiter beschleunigt wird? Wenn die Teilnahme an einem Zeremoniell medial potenziell allverfügbar wäre und niemand gezwungen ist, »das schützende Paradies der Selbstsicherheit« (Stockhausen) zu verlassen, um der »Weltmusik« zu begegnen? »Musik, eine Tempelzeremonie, einen Tanz kann man nicht mitnehmen«, schrieb Stockhausen 1973. »Man muß entweder dort bleiben, oder die Sehnsucht meldet sich zu den ungerufensten Augenblicken, wenn man wieder ›daheim‹ ist …« Es sind dies Sorgen einer Nahgesellschaft, die noch einen Unterschied von „Ferne“ und »Heimat« kennt. Die Herausforderungen der Hybridisierung von Kulturen werden in den kommenden Jahren längst nicht nur in der Unterscheidung von »Eigenem« und »Fremdem« liegen. Sie beginnen schon mit der Differenz zwischen innen und außen, zwischen »Ich« und »Weltq. Fremde, das wird immer deutlicher, Fremde sind wir uns selbst. ¶
»Music does not stand still«, sagt der Musikforscher Michael Church. »When people migrate, it migrates with them.« Was aber passiert, wenn nicht Menschen, sondern künstlerische Motive, Stilelemente, Formen sich auf Reisen begeben? Welche Fehldeutungen und Machtansprüche verbergen sich unter dem Passierschein der kulturellen Aneignung, zwischen Orientalismus und Folklore? In einer dreiteiligen Serie versucht Patrick Hahn nach Indien zu reisen, durchhorcht einige prägnante Beispiele der nordwesteuropäischen Musikgeschichte und stellt sich den Ambivalenzen der Kulturellen Appropriation anhand ausgewählter »West-Eastern Divas«. In dieser zweiten Folge guckt er Schiller, Hindemith, Weber und Rousseau beim Verwursten musikalischer und literarischer Mitbringsel aus Asien über die Schulter.
Text Patrick Hahn
Titelbild »A European in Indian dress, smoking a hookah and watching a nautch in his house at Delhi«, ca. 1820 (Public Domain)
Kultureller Austausch war, vorsichtig ausgedrückt, nicht das Kernanliegen der so abenteuerlustigen wie einflussreichen Unternehmer, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Britische Ostindien-Kompanie gründeten. Sie wetteiferten mit Portugiesen und Niederländern, Dänen, Schweden und Franzosen um das Privileg, mit Gewürzen, Tee und anderen Kostbarkeiten aus Indien und dem südostasiatischen Raum zu handeln und waren Vorhut, Statthalter und Nutznießer kolonialer Repression zugleich. Mit den Jahren trugen die Handelsschiffe jedoch nicht nur Tauschgüter und Waren über den Pazifik. Sie brachten auch die Familien der Kaufleute nach Indien – und mit ihnen immer wieder auch Musikinstrumente, wie diese Episode eines überraschenden Austauschs verrät, in der zwei musikliebenden Engländerinnen und einer echten indischen Diva zunächst die Hauptrolle zukommt. Margaret Fowke ist darunter, Tochter eines britischen Diamantenhändlers, die 1776 im Alter von siebzehn Jahren nach Indien reiste, wo sie – nachdem sowohl ihre Mutter als auch ihre Tante verstorben waren – bei Ihrem Onkel lebte. Von ihr wissen wir, welchen Schwierigkeiten eine Cembalospielerin sich im indischen Monsun ausgesetzt sah: »Ich habe gerade mein Cembalo angefasst und finde es zu meinem unendlichen Bedauern verhext«, schreibt sie ihrem Vater. »Gestern wurde es gestimmt und gestern Abend war es noch in perfekter Ordnung – heute morgen, als ich meine Akkorde herunterrasseln wollte, haben die Tasten auf meine Berührungen nicht reagiert. Es klingt wie ein altes Cembalo, das für zehn Jahre nicht gestimmt worden ist. Einige Tasten haben gar keinen Klang – andere einen dumpfen Ton. Kurzum: das bezaubernde Instrument ist ziemlich ruiniert. Heftige Regenfälle sind in den letzten zwei Tagen heruntergekommen und letzte Nacht, als ich auf dem Cembalo spielte, war die Luft so dunstig, dass man sich vorstellen konnte, Wasser wäre über alle Tasten geschüttet worden.« Als ihre Tasten wieder ansprachen, begnügte sie sich nicht damit, die Musik von Haydn, Scarlatti oder Couperin auf dem Cembalo zu üben, sie versuchte auch, die Musik der indischen Musiker:innen für ihr Instrument zu übersetzen. Eine Sendung dieser Hindustani Airs an ihren Vater, transkribiert für Cembalo, versah sie mit dem Hinweis, dass er versichert sein könne, dass diese »exakt seien und auf mich schön wirken. Ungeachtet dessen kann ich nicht sicher sein, dass sie Euch gefallen; denn Noten können den Stil nicht ausdrücken und der Stil dieser Airs ist sehr eigenwillig und neu. Ich habe die Musiker gebeten, ihre Instrumente nach dem Cembalo zu stimmen, damit ich zu ihrem kleinen Orchester dazu kommen kann. Sie wirkten stets entzückt von der Begleitung des Cembalos und sangen mit außerordentlicher Lebhaftigkeit und Freude für sie selbst, die ich in ihren Gesichtern lesen konnte. … Während der Arien lassen sie die Saiten ihrer Instrumente rauschen, was ein ununterbrochenes Summen erzeugt, das an ein Insekt erinnert, dem ich schon oft begegnet bin.« Die Schilderung der Begegnung zwischen Margaret Fowke und lokalen Musiker:innen deutet an, dass solche Begegnungen durchaus Neugier auf beiden Seiten zu wecken vermochte, wie auch das Beispiel von Sophia Plowden unterstreicht. Plowden folgte ihrem Mann, einem Offizier der East India Company, nach Kalkutta, wo sie nicht nur zahlreiche Kinder zur Welt brachte, sondern sich auch mit einer der berühmtesten Sängerinnen Indiens anfreundete, der Kurtisane Khanum Jan. Musikalische Begegnungen fanden häufig unter Umständen statt, wie man sie sich ambivalenter kaum ausdenken könnte. Nordindische Kurtisanen sangen, tanzten und rezitierten Gedichte im sogenannten »nautch«, wie die intimen musikalischen Parties hießen, die von europäischen wie indischen Herren gleichermaßen geschätzt wurden. Alle Techniken, die in den Hindutempeln zur Verehrung der Gottheit geübt wurden, wurden hier zum Vergnügen der Männer eingesetzt. Sophia Plowden war von den Auftritten der Khanum Jan so begeistert, dass sie ihre Lieder (und deren Texte) transkribierte.
Jeder, der auch nur einmal oberflächlich mit indischer Musik in Berührung gekommen ist, ahnt die Schwierigkeiten, denen die beiden musikbegeisterten Engländerinnen beim Versuch ihre Erlebnisse festzuhalten, ausgesetzt waren. Zum einen sangen ihre indischen Vorbilder vermutlich kein Lied zweimal gleich, bildet doch Improvisation ein wichtiges Element der indischen Musik. Zum anderen verwenden die indischen Modi, die Ragas, viel kleinere Tonschritte als europäische Tonleitern: 22 Töne bringen sie im gleichen Raum unter, in dem auf der Cembalotastatur bloß zwölf Töne liegen. Eine indische »Air« in das Prokrustesbett der temperierten Stimmung zu zwingen, simpel zu harmonisieren und womöglich auch noch vereinfachend zu rhythmisieren, wird dieser zwangsläufig nicht gerecht. Und doch sorgte genau dieser Schritt dafür, dass neben indischen Gewürzen und indischem Tee auch ein Hauch von der indischen Poesie in Europa bekannt werden konnte. Maßgeblich dafür verantwortlich war William Hamilton Bird, ein Musiker und Konzertveranstalter, der unter den Expats bereits berüchtigt war, weil er mit seinen Versuchen, in Indien mit Aufführungen von Corelli oder Haydn erfolgreich zu sein, wiederholt Schiffbruch erlitten hatte. Eine Sammlung indischer Airs, zusammengestellt für den Salongebrauch, taugte da zur Rettung. Bird profitierte von den Vorarbeiten von Sophia Plowden und sanierte seine Finanzen mit Oriental Miscellany, einer faszinierenden Kollektion von Cembalostücken, zwischen »Bombay Sapphire« und »Philosophie im Boudoir«.
Die Nautch-Musiker:innen wiederum integrierten im frühen 20. Jahrhundert ein Harmonium in ihr Instrumentarium . Davon abgesehen pflegt die indische klassische Musik bis heute ihr Eigenleben, nicht minder um sich selbst kreisend als die nordwesteuropäische, wie Sandeep Bhagwati – dem ich den Hinweis William Hamilton Bird verdanke – schon 2003 schön beschrieben hat. »Fast könnte man sagen: Der Westen und Indien leben auf zwei so grundverschiedenen Zeitachsen, dass sie einander nicht wirklich tiefgreifend beeinflussen können.«
Spätestens seit der Weltausstellung von Paris 1889, auf der Claude Debussy gemeinsam mit einer staunenden europäischen Öffentlichkeit erstmals indonesische Gamelan-Musik erlebt hat, hat sich die Frequenz erhöht, mit der Komponist:innen ihre Erfindungen mit exotischen Reizen würzen oder sich fremde Instrumente und Techniken kannibalisch einverleiben. An die Stelle des kolonialistischen Zugriffs trat zunehmend die unverbindliche Neugier des Touristen, die aber in der Konsequenz nicht weniger einflussreich war und ist. 1973 veröffentlichte Karlheinz Stockhausen erstmals seine Gedanken zu einer »Weltmusik«, der er zugleich in seinem eigenen Schaffen spätestens seit TELEMUSIK (1966) auf der Spur war – eine Zeit, in der auf der einen Seite der Pauschaltourismus seine ersten Blüten trieb, während andererseits sinnsuchende New Ager in Ostasien nach spiritueller und sexueller Erleuchtung suchten. Als Vielgereister wusste er: »Man kann noch so viele Bücher über Musik anderer Völker lesen, Photos oder Fernsehsendungen anschauen, Schallplatten und Rundfunksendungen hören: das Erlebnis einer Originalaufführung am richtigen Ort zur richtigen Zeit und mit den richtigen Leuten ist unersetzbar. Das darf man nie vergessen.« Die Begegnung mit anderen Kulturen sah Stockhausen als ein Mittel an, um im Individuum eine Verantwortlichkeit für die gesamte Welt zu wecken. »Für jemanden, der sich nicht nur für die Kultur in dem engeren Bereich, in dem er lebt und sich bewegt, interessiert, sondern der in sich den Erdling entdeckt, dessen Kultur die gesamte Erdkultur ist und in dem auch jenes Verantwortungsgefühl wach ist, sich für die Zukunft der Menschheit mitverantwortlich zu fühlen, ist also von nun an die Beschäftigung mit der Musik anderer Kulturen kein Hobby, sondern eine notwendige Voraussetzung, um andere Menschen besser verstehen zu können und dadurch den ganzen Menschen zu wecken und zu ›kultivieren‹.« Wie so oft beim Großmeister aus Kürten, empfing er die richtigen Signale – und setzte sie dann doch auf verstörende Weise selbst ins Werk. Sind die Aufnahmen traditioneller ethnischer Musiken in Telemusik (1966) bis zur völligen Unkenntlichkeit atomisiert, abstrahiert und damit auch wieder neutralisiert, erscheint das Treibgut exotischer Versatzstücke in seiner Vokalkomposition Stimmung (1968) in naiver bis albern-grotesker Konkretheit. Es war wegweisend, wie Stockhausen den Gepflogenheiten des Konzertbetriebs eine Gruppe von sechs Stimmen entgegensetzte, die – einander zu- und dem Publikum abgewandt – sich in einer etwas mehr als einstündigen zeremoniellen Übung der uralten Technik des Oberton-Gesangs verschrieben. Bekannt ist diese Form des Gesangs vor allem aus der traditionellen Musik in zentralasiatischen Kulturen und der von Stockhausen selbst verbreiteten Legende nach entdeckte er diese Technik für sich wieder, als seine Partnerin Mary Bauermeister ihn aufforderte, wegen der schlafenden Kinder leise zu singen. Ganz jugendfrei ist das Ergebnis dieser nächtlichen Übung freilich nicht: An die Seite der »magischen Namen«, die von den Sänger*innen angerufen werden, stellt Stockhausen erotische Verse, die den Hörer in ihrer Ambivalenz zwischen dadaistischem und pennälerhaftem Scherz ratlos zurücklassen. Der hehre Anspruch, auf allen Registern der menschlichen Vibrationen zu spielen, scheitert vorläufig noch an einer Mischung aus rheinischem Leichtsinn und an der ins Absurde reichenden Weigerung, sich mit der Bedeutung der Inventarisierung magischer Götternamen in sein elektronisch verstärktes Gesumme zu beschäftigen: »The male is basically an animale. Salem aleikum – Salami-Ei«.
Auf die Studierenden, die zum Zeitpunkt der Uraufführung gegen das Establishment auf die Straße gingen, wirkte diese hybride Verbindung ebenso verstörend wie auf die Kolleg:innen der Avantgarde und das bürgerliche Konzertpublikum.
Die »West Eastern Divas«, die ich Ihnen in dieser dreiteiligen Serie vorgestellt habe, haben eines gemeinsam: Sie sind allesamt Produkte einer »Nahgesellschaft«, deren Ende der Medientheoretiker Peter Weibel angesichts der Corona-Pandemie nun beschreibt.
Angesichts der Pandemie »beginnt nun das Zeitalter der Ferngesellschaft, die auf digitalen Technologien der Fernkommunikation basiert.« Wird eine »postpandemische Gesellschaft« auch eine Gesellschaft sein, in der die Massenmobilität zurückgehen wird? In der die – technologisch überwundene – Ferne eine neue Normalität darstellt? Welche Konsequenzen wird es haben, wenn der Austausch durch die Nutzung digitaler Medien weiter beschleunigt wird? Wenn die Teilnahme an einem Zeremoniell medial potenziell allverfügbar wäre und niemand gezwungen ist, »das schützende Paradies der Selbstsicherheit« (Stockhausen) zu verlassen, um der »Weltmusik« zu begegnen? »Musik, eine Tempelzeremonie, einen Tanz kann man nicht mitnehmen«, schrieb Stockhausen 1973. »Man muß entweder dort bleiben, oder die Sehnsucht meldet sich zu den ungerufensten Augenblicken, wenn man wieder ›daheim‹ ist …« Es sind dies Sorgen einer Nahgesellschaft, die noch einen Unterschied von „Ferne“ und »Heimat« kennt. Die Herausforderungen der Hybridisierung von Kulturen werden in den kommenden Jahren längst nicht nur in der Unterscheidung von »Eigenem« und »Fremdem« liegen. Sie beginnen schon mit der Differenz zwischen innen und außen, zwischen »Ich« und »Weltq. Fremde, das wird immer deutlicher, Fremde sind wir uns selbst. ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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