Text Philipp Rhensius
Fotos Silke Weinsheimer
Video Florian Schmuck
Dem Trickster Orchestra, das 2013 von der Sängerin und Komponistin Cymin Samawatie und dem Schlagzeuger und Komponisten Ketan Bhatti gegründet wurde, geht es nicht um die Wiedergabe von Traditionen oder die werktreue Aufführung alter Kompositionen. Es geht darum, etwas Neues, Ungehörtes, zu schaffen. Dass es höchst komplex ist, den Fallstricken der Phrasenhaftigkeit zu entgehen und dennoch nachvollziehbar zu bleiben, lässt sich an einem kalten Januar-Vormittag in den Berliner Hansa Studios erleben. Dort, im Meistersaal, sitzen und stehen 22 der 45 nicht-ständigen Musiker*innen vor ihren teils klassischen, teils zeitgenössischen, teils nicht-westlichen, traditionellen Instrumenten. Sie lauschen einem Ausschnitt des gerade aufgenommen Takes des Stücks »Por se ssedaa«.
So richtig perfekt war das noch nicht, befinden alle. Also auf zum nächsten Take: Abermals beginnen die Streicher, diesmal viel subtiler, mit einer getragenen Melodie, die kurz in spätromantischen Gefilden schwelgt, bevor sie von den Stackato-Tönen der Koto, gespielt von Naoko Kikuchi, und dem persischen Gesang Samawaties perforiert wird. Sie sind der Auftakt für einen lässigen Jazz-Groove mit vorwärts stolpernden Drums, um nach wenigen Minuten auf einer Melodie von Mohamad Fityan’s Ney, der zentralasiatischen Längsflöte, zu landen. Zwischendurch gibt es immer wieder kurze Momente der Verwirrung, wie psychoakustische Tricks. Wenn die Kawala, eine arabischen Rohrflöte plötzlich wie eine Stimme oder das Vibraphon wie ein Kontrabass klingt. Doch bevor das Rätsel gelöst wird, ertönt schon wieder das Motiv, diesmal zum Höhepunkt gesteigert. Dann herrscht völlige Stille. Eine bedrohliche, aber auch erwartungsvolle Stille, während die schüchtern hereinscheinende Wintersonne den vor sich hin tanzenden Staub sichtbar werden lässt.
Dann eine Stimme aus dem Off: »Das Schlagzeug war ein bisschen zu laut«, sagt Tonmeister Martin Ruch. Er sitzt zusammen mit dem Tonmeister Philip Krause und dem Trickster-Dramaturgen Philip Geisler eine Etage tiefer im Aufnahmestudio der Emil Berliner Studios. Per Kamera und Mikrofon sind sie mit dem Orchester verbunden. Bhatti, der als Schlagzeuger selbst mitspielt, stimmt zu, entschuldigt sich. Der improvisierte Teil klinge ihm dennoch ein wenig zu statisch, er »müsse viel energischer sein«. Auch der Posaunist Florian Junker wünscht sich mehr Entschlossenheit. Alle sind einverstanden. Weniger einig sind sich Mohamad Fityan und die Vibraphon-Spielerin Taiko Saito. Soll es eher mezzopiano oder mezzoforte sein? »Wir sollten weggehen von den Feinheiten, sondern Ketan dynamisch folgen«, sagt Samawatie mit entschlossener, aber diplomatischer Stimme. Außerdem hieße Improvisation nicht, reinzukommen und nie wieder raus, sondern, nicht ständig dieselben Töne zu spielen und auch mal auszubrechen. »Sind alle Handys auf Flugmodus gestellt?« 22 Köpfe nicken und Samawatie zählt ein zum vierten Take. Es wird nicht der letzte sein an diesem Tag.
Einer jener aufwändigen Aufnahme beizuwohnen, ist eine seltene Gelegenheit, eines der ungewöhnlichsten zeitgenössischen Orchester Europas kennenzulernen. Hier offenbart sich nicht nur die musikalische, sondern auch die psychologische und soziale Dynamik eines Kollektivs, dass es sich alles andere als einfach macht, um den Ansprüchen ihrer stil-sprengenden Vision gerecht zu werden. Nicht nur, weil die Organisation trotz Leitung weitgehend demokratisch ist und Details immer wieder diskutiert und Einwände stets gehört werden, sondern auch, weil es sich nie zufrieden geben würde mit einfachen Kompromissen.
»Hast hussle continuum«
Von Ketan Bhatti
Zwei Wochen später erklärt Samawatie in ihrer Kreuzberger Wohnung bei Ingwertee, warum das so ist. Vor einigen Jahren habe sie mal erlebt, wie ein Oud-Spieler einen Bratschisten fragte, ob er Vierteltöne hören könne. Er habe verneint, also hätten sie sich dazu entschieden, dass der Bratschist den Grundton spielt, und die Oud darüber soliert. Das fänden dann alle schön und fertig sei der exotische Faktor. Für Trickster käme das nicht infrage. »Das wäre uns zu einfach. Wir wollen nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner.« Bhatti, der neben ihr sitzt, nickt. Während es bei vielen Orchestern oft darum ginge, eine »bestimmte musikalische Tradition auszustellen«, geht es bei Trickster um das Hier und Jetzt. »Wir sind nicht an dem tollen Oud-Solo interessiert, sondern daran, wie dieses Instrument auch anders klingen kann.«
Doch wie lässt sich das bewerkstelligen, in einem Kollektiv, in dem etliche Instrumente vorkommen, deren Stimmungen und Timbres im euroamerikanischen Sinne harmonisch nicht aufeinander abgestimmt sind?
»Mit dem Konzept der Mimesis«, sagt Bhatti, der wie Samawatie mindestens so gerne über die Form wie über den Inhalt von Musik sinniert. »Es geht nicht um ein bloßes Imitieren, sondern darum, sich gegenseitig zuzuhören.« Diese »verkörperte Nachahmung« beinhalte, sich »in die andere Person zu verwandeln«. Da das eigentlich nicht möglich ist, entsteht zwangsläufig etwas Neues. In der Nachahmung stecke »ein innovatives Potential«. Statt den Klang und die Stimmung eines jeweiligen Instruments nur mit einem Grundton zu begleiten, stünde im Vordergrund, dem vermeintlich fremden Instrument zuzuhören und zu versuchen, »mit seinen eigenen Mitteln in Interaktion zu treten«. »Wenn du mit der Viola versuchst, die Koto nachzuahmen, wird das nur indirekt funktionieren, und zwar, in dem du dich mit deinem Instrument verwandelst.«
Sich zu verwandeln, sich nicht mit einer starren traditionellen Form zu identifizieren, sondern mit einem Zwischenraum, der ständig in Bewegung ist, ist auch ein Statement. Auf eine Welt, die das Ambivalente schätzt und gegen eine, die trotz ihrer multipolaren globalisierten Struktur wieder mehr als je zuvor wieder in starren Kategorien wie Nation, Herkunft oder unhinterfragbaren Taditionen denkt.
Die gesellschaftliche Relevanz von Trickster hätten sie aber gar nicht suchen müssen. Sie sei von alleine gekommen, erzählt Bhatti. »Wir kommen aus einer ästhetischen Herangehensweise und daraus ergeben sich politische Fragestellungen und Antwortprozesse. Wir wollen aufzeigen, wie abwegig es ist, in Grenzen zu denken, also in Kategorien wie wir und die anderen oder das Fremde und das Eigene.« Eine zeitgenössische Musik müsse die »diverse Kultur repräsentieren«. Das wichtigste sei, dass das auf Augenhöhe, also im Dialog mit allen Mitgliedern, passiere.
Die implizite Kritik an und die Thematisierung von Leitkultur, Diversität, Kolonialismus, Migration und Imperialismus befreit sie aber nicht von der Bürde dessen, was der Musikwissenschaftler Johannes Ismaiel-Wendt als »Topophilie« bezeichnet. Also das Bedürfnis, Musik immer sofort geographisch zu verorten und damit auch mit bestimmten festen kulturellen Identitäten zu verbinden. So firmiert Trickster als Kollektiv aus Menschen mit unterschiedlichster Herkunft nicht selten noch unter »Weltmusik«, jenem hilflosen, quasi-rassistischen Begriff, mit dem im euroamerikanischen Raum seit den 1980er Jahren jegliche Musik eingeordnet wird, in der nicht-westliche Instrumente und Skalen verwendet werden.
Samawatie findet das problematisch. »Ich finde, dass mit diesem Begriff zu oft auf das Andere verwiesen wird – und das grenzt aus.« Mit der Gründung des Orchesters wollte sie ein Zeichen gegen den Exotismus setzen – und zugleich möglichst viele Instrumente einbeziehen, die in deutschen Orchestern sonst nicht zum Einsatz kommen.
Der Anspruch, sowohl das »Eigene« als auch das »Andere« in einem neuen Raum zu verorten, ist für Bhatti nichts weniger als eine Utopie. »Utopien sind Möglichkeiten für ein besseres Leben. Kunst muss diese Utopien in den Raum stellen und greifbar machen.« Das ist, wie immer, wenn viele unterschiedliche Individuen aufeinandertreffen, alles andere als einfach. Nicht nur, wenn es um kleine Diskussionen wie beim Aufnahmetag geht. So fordern die Leiter von ihren Mitstreiter*innen stets eine völlige Offenheit ein.
Egal ob sie aus der persischen oder westlichen Klassik, der Echtzeitmusik, dem Jazz oder der Neuen Musik stammen, solistische Eitelkeiten oder ein Beharren auf traditionellen Genregrenzen sind tabu. Am Wichtigsten sei es laut Bhatti, das Gehör »nicht an der Garderobe abzugeben«. Jeder solle aus seiner oder ihrer Komfortzone heraustreten.
Was für einige zunächst eine große Herausforderung war, wird langfristig belohnt. So komponieren die beiden oft stark personenbezogen. Dem Bratschisten von den Berliner Philharmonikern begegnen sie anders als dem Cellisten, der aus dem Jazzbereich kommt. Samawatie ist überzeugt: Nur wenn sie auch »für die Musiker komponiere, hätten sie besonders Spaß an der Arbeit und nur so würden auch die Konzerte gelingen.«
»Casting ist sehr wichtig«, wirft Bhatti lachend ein. »Es ist schon toll, zu sehen, wenn unser Ney-Spieler, der sonst in sehr traditionellen Kontexten spielt, Spaß daran hat, alle 30 Takte lediglich ›pff‹ zu machen«.
Die Lust am Experiment und am Hinterfragen von Traditionen ist ein Leitmotiv in Samawaties Karriere. Nach ihrem Klassik-Studium in Schlagzeug, Klavier, Gesang habe sie zunächst »immer brav das gespielt«, was von ihr verlangt wurde. Wenn sie etwas ändern wollte, hieß es oft: »Du musst das so machen, wie der Komponist das möchte.« Im Jazz, den sie anschließend im Hauptfach Gesang studiert hat, sei das nicht viel anders gewesen. Dort sei die Aufteilung zwischen Komponist und Interpret nicht mehr so starr. Doch auch hier habe es strikte Regeln gegeben, formell als auch ästhetisch, die es zu befolgen galt und die nicht infrage gestellt wurden. »Änderungen, hieß es, seien respektlos.«
Auch Bhatti wollte schon komponieren, bevor er überhaupt ein Instrument beherrschte. »Ich bin vielleicht davon beeinflusst, zwischen den Welten zu stehen.« In Indien geboren und aufgewachsen in Deutschland, sei er immer der andere gewesen. In Indien »der Deutsche« und in Deutschland immer mehr der, der »gut deutsch kann«, ergänzt Samawatie, die als in Deutschland geborenes Kind iranischer Eltern ähnliche Erfahrung gemacht hat. So hätten sie gelernt, sich selbst immer nur in Beziehung zu etwas anderem zu sehen. »Es sind alles Strukturen und Systeme«, sagt Bhatti. »Wie in der Musik.«
Wenn das stimmt, dann steht Trickster durchaus für eine Utopie. Dann wäre es doch ein leichtes, die musikalische auf die soziale Struktur zu übertragen. Statt die Instrumente müsste man nur die Menschen selbst von der Bürde ihrer jeweiligen Traditionen befreien. Dass dieser Weg nicht einfach ist, hat niemand gesagt. Aber Trickster macht vor, wie es gehen kann.¶
Text Philipp Rhensius
Fotos Silke Weinsheimer
Video Florian Schmuck
Dem Trickster Orchestra, das 2013 von der Sängerin und Komponistin Cymin Samawatie und dem Schlagzeuger und Komponisten Ketan Bhatti gegründet wurde, geht es nicht um die Wiedergabe von Traditionen oder die werktreue Aufführung alter Kompositionen. Es geht darum, etwas Neues, Ungehörtes, zu schaffen. Dass es höchst komplex ist, den Fallstricken der Phrasenhaftigkeit zu entgehen und dennoch nachvollziehbar zu bleiben, lässt sich an einem kalten Januar-Vormittag in den Berliner Hansa Studios erleben. Dort, im Meistersaal, sitzen und stehen 22 der 45 nicht-ständigen Musiker*innen vor ihren teils klassischen, teils zeitgenössischen, teils nicht-westlichen, traditionellen Instrumenten. Sie lauschen einem Ausschnitt des gerade aufgenommen Takes des Stücks »Por se ssedaa«.
So richtig perfekt war das noch nicht, befinden alle. Also auf zum nächsten Take: Abermals beginnen die Streicher, diesmal viel subtiler, mit einer getragenen Melodie, die kurz in spätromantischen Gefilden schwelgt, bevor sie von den Stackato-Tönen der Koto, gespielt von Naoko Kikuchi, und dem persischen Gesang Samawaties perforiert wird. Sie sind der Auftakt für einen lässigen Jazz-Groove mit vorwärts stolpernden Drums, um nach wenigen Minuten auf einer Melodie von Mohamad Fityan’s Ney, der zentralasiatischen Längsflöte, zu landen. Zwischendurch gibt es immer wieder kurze Momente der Verwirrung, wie psychoakustische Tricks. Wenn die Kawala, eine arabischen Rohrflöte plötzlich wie eine Stimme oder das Vibraphon wie ein Kontrabass klingt. Doch bevor das Rätsel gelöst wird, ertönt schon wieder das Motiv, diesmal zum Höhepunkt gesteigert. Dann herrscht völlige Stille. Eine bedrohliche, aber auch erwartungsvolle Stille, während die schüchtern hereinscheinende Wintersonne den vor sich hin tanzenden Staub sichtbar werden lässt.
Dann eine Stimme aus dem Off: »Das Schlagzeug war ein bisschen zu laut«, sagt Tonmeister Martin Ruch. Er sitzt zusammen mit dem Tonmeister Philip Krause und dem Trickster-Dramaturgen Philip Geisler eine Etage tiefer im Aufnahmestudio der Emil Berliner Studios. Per Kamera und Mikrofon sind sie mit dem Orchester verbunden. Bhatti, der als Schlagzeuger selbst mitspielt, stimmt zu, entschuldigt sich. Der improvisierte Teil klinge ihm dennoch ein wenig zu statisch, er »müsse viel energischer sein«. Auch der Posaunist Florian Junker wünscht sich mehr Entschlossenheit. Alle sind einverstanden. Weniger einig sind sich Mohamad Fityan und die Vibraphon-Spielerin Taiko Saito. Soll es eher mezzopiano oder mezzoforte sein? »Wir sollten weggehen von den Feinheiten, sondern Ketan dynamisch folgen«, sagt Samawatie mit entschlossener, aber diplomatischer Stimme. Außerdem hieße Improvisation nicht, reinzukommen und nie wieder raus, sondern, nicht ständig dieselben Töne zu spielen und auch mal auszubrechen. »Sind alle Handys auf Flugmodus gestellt?« 22 Köpfe nicken und Samawatie zählt ein zum vierten Take. Es wird nicht der letzte sein an diesem Tag.
Einer jener aufwändigen Aufnahme beizuwohnen, ist eine seltene Gelegenheit, eines der ungewöhnlichsten zeitgenössischen Orchester Europas kennenzulernen. Hier offenbart sich nicht nur die musikalische, sondern auch die psychologische und soziale Dynamik eines Kollektivs, dass es sich alles andere als einfach macht, um den Ansprüchen ihrer stil-sprengenden Vision gerecht zu werden. Nicht nur, weil die Organisation trotz Leitung weitgehend demokratisch ist und Details immer wieder diskutiert und Einwände stets gehört werden, sondern auch, weil es sich nie zufrieden geben würde mit einfachen Kompromissen.
»Hast hussle continuum«
Von Ketan Bhatti
Zwei Wochen später erklärt Samawatie in ihrer Kreuzberger Wohnung bei Ingwertee, warum das so ist. Vor einigen Jahren habe sie mal erlebt, wie ein Oud-Spieler einen Bratschisten fragte, ob er Vierteltöne hören könne. Er habe verneint, also hätten sie sich dazu entschieden, dass der Bratschist den Grundton spielt, und die Oud darüber soliert. Das fänden dann alle schön und fertig sei der exotische Faktor. Für Trickster käme das nicht infrage. »Das wäre uns zu einfach. Wir wollen nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner.« Bhatti, der neben ihr sitzt, nickt. Während es bei vielen Orchestern oft darum ginge, eine »bestimmte musikalische Tradition auszustellen«, geht es bei Trickster um das Hier und Jetzt. »Wir sind nicht an dem tollen Oud-Solo interessiert, sondern daran, wie dieses Instrument auch anders klingen kann.«
Doch wie lässt sich das bewerkstelligen, in einem Kollektiv, in dem etliche Instrumente vorkommen, deren Stimmungen und Timbres im euroamerikanischen Sinne harmonisch nicht aufeinander abgestimmt sind?
»Mit dem Konzept der Mimesis«, sagt Bhatti, der wie Samawatie mindestens so gerne über die Form wie über den Inhalt von Musik sinniert. »Es geht nicht um ein bloßes Imitieren, sondern darum, sich gegenseitig zuzuhören.« Diese »verkörperte Nachahmung« beinhalte, sich »in die andere Person zu verwandeln«. Da das eigentlich nicht möglich ist, entsteht zwangsläufig etwas Neues. In der Nachahmung stecke »ein innovatives Potential«. Statt den Klang und die Stimmung eines jeweiligen Instruments nur mit einem Grundton zu begleiten, stünde im Vordergrund, dem vermeintlich fremden Instrument zuzuhören und zu versuchen, »mit seinen eigenen Mitteln in Interaktion zu treten«. »Wenn du mit der Viola versuchst, die Koto nachzuahmen, wird das nur indirekt funktionieren, und zwar, in dem du dich mit deinem Instrument verwandelst.«
Sich zu verwandeln, sich nicht mit einer starren traditionellen Form zu identifizieren, sondern mit einem Zwischenraum, der ständig in Bewegung ist, ist auch ein Statement. Auf eine Welt, die das Ambivalente schätzt und gegen eine, die trotz ihrer multipolaren globalisierten Struktur wieder mehr als je zuvor wieder in starren Kategorien wie Nation, Herkunft oder unhinterfragbaren Taditionen denkt.
Die gesellschaftliche Relevanz von Trickster hätten sie aber gar nicht suchen müssen. Sie sei von alleine gekommen, erzählt Bhatti. »Wir kommen aus einer ästhetischen Herangehensweise und daraus ergeben sich politische Fragestellungen und Antwortprozesse. Wir wollen aufzeigen, wie abwegig es ist, in Grenzen zu denken, also in Kategorien wie wir und die anderen oder das Fremde und das Eigene.« Eine zeitgenössische Musik müsse die »diverse Kultur repräsentieren«. Das wichtigste sei, dass das auf Augenhöhe, also im Dialog mit allen Mitgliedern, passiere.
Die implizite Kritik an und die Thematisierung von Leitkultur, Diversität, Kolonialismus, Migration und Imperialismus befreit sie aber nicht von der Bürde dessen, was der Musikwissenschaftler Johannes Ismaiel-Wendt als »Topophilie« bezeichnet. Also das Bedürfnis, Musik immer sofort geographisch zu verorten und damit auch mit bestimmten festen kulturellen Identitäten zu verbinden. So firmiert Trickster als Kollektiv aus Menschen mit unterschiedlichster Herkunft nicht selten noch unter »Weltmusik«, jenem hilflosen, quasi-rassistischen Begriff, mit dem im euroamerikanischen Raum seit den 1980er Jahren jegliche Musik eingeordnet wird, in der nicht-westliche Instrumente und Skalen verwendet werden.
Samawatie findet das problematisch. »Ich finde, dass mit diesem Begriff zu oft auf das Andere verwiesen wird – und das grenzt aus.« Mit der Gründung des Orchesters wollte sie ein Zeichen gegen den Exotismus setzen – und zugleich möglichst viele Instrumente einbeziehen, die in deutschen Orchestern sonst nicht zum Einsatz kommen.
Der Anspruch, sowohl das »Eigene« als auch das »Andere« in einem neuen Raum zu verorten, ist für Bhatti nichts weniger als eine Utopie. »Utopien sind Möglichkeiten für ein besseres Leben. Kunst muss diese Utopien in den Raum stellen und greifbar machen.« Das ist, wie immer, wenn viele unterschiedliche Individuen aufeinandertreffen, alles andere als einfach. Nicht nur, wenn es um kleine Diskussionen wie beim Aufnahmetag geht. So fordern die Leiter von ihren Mitstreiter*innen stets eine völlige Offenheit ein.
Egal ob sie aus der persischen oder westlichen Klassik, der Echtzeitmusik, dem Jazz oder der Neuen Musik stammen, solistische Eitelkeiten oder ein Beharren auf traditionellen Genregrenzen sind tabu. Am Wichtigsten sei es laut Bhatti, das Gehör »nicht an der Garderobe abzugeben«. Jeder solle aus seiner oder ihrer Komfortzone heraustreten.
Was für einige zunächst eine große Herausforderung war, wird langfristig belohnt. So komponieren die beiden oft stark personenbezogen. Dem Bratschisten von den Berliner Philharmonikern begegnen sie anders als dem Cellisten, der aus dem Jazzbereich kommt. Samawatie ist überzeugt: Nur wenn sie auch »für die Musiker komponiere, hätten sie besonders Spaß an der Arbeit und nur so würden auch die Konzerte gelingen.«
»Casting ist sehr wichtig«, wirft Bhatti lachend ein. »Es ist schon toll, zu sehen, wenn unser Ney-Spieler, der sonst in sehr traditionellen Kontexten spielt, Spaß daran hat, alle 30 Takte lediglich ›pff‹ zu machen«.
Die Lust am Experiment und am Hinterfragen von Traditionen ist ein Leitmotiv in Samawaties Karriere. Nach ihrem Klassik-Studium in Schlagzeug, Klavier, Gesang habe sie zunächst »immer brav das gespielt«, was von ihr verlangt wurde. Wenn sie etwas ändern wollte, hieß es oft: »Du musst das so machen, wie der Komponist das möchte.« Im Jazz, den sie anschließend im Hauptfach Gesang studiert hat, sei das nicht viel anders gewesen. Dort sei die Aufteilung zwischen Komponist und Interpret nicht mehr so starr. Doch auch hier habe es strikte Regeln gegeben, formell als auch ästhetisch, die es zu befolgen galt und die nicht infrage gestellt wurden. »Änderungen, hieß es, seien respektlos.«
Auch Bhatti wollte schon komponieren, bevor er überhaupt ein Instrument beherrschte. »Ich bin vielleicht davon beeinflusst, zwischen den Welten zu stehen.« In Indien geboren und aufgewachsen in Deutschland, sei er immer der andere gewesen. In Indien »der Deutsche« und in Deutschland immer mehr der, der »gut deutsch kann«, ergänzt Samawatie, die als in Deutschland geborenes Kind iranischer Eltern ähnliche Erfahrung gemacht hat. So hätten sie gelernt, sich selbst immer nur in Beziehung zu etwas anderem zu sehen. »Es sind alles Strukturen und Systeme«, sagt Bhatti. »Wie in der Musik.«
Wenn das stimmt, dann steht Trickster durchaus für eine Utopie. Dann wäre es doch ein leichtes, die musikalische auf die soziale Struktur zu übertragen. Statt die Instrumente müsste man nur die Menschen selbst von der Bürde ihrer jeweiligen Traditionen befreien. Dass dieser Weg nicht einfach ist, hat niemand gesagt. Aber Trickster macht vor, wie es gehen kann.¶
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