Text Elisa Erkelenz
Titelbild Nanamu Hamamoto
Als wir uns Ende Mai trafen, lag eher eine Mischung aus Depression und Resignation über der Stadt. Wenige Wochen später hat sich eine enorme Bewegung in Hongkong entwickelt, die ganze Welt verfolgt die Demonstrationen, in denen es längst nicht mehr nur um das Auslieferungsgesetz geht. »Free Democracy« oder »Free Hong Kong« heißt es inzwischen in den Forderungen der Demonstrierenden. Wie erlebst du die Stadt inmitten der Proteste?
Ich war heute wieder draußen, eigentlich bin ich fast immer mit auf der Straße, wenn es geht. Das Leben ansonsten aber ist im weitesten Sinne funktional. Wohin das Ganze steuert? Die Proteste 2014 haben Monate gedauert. Im Herbst sind Wahlen in Hongkong – halten sie bis dahin durch? Auch ist die Frage, was eigentlich das langfristige Ziel wäre. Hier scheint mir manchmal eine Schieflage zu sein zwischen politischem Kalkül auf Seiten der chinesischen Regierung und eher situativ reagierenden Protesten. Die Forderungen gehen insgesamt weit auseinander. Manche fordern die Unabhängigkeit, anderen ein Referendum.
Die University of California in Berkeley, an der du unterrichtest, ist ein Hotspot der Protestkultur, von Black Lives Matter zu Occupy. Wie nimmst du die aktuellen Proteste in Hongkong als Bewegung wahr?
Die jungen Leute hier sind sehr gut organisiert, sie haben viel gelernt, auch von der Regenschirm-Revolution. Sie wissen genau, wie sie miteinander kommunizieren. Während es 2014 noch starke, charismatische Führungspersönlichkeiten gab, die, die jetzt im Gefängnis sitzen, kommunizieren sie heute anonymer, digitaler: über Apps wie Telegram oder Airdrop, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen. Es ist extrem demokratisch: Mit den Apps wird zum Beispiel auch live abgestimmt, ob man nach der Biegung links oder rechts weitergeht, ob man das Regierungsviertel stürmt oder nicht – auch unterschiedliche Strömungen innerhalb der Proteste können organisiert werden, gemäßigte und radikalere, physischere. Die ganze Bewegung ist sehr, sehr solidarisch, das ist toll zu sehen. Sie teilen Ausrüstung wie Helme, Essen, Wasser und verstauen es an strategischen Punkten. Ich sehe Menschen, die sich gegenseitig helfen, das tun, was nötig ist. Auch um das Recyceln von Wasserflaschen zum Beispiel kümmern sie sich. Wie sich das Ganze nun radikalisiert oder auch spaltet, bleibt spannend.
Inwiefern nimmst du die Protestformen auch als ästhetische wahr?
Im Gegensatz zu dem bourgeoisen Konsumismus in den fancy Malls in Hongkong stehen nun die Barrikaden der Studierenden in der Stadt. Letzte Woche habe ich eine Barrikade gesehen bei der Polizeizentrale in Wan Chai, gebaut aus zweckentfremdeten Schutzschildern der Polizei, Bambus, Verkehrsschildern und verschiedenen weiteren Materialien, mit Plastik verbunden. Wie eine Skulptur. Es ist wie etwas, das aus ihrer Natur geboren wurde.
Was meinst du mit Natur genau?
Es hat mich an Seidenraupen denken lassen. Karl Marx sagt über John Milton, wenn er über den kapitalproduktiven Wert von Miltons »Paradise lost« spricht, dass Milton ein unproduktiver Arbeiter war, da er sein Manuskript nicht verkauft hat, obwohl er so viel Zeit investiert hat. Da hat Marx Milton mit einer Seidenraupe verglichen. Und da werden die Raupen paradigmatisch für die Kunst. Diese natürliche Handlung des Protestes, und der Barrikaden, es ist wie die Seidenraupe, die Seide produziert. Das Künstlerische entsteht aus ihrer Natur.
Wenn wir bei ästhetischen Formen von Protest sind, welche Lieder hörst du auf den Straßen?
Die Hymne der Proteste ist »Do you hear the people sing« von »Les Misérables«, wie auch 2014 schon. Aber viele singen auch »Hallelujah«, es gibt viele Christen in Hongkong. Und natürlich viele Slogans in Kantonesisch, Dinge wie »Lam soll abtreten«, »Gegen Polizeigewalt« und so weiter.
Du selbst trittst in deinen Performances oft mit Megaphon auf, inwiefern geht es dir hierbei selbst um Protestformen?
Das Megaphon ist wie eine Erweiterung meines Körpers. Ich schreie in die Wüste und hoffe, dass die Leute anfangen, die Stimmen von Individuen zu hören, anstatt kollektiver Stimmen, die sie in historische Normen zu drängen versuchen.
Du sprichst vom Klassik-Betrieb?
Meine Erfahrung an klassischen Konservatorien ist die, dass Sängerinnen und Sänger zu immer gleichen, normierten Stimmen ausgebildet werden. Belcanto. Das System steckt Stimmen ins Korsett. Es ist im Grunde analog zur Politik. Aber jede Stimme ist ein eigenes Instrument – und es gibt so viele ungenutzte Möglichkeiten. Ich habe mich mehr und mehr für Techniken interessiert, die außerhalb dieser Tradition standen. Eigentlich weniger aus Protest, als um zu zeigen: Hey, der menschliche Stimmmechanismus ist zu so viel mehr in der Lage! Viele Inspirationen habe ich zum Beispiel aus dem Heavy Metal, vor allem mit Blick auf Unterton-Gesang. Ich beobachte eine starke Vertikalisierung, was musikalische Inspirationen angeht. Auch das ist ein Teil der kulturellen Segregation. In unserem Stadium menschlicher Zivilisation sollten wir jedoch offener sein, diese Unterschiede als erweiterte Möglichkeiten wahrzunehmen, oder?
»Das System steckt Stimmen ins Korsett.«
Ken Ueno im Gespräch mit Elisa Erkelenz in @vanmusik #outernational
Du hast dich neben Metal auch mit Stimmtechniken anderer Musiktraditionen befasst, vor allem mit Kehlgesang aus der Tuwa-Region.
Ja, auch aus verschiedenen anderen Stimmtechniken, die außerhalb unseres westlichen Kanons stehen, ziehe ich Inspiration. Der Kehlgesang der Tuwa hat mich schon seit Langem fasziniert: Mit einer bestimmten Atemtechnik können mehrere Töne gleichzeeitig über einen langen Zeitraum gehalten werden. Eine ähnliche Gesangstechnik gibt es aber auch bei Inuit Frauen aus Alaska – interessanterweise singen bei den Tuwa traditionell nur die Männer, bei den Inuit nur die Frauen – es ist also auch eine Genderfrage. Hier sind es kürzere, rhythmische Atmungen, die oft zwei Frauen gemeinsam singen. Faszinierende Obterton-Techniken findet man aber auch bei den Xhosa in Südafrika und bei sardischen Männerchören.
Wie bist du genau vorgegangen, um die Techniken zu lernen?
Fast ausschließlich über das Hören und Nachahmen, über Videos und Aufnahmen. Ich sehe es auch nicht als »beherrschtes« Wissen an, ich verstehe zum Beispiel auch viele der Texte nicht. Es sind gesangstechnische Inspirationen, mit denen ich wiederum sehr individuell und frei umgehe. Ich bin mir des neokolonialen Subtextes durchaus bewusst. Doch der Großteil meiner Musik folgt keiner semantischen Implikation. Ich möchte die Stimme als Instrument sehen.
In deinem Werk »On a Sufficient Condition for the Existence of Most Specific Hypothesis« für Solo-Kehlgesang und Orchester kommt auch eine alte Aufnahme von dir als Kind zum Einsatz, in der du bereits multiphonisch singst. Inwiefern ist diese Trennung der Stimme von ihrer semantischen Implikation biographisch motiviert?
Ich habe Erinnerungen als Baby, bevor ich sprechen konnte. Ich habe die Sprache verstanden, aber konnte mich selbst nicht ausdrücken. Ich fühle die Frustration bis heute. Doch es liegt auch ein Potenzial darin. Eine Sprache zu lernen ist immer auch ein Filter, wir spezialisieren uns, lernen, diese und jene Worte zu verwenden und andere nicht, wir lernen unsere Ausdruckskraft zu fokussieren, statt sie voll auszuschöpfen. Als ich vier war, sind wir von den USA in die Schweiz gezogen und ich war wieder stumm. Ich bekam einen Aiwa Kassettenrecorder und habe in meiner Einsamkeit angefangen, nicht lineare musique concrète aufzunehmen, multiphonisch zu singen, alle möglichen Sounds auszuprobieren.
Inwiefern nutzt du das Megaphon als Instrument für diese Spannung?
Es ist eine Verstärkung, doch es geht nicht darum, lauter zu sein. Es ist eine andere Qualität von Timbre und Farblichkeit. Es geht auch um den Kontrast, wenn ich es wegnehme, es ist auch ein rhythmischer Faktor darin, es entsteht eine Art Hypermeter. Atmen und flüstern werden hörbar, Weißflächen, die von grau zu hellgrau changieren. Ich hoffe auch, dass es nicht zu sehr ablenkt davon, dass es noch immer meine Stimme ist, mein Mund… Dass auch der multiphonische Gesang von mir kommt, es ist also kein Verfremder, sondern ein Verstärker der Körperlichkeit, die ich hineingebe.
Deine Performances als Stimmkünstler sind sehr persönlich, autonom und körperlich. Wie überträgst du das in deine Kompositionen?
Ich versuche, nicht für Instrumente, sondern für Menschen zu komponieren. Für sehr spezifische Situationen, auch Räume. Ich denke, die Musiktheorie, Erziehung und vielleicht auch die Musikkritik, die Art und Weise, wie wir über Musik sprechen und denken, sollte der körperlichen Erfahrung als Hörer und Performer näher kommen. Ich sehe meine Aufgabe als Komponist darin, Energie zu kuratieren. Über der westlichen Ästhetik schwebt noch immer diese Leib-Seele-Dialektik; ich wiederum denke, wir können Denken und Fühlen, das impliziert natürlich auch das Hören, wieder in komplexerer Art und Weise zusammendenken. Einer, der das tut ist der Philosoph Richard Shusterman, der die »Somoästhetik« entwickelt hat. In dieser Richtung, denke ich, können wir den Körper zurück in die Musiktheorie bringen, eine demokratische Landschaft denken, in der wir körperliches Wissen mit dem Verstand verbinden. Auch wenn es darum geht, inwiefern uns Kunsterfahrungen transformieren können.
Siehst du hier auch eine Verbindung zu den aktuellen Erfahrungen der Proteste?
Für mich ist der transformative Vorstellungsraum eine zentrale »Funktion« von Kunst, wenn man so will. Was sind die Dinge, die mich tief im Inneren bewegen? Davon gehe ich aus, wenn ich etwas komponiere. Was sind die Dinge, die die Menschen hier so tief bewegen, dass sie dafür alles riskieren, sich zum Teil das Leben nehmen? Diese Frage begleitet mich hier.
Viele existierende, klassische, künstlerische Formate nehmen zwei Schritte Distanz zu diesen Dingen im Leben. Als ich die Studierenden die Barrikaden haben bauen sehen, dachte ich: Diese Aktion als solche ist Kunst. Es ist keine Übersetzung, sie machen keine Oper daraus. Vielleicht kann eine wirklich zeitgenössische Kunst einen Schritt näher zurück zu den Dingen treten. Es ist so viel stärker als alles, was wir auf eine symphonische Bühne bringen könnten. Ich weiß nicht, wie sich dieser Gedanke materialisieren lässt, aber es sind Dinge, über die ich nachdenke, seit ich die Chance hatte, neben diesen jungen Menschen auf den Straßen zu sein. ¶
Text Elisa Erkelenz
Titelbild Nanamu Hamamoto
Als wir uns Ende Mai trafen, lag eher eine Mischung aus Depression und Resignation über der Stadt. Wenige Wochen später hat sich eine enorme Bewegung in Hongkong entwickelt, die ganze Welt verfolgt die Demonstrationen, in denen es längst nicht mehr nur um das Auslieferungsgesetz geht. »Free Democracy« oder »Free Hong Kong« heißt es inzwischen in den Forderungen der Demonstrierenden. Wie erlebst du die Stadt inmitten der Proteste?
Ich war heute wieder draußen, eigentlich bin ich fast immer mit auf der Straße, wenn es geht. Das Leben ansonsten aber ist im weitesten Sinne funktional. Wohin das Ganze steuert? Die Proteste 2014 haben Monate gedauert. Im Herbst sind Wahlen in Hongkong – halten sie bis dahin durch? Auch ist die Frage, was eigentlich das langfristige Ziel wäre. Hier scheint mir manchmal eine Schieflage zu sein zwischen politischem Kalkül auf Seiten der chinesischen Regierung und eher situativ reagierenden Protesten. Die Forderungen gehen insgesamt weit auseinander. Manche fordern die Unabhängigkeit, anderen ein Referendum.
Die University of California in Berkeley, an der du unterrichtest, ist ein Hotspot der Protestkultur, von Black Lives Matter zu Occupy. Wie nimmst du die aktuellen Proteste in Hongkong als Bewegung wahr?
Die jungen Leute hier sind sehr gut organisiert, sie haben viel gelernt, auch von der Regenschirm-Revolution. Sie wissen genau, wie sie miteinander kommunizieren. Während es 2014 noch starke, charismatische Führungspersönlichkeiten gab, die, die jetzt im Gefängnis sitzen, kommunizieren sie heute anonymer, digitaler: über Apps wie Telegram oder Airdrop, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen. Es ist extrem demokratisch: Mit den Apps wird zum Beispiel auch live abgestimmt, ob man nach der Biegung links oder rechts weitergeht, ob man das Regierungsviertel stürmt oder nicht – auch unterschiedliche Strömungen innerhalb der Proteste können organisiert werden, gemäßigte und radikalere, physischere. Die ganze Bewegung ist sehr, sehr solidarisch, das ist toll zu sehen. Sie teilen Ausrüstung wie Helme, Essen, Wasser und verstauen es an strategischen Punkten. Ich sehe Menschen, die sich gegenseitig helfen, das tun, was nötig ist. Auch um das Recyceln von Wasserflaschen zum Beispiel kümmern sie sich. Wie sich das Ganze nun radikalisiert oder auch spaltet, bleibt spannend.
Inwiefern nimmst du die Protestformen auch als ästhetische wahr?
Im Gegensatz zu dem bourgeoisen Konsumismus in den fancy Malls in Hongkong stehen nun die Barrikaden der Studierenden in der Stadt. Letzte Woche habe ich eine Barrikade gesehen bei der Polizeizentrale in Wan Chai, gebaut aus zweckentfremdeten Schutzschildern der Polizei, Bambus, Verkehrsschildern und verschiedenen weiteren Materialien, mit Plastik verbunden. Wie eine Skulptur. Es ist wie etwas, das aus ihrer Natur geboren wurde.
Was meinst du mit Natur genau?
Es hat mich an Seidenraupen denken lassen. Karl Marx sagt über John Milton, wenn er über den kapitalproduktiven Wert von Miltons »Paradise lost« spricht, dass Milton ein unproduktiver Arbeiter war, da er sein Manuskript nicht verkauft hat, obwohl er so viel Zeit investiert hat. Da hat Marx Milton mit einer Seidenraupe verglichen. Und da werden die Raupen paradigmatisch für die Kunst. Diese natürliche Handlung des Protestes, und der Barrikaden, es ist wie die Seidenraupe, die Seide produziert. Das Künstlerische entsteht aus ihrer Natur.
Wenn wir bei ästhetischen Formen von Protest sind, welche Lieder hörst du auf den Straßen?
Die Hymne der Proteste ist »Do you hear the people sing« von »Les Misérables«, wie auch 2014 schon. Aber viele singen auch »Hallelujah«, es gibt viele Christen in Hongkong. Und natürlich viele Slogans in Kantonesisch, Dinge wie »Lam soll abtreten«, »Gegen Polizeigewalt« und so weiter.
Du selbst trittst in deinen Performances oft mit Megaphon auf, inwiefern geht es dir hierbei selbst um Protestformen?
Das Megaphon ist wie eine Erweiterung meines Körpers. Ich schreie in die Wüste und hoffe, dass die Leute anfangen, die Stimmen von Individuen zu hören, anstatt kollektiver Stimmen, die sie in historische Normen zu drängen versuchen.
Du sprichst vom Klassik-Betrieb?
Meine Erfahrung an klassischen Konservatorien ist die, dass Sängerinnen und Sänger zu immer gleichen, normierten Stimmen ausgebildet werden. Belcanto. Das System steckt Stimmen ins Korsett. Es ist im Grunde analog zur Politik. Aber jede Stimme ist ein eigenes Instrument – und es gibt so viele ungenutzte Möglichkeiten. Ich habe mich mehr und mehr für Techniken interessiert, die außerhalb dieser Tradition standen. Eigentlich weniger aus Protest, als um zu zeigen: Hey, der menschliche Stimmmechanismus ist zu so viel mehr in der Lage! Viele Inspirationen habe ich zum Beispiel aus dem Heavy Metal, vor allem mit Blick auf Unterton-Gesang. Ich beobachte eine starke Vertikalisierung, was musikalische Inspirationen angeht. Auch das ist ein Teil der kulturellen Segregation. In unserem Stadium menschlicher Zivilisation sollten wir jedoch offener sein, diese Unterschiede als erweiterte Möglichkeiten wahrzunehmen, oder?
»Das System steckt Stimmen ins Korsett.«
Ken Ueno im Gespräch mit Elisa Erkelenz in @vanmusik #outernational
Du hast dich neben Metal auch mit Stimmtechniken anderer Musiktraditionen befasst, vor allem mit Kehlgesang aus der Tuwa-Region.
Ja, auch aus verschiedenen anderen Stimmtechniken, die außerhalb unseres westlichen Kanons stehen, ziehe ich Inspiration. Der Kehlgesang der Tuwa hat mich schon seit Langem fasziniert: Mit einer bestimmten Atemtechnik können mehrere Töne gleichzeeitig über einen langen Zeitraum gehalten werden. Eine ähnliche Gesangstechnik gibt es aber auch bei Inuit Frauen aus Alaska – interessanterweise singen bei den Tuwa traditionell nur die Männer, bei den Inuit nur die Frauen – es ist also auch eine Genderfrage. Hier sind es kürzere, rhythmische Atmungen, die oft zwei Frauen gemeinsam singen. Faszinierende Obterton-Techniken findet man aber auch bei den Xhosa in Südafrika und bei sardischen Männerchören.
Wie bist du genau vorgegangen, um die Techniken zu lernen?
Fast ausschließlich über das Hören und Nachahmen, über Videos und Aufnahmen. Ich sehe es auch nicht als »beherrschtes« Wissen an, ich verstehe zum Beispiel auch viele der Texte nicht. Es sind gesangstechnische Inspirationen, mit denen ich wiederum sehr individuell und frei umgehe. Ich bin mir des neokolonialen Subtextes durchaus bewusst. Doch der Großteil meiner Musik folgt keiner semantischen Implikation. Ich möchte die Stimme als Instrument sehen.
In deinem Werk »On a Sufficient Condition for the Existence of Most Specific Hypothesis« für Solo-Kehlgesang und Orchester kommt auch eine alte Aufnahme von dir als Kind zum Einsatz, in der du bereits multiphonisch singst. Inwiefern ist diese Trennung der Stimme von ihrer semantischen Implikation biographisch motiviert?
Ich habe Erinnerungen als Baby, bevor ich sprechen konnte. Ich habe die Sprache verstanden, aber konnte mich selbst nicht ausdrücken. Ich fühle die Frustration bis heute. Doch es liegt auch ein Potenzial darin. Eine Sprache zu lernen ist immer auch ein Filter, wir spezialisieren uns, lernen, diese und jene Worte zu verwenden und andere nicht, wir lernen unsere Ausdruckskraft zu fokussieren, statt sie voll auszuschöpfen. Als ich vier war, sind wir von den USA in die Schweiz gezogen und ich war wieder stumm. Ich bekam einen Aiwa Kassettenrecorder und habe in meiner Einsamkeit angefangen, nicht lineare musique concrète aufzunehmen, multiphonisch zu singen, alle möglichen Sounds auszuprobieren.
Inwiefern nutzt du das Megaphon als Instrument für diese Spannung?
Es ist eine Verstärkung, doch es geht nicht darum, lauter zu sein. Es ist eine andere Qualität von Timbre und Farblichkeit. Es geht auch um den Kontrast, wenn ich es wegnehme, es ist auch ein rhythmischer Faktor darin, es entsteht eine Art Hypermeter. Atmen und flüstern werden hörbar, Weißflächen, die von grau zu hellgrau changieren. Ich hoffe auch, dass es nicht zu sehr ablenkt davon, dass es noch immer meine Stimme ist, mein Mund… Dass auch der multiphonische Gesang von mir kommt, es ist also kein Verfremder, sondern ein Verstärker der Körperlichkeit, die ich hineingebe.
Deine Performances als Stimmkünstler sind sehr persönlich, autonom und körperlich. Wie überträgst du das in deine Kompositionen?
Ich versuche, nicht für Instrumente, sondern für Menschen zu komponieren. Für sehr spezifische Situationen, auch Räume. Ich denke, die Musiktheorie, Erziehung und vielleicht auch die Musikkritik, die Art und Weise, wie wir über Musik sprechen und denken, sollte der körperlichen Erfahrung als Hörer und Performer näher kommen. Ich sehe meine Aufgabe als Komponist darin, Energie zu kuratieren. Über der westlichen Ästhetik schwebt noch immer diese Leib-Seele-Dialektik; ich wiederum denke, wir können Denken und Fühlen, das impliziert natürlich auch das Hören, wieder in komplexerer Art und Weise zusammendenken. Einer, der das tut ist der Philosoph Richard Shusterman, der die »Somoästhetik« entwickelt hat. In dieser Richtung, denke ich, können wir den Körper zurück in die Musiktheorie bringen, eine demokratische Landschaft denken, in der wir körperliches Wissen mit dem Verstand verbinden. Auch wenn es darum geht, inwiefern uns Kunsterfahrungen transformieren können.
Siehst du hier auch eine Verbindung zu den aktuellen Erfahrungen der Proteste?
Für mich ist der transformative Vorstellungsraum eine zentrale »Funktion« von Kunst, wenn man so will. Was sind die Dinge, die mich tief im Inneren bewegen? Davon gehe ich aus, wenn ich etwas komponiere. Was sind die Dinge, die die Menschen hier so tief bewegen, dass sie dafür alles riskieren, sich zum Teil das Leben nehmen? Diese Frage begleitet mich hier.
Viele existierende, klassische, künstlerische Formate nehmen zwei Schritte Distanz zu diesen Dingen im Leben. Als ich die Studierenden die Barrikaden haben bauen sehen, dachte ich: Diese Aktion als solche ist Kunst. Es ist keine Übersetzung, sie machen keine Oper daraus. Vielleicht kann eine wirklich zeitgenössische Kunst einen Schritt näher zurück zu den Dingen treten. Es ist so viel stärker als alles, was wir auf eine symphonische Bühne bringen könnten. Ich weiß nicht, wie sich dieser Gedanke materialisieren lässt, aber es sind Dinge, über die ich nachdenke, seit ich die Chance hatte, neben diesen jungen Menschen auf den Straßen zu sein. ¶
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