Text Oksana Lyniv und Hannah Schmidt
Titelbild © via www.oksanalyniv.com
Jewhen Stankowytsch – für mich gehört er zu den bedeutendsten Komponisten der Ukraine – und sein »Kaddish-Requiem«: Eine Kantate für großen Chor, Solisten und sinfonisches Orchester. Komponiert hat er es in Kiew zum 50-jährigen Gedenken an das Massaker von Babyn Jar, das größte Massaker an Juden im zweiten Weltkrieg. Stankowytsch verarbeitet darin Gedichte von Dmytro Pavlychko, in denen die Tragödie thematisiert wird: Das Erlöschen von Leben. Abschied. Gebete und Flüche auf Gott, der so etwas zulässt. Stankowytsch arbeitet auch mit traditionellen Melodien, entwickelt aber stets eine ganz eigene, musikalische Sprache. 1978 hat er zum Beispiel eine Oper komponiert »Wenn die Farn blüht«, bei der er viele rituelle Lieder, die beim heidnischen Sonnenkult verwendet waren, benutzt und vom Chor verlangt, sie auf »authentische« Art zu singen. Er hat die Oper in den 70er Jahren komponiert, für eine Aufführung in Paris. Nach der Generalprobe kam ein Anruf aus Moskau vom Generalsekretär der Kommunistischen Partei Mikhail Suslov und die Premiere wurde verboten. Das Bühnenbild und die Kostüme wurden vernichtet: Es war dem Regime zu, naja, authentisch. Zu ukrainisch. Vor kurzem kam es in Lwiw dann zur Aufführung.
In der »Fantasia Galiziana« für sieben Akkordeone und Sinfonieorchester bearbeitet Sehin, ein Vertreter der jüngeren Generation ukrainischer Komponisten, in seiner charakteristischen Weise ein traditionelles Lied aus Lwiw. Später hat er noch einen zweiten Teil hinzukomponiert, einen Tango für Akkordeon Solo, Blechbläser, die aber nur auf dem Mundstück spielen, und für eine alte Schallplatte mit einer historischen Aufnahme dieses Tangos. Eine galizische Fantasie.
Durch seine Art zu komponieren hat Yuri Laniuk viele ungewöhnliche Ideen etabliert. Er vermischt Genres und arbeitet mit neuen Konstellationen von Stimme und instrumentaler Besetzung. Seine »Verkündigung« für Solo-Geige, gemischten Chor und Streichorchester ist eines meiner Lieblingswerke. Eine ganz besondere mystische, transzendentale Stimmung, die keineswegs religiös ist. Die Geigenstimme entwickelt sich zu einer Hymne. Laniuk ist selbst Cellist und nutzt verschiedene Artikulationstechniken und Spielweisen, auch im Orchester – und das kommt dadurch in sehr impressionistischen Farben zum Klingen. Auch den Chor hat er sehr genau eingesetzt: Die Sänger singen ohne Text, nur auf Vokalen, und schaffen eine unglaublich mysteriöse Farbe, über der die virtuose Stimme der Solo-Geige schwebt.
Die Szene ist für Frauen, so empfinde ich es, in der Ukraine tatsächlich unproblematisch, ich sehe keinen Unterschied zwischen der Behandlung von Komponistinnen, ihrem Ansehen und der Präsenz ihrer Werke im Vergleich zu dem von Männern. Eine herausragende Frau auf dem Feld der Komposition ist Bohdana Frolyak, die in Lwiw lebt. Sie hat viel Kammermusik geschrieben, aber auch größere Sinfonien und Werke für Chor und großes Orchester. Ein wichtiges Werk ist für mich das »Kyrie Eleison« für gemischten Chor und Streicher. Ich bin in Brody geboren, wie auch der berühmte Schriftsteller Joseph Roth. Dort steht die Ruine einer im Zweiten Weltkrieg zerbombten Synagoge, bei der die gesamte Vorderseite heruntergerissen ist. Vor dieser schrecklichen, beeindruckenden Kulisse möchte ich dieses Jahr im Rahmen meines LvivMozArt-Festivals das Gedenkkonzert zu Joseph Roths 125. Geburtstag dirigieren. Vor der »3. Kaddish-Symphonie« von Leonhard Bernstein erklingt im Programm auch Frolyaks »Kyrie Eleison«. Es wird das erste Mal überhaupt sein, dass vor der Ruine, Open Air, ein Konzert stattfindet. Es geht mir dabei um die besondere Stimmung, die entstehen kann, wenn heute lebende, moderne Menschen an diesem besonderen Ort den Ereignissen gedenken.
Liubava Sydorenko kenne ich noch aus meinem Studium in Lwiw. Ich habe unter anderem ihre Sinfonische Dichtung 2006 mit den Bamberger Symphonikern für den Bayerischen Rundfunk aufgenommen. Derzeit arbeitet sie an einer Oper, deren Vorlage Stanislaw Lems Film »Solaris« ist, Teile davon wurden auch schon aufgeführt. Sydorenko arbeitet in den unterschiedlichsten Besetzungen und Genres, viel auch mit Elektronik – wie in ihren »weißen Engeln«.
Es gibt einige wenige Komponisten in der Ukraine, die auf die nachfolgenden Generationen ganz enormen Einfluss ausgeübt haben und ausüben. Einer davon ist Myroslaw Skoryk, eine wahre Koryphäe. Er hat am Lwiwer Konservatorium unterrichtet und die Komponistenszene der Stadt stark mit geprägt. In seinen Werken vermischt er Karpatische Folklore, Lwiwer Volks- und Salonmusik und vor allem auch populäre Musik und Jazz. Dabei hatte Skoryk keine leichte Vergangenheit mit der Ukraine, seine Familie geriet aus politischen Gründen in Stalins Visier und wurde nach Siberien deportiert. Erst nach Stalins Tod konnten er und seine Familie wieder zurück. Er hat viel Musik geschrieben, die in der Ukraine unglaublich berühmt geworden ist, darunter die Filmmusik zu »Feuerpferde« von Sergei Paradschanow – es war einer der ersten Filme, die sich offen gegen den gesetzlich vorgeschriebenen Sozialistischen Realismus gewandt haben. Paradschanow war deshalb mehrere Jahre im Gefängnis. Skoryk hat etwas später auf der Basis der Musik aus dem Film eine Orchestersuite geschrieben (»Huzulisches Triptychon«).
Oleksandr Kozarenk lebt in Lwiw und ist dort selbst als Konzertpianist tätig. Er nimmt in seinen Werken immer wieder Bezug auf die galizische Geschichte. Beispielsweise hat er die Musik geschrieben zu einem Ballett nach dem Roman »Don Juan von Kolomea – Galizische Geschichten« von Leopold von Sacher-Masoch. Sehr interessant finde ich darüber hinaus aber seine »Fünf Hochzeitslieder für Sopran und Orchester«, in denen Kozarenko traditionelle Ritualgesänge verarbeitet, die bei galizischen Hochzeiten, speziell in den Karpaten gesungen wurden. Er verlangt von den Sängern auch die entsprechenden Techniken und Gesangsweisen, es ist also nicht einfach eine Bearbeitung dieser Volksthemen, sondern sie bekommen bei ihm eine eigene Spur, werden Teil einer ganz einzigartigen Komposition. Die Stimmung, die die alten Rituale hervorrufen, die die Hochzeit als etwas mystisches, als Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt feiern, werden in dieser Musik sehr gegenwärtig, er kann sie in seiner Art zu komponieren wirklich schön wiedergeben, ohne sie einfach nur zu paraphrasieren. ¶
Text Oksana Lyniv und Hannah Schmidt
Titelbild © via www.oksanalyniv.com
Jewhen Stankowytsch – für mich gehört er zu den bedeutendsten Komponisten der Ukraine – und sein »Kaddish-Requiem«: Eine Kantate für großen Chor, Solisten und sinfonisches Orchester. Komponiert hat er es in Kiew zum 50-jährigen Gedenken an das Massaker von Babyn Jar, das größte Massaker an Juden im zweiten Weltkrieg. Stankowytsch verarbeitet darin Gedichte von Dmytro Pavlychko, in denen die Tragödie thematisiert wird: Das Erlöschen von Leben. Abschied. Gebete und Flüche auf Gott, der so etwas zulässt. Stankowytsch arbeitet auch mit traditionellen Melodien, entwickelt aber stets eine ganz eigene, musikalische Sprache. 1978 hat er zum Beispiel eine Oper komponiert »Wenn die Farn blüht«, bei der er viele rituelle Lieder, die beim heidnischen Sonnenkult verwendet waren, benutzt und vom Chor verlangt, sie auf »authentische« Art zu singen. Er hat die Oper in den 70er Jahren komponiert, für eine Aufführung in Paris. Nach der Generalprobe kam ein Anruf aus Moskau vom Generalsekretär der Kommunistischen Partei Mikhail Suslov und die Premiere wurde verboten. Das Bühnenbild und die Kostüme wurden vernichtet: Es war dem Regime zu, naja, authentisch. Zu ukrainisch. Vor kurzem kam es in Lwiw dann zur Aufführung.
Durch seine Art zu komponieren hat Yuri Laniuk viele ungewöhnliche Ideen etabliert. Er vermischt Genres und arbeitet mit neuen Konstellationen von Stimme und instrumentaler Besetzung. Seine »Verkündigung« für Solo-Geige, gemischten Chor und Streichorchester ist eines meiner Lieblingswerke. Eine ganz besondere mystische, transzendentale Stimmung, die keineswegs religiös ist. Die Geigenstimme entwickelt sich zu einer Hymne. Laniuk ist selbst Cellist und nutzt verschiedene Artikulationstechniken und Spielweisen, auch im Orchester – und das kommt dadurch in sehr impressionistischen Farben zum Klingen. Auch den Chor hat er sehr genau eingesetzt: Die Sänger singen ohne Text, nur auf Vokalen, und schaffen eine unglaublich mysteriöse Farbe, über der die virtuose Stimme der Solo-Geige schwebt.
In der »Fantasia Galiziana« für sieben Akkordeone und Sinfonieorchester bearbeitet Sehin, ein Vertreter der jüngeren Generation ukrainischer Komponisten, in seiner charakteristischen Weise ein traditionelles Lied aus Lwiw. Später hat er noch einen zweiten Teil hinzukomponiert, einen Tango für Akkordeon Solo, Blechbläser, die aber nur auf dem Mundstück spielen, und für eine alte Schallplatte mit einer historischen Aufnahme dieses Tangos. Eine galizische Fantasie.
Die Szene ist für Frauen, so empfinde ich es, in der Ukraine tatsächlich unproblematisch, ich sehe keinen Unterschied zwischen der Behandlung von Komponistinnen, ihrem Ansehen und der Präsenz ihrer Werke im Vergleich zu dem von Männern. Eine herausragende Frau auf dem Feld der Komposition ist Bohdana Frolyak, die in Lwiw lebt. Sie hat viel Kammermusik geschrieben, aber auch größere Sinfonien und Werke für Chor und großes Orchester. Ein wichtiges Werk ist für mich das »Kyrie Eleison« für gemischten Chor und Streicher. Ich bin in Brody geboren, wie auch der berühmte Schriftsteller Joseph Roth. Dort steht die Ruine einer im Zweiten Weltkrieg zerbombten Synagoge, bei der die gesamte Vorderseite heruntergerissen ist. Vor dieser schrecklichen, beeindruckenden Kulisse möchte ich dieses Jahr im Rahmen meines LvivMozArt-Festivals das Gedenkkonzert zu Joseph Roths 125. Geburtstag dirigieren. Vor der »3. Kaddish-Symphonie« von Leonhard Bernstein erklingt im Programm auch Frolyaks »Kyrie Eleison«. Es wird das erste Mal überhaupt sein, dass vor der Ruine, Open Air, ein Konzert stattfindet. Es geht mir dabei um die besondere Stimmung, die entstehen kann, wenn heute lebende, moderne Menschen an diesem besonderen Ort den Ereignissen gedenken.
Liubava Sydorenko kenne ich noch aus meinem Studium in Lwiw. Ich habe unter anderem ihre Sinfonische Dichtung 2006 mit den Bamberger Symphonikern für den Bayerischen Rundfunk aufgenommen. Derzeit arbeitet sie an einer Oper, deren Vorlage Stanislaw Lems Film »Solaris« ist, Teile davon wurden auch schon aufgeführt. Sydorenko arbeitet in den unterschiedlichsten Besetzungen und Genres, viel auch mit Elektronik – wie in ihren »weißen Engeln«.
Es gibt einige wenige Komponisten in der Ukraine, die auf die nachfolgenden Generationen ganz enormen Einfluss ausgeübt haben und ausüben. Einer davon ist Myroslaw Skoryk, eine wahre Koryphäe. Er hat am Lwiwer Konservatorium unterrichtet und die Komponistenszene der Stadt stark mit geprägt. In seinen Werken vermischt er Karpatische Folklore, Lwiwer Volks- und Salonmusik und vor allem auch populäre Musik und Jazz. Dabei hatte Skoryk keine leichte Vergangenheit mit der Ukraine, seine Familie geriet aus politischen Gründen in Stalins Visier und wurde nach Siberien deportiert. Erst nach Stalins Tod konnten er und seine Familie wieder zurück. Er hat viel Musik geschrieben, die in der Ukraine unglaublich berühmt geworden ist, darunter die Filmmusik zu »Feuerpferde« von Sergei Paradschanow – es war einer der ersten Filme, die sich offen gegen den gesetzlich vorgeschriebenen Sozialistischen Realismus gewandt haben. Paradschanow war deshalb mehrere Jahre im Gefängnis. Skoryk hat etwas später auf der Basis der Musik aus dem Film eine Orchestersuite geschrieben (»Huzulisches Triptychon«).
Oleksandr Kozarenk lebt in Lwiw und ist dort selbst als Konzertpianist tätig. Er nimmt in seinen Werken immer wieder Bezug auf die galizische Geschichte. Beispielsweise hat er die Musik geschrieben zu einem Ballett nach dem Roman »Don Juan von Kolomea – Galizische Geschichten« von Leopold von Sacher-Masoch. Sehr interessant finde ich darüber hinaus aber seine »Fünf Hochzeitslieder für Sopran und Orchester«, in denen Kozarenko traditionelle Ritualgesänge verarbeitet, die bei galizischen Hochzeiten, speziell in den Karpaten gesungen wurden. Er verlangt von den Sängern auch die entsprechenden Techniken und Gesangsweisen, es ist also nicht einfach eine Bearbeitung dieser Volksthemen, sondern sie bekommen bei ihm eine eigene Spur, werden Teil einer ganz einzigartigen Komposition. Die Stimmung, die die alten Rituale hervorrufen, die die Hochzeit als etwas mystisches, als Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt feiern, werden in dieser Musik sehr gegenwärtig, er kann sie in seiner Art zu komponieren wirklich schön wiedergeben, ohne sie einfach nur zu paraphrasieren. ¶
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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