Text Brigitte van Kann
Titelbild Olesia Zdorovetska
Fotos Valentyn Kuzan
Nothing changes on the Eastern Front
At the time of death, metal gets hot
And people get cold
Don’t speak to me of Luhansk
It’s long since turned into -hansk.
Lu had been razed to the ground
To the crimson pavement
My friends are held hostage
And I can’t get to them, I can’t do netsk
To pull them out of the basements
From under the rubble
Yet here you are, writing poems
Ideally smooth poems
High-minded golden poems
Beautiful as embroidery
There’s no poetry about war
Just decomposition
Only letters remain
And all of them make a single sound – rrr
Pervomajsk has been split into pervo and majsk
Into particles in primeval flux
War is over once again
Yet peace has not come
And where’s my deb, alts, evo
No poet will be born there anymoreä
No human being
I stare into the steppe around me
It has narrowed like a triangle
Sunflowers lower their heads in the field
Black and dried out, like me
I have gotten so very old
No longer Lyuba
Just a -ba
In Ihrem Gedicht Decomposition zerlegen Sie die Namen von Städten im umkämpften Donbass in ihre Bestandteile ...
Lyuba Yakimchuk: Im Krieg fällt alles auseinander. In diesem Gedicht wollte ich an der Sprache zeigen, wie alles zerbricht und zerfällt. Wie Gebiete auseinanderfallen, wie Identitäten zerfallen.
Unsere Erfahrungen aus der Zeit vor dem Krieg passen nicht mehr. Wörter wie ›Schmerz‹, ›Land‹, ›Grenzen‹ verändern ihren Sinn. Sogar das Wort ›Liebe‹ hat sich verändert. Alle Gefühle werden intensiver, zugespitzter. Es ist schwierig mit den alten Wörtern über die neue Realität zu sprechen.
Das erinnert an die Futuristen mit ihrer Fragmentierung der Sprache in Buchstaben und Laute. Sie engagieren sich für den ukrainischen Futuristen Mikhail Semenko ...
Mikhail Semenko ist für mich so etwas wie mein literarischer Vater. Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Wirklichkeit sehr radikal: neue Entdeckungen, neue Erfindungen, neue technische Möglichkeiten. Plötzlich gab es Industrie in der Ukraine, Fabriken wurden gebaut. Davor war das Land ja bäuerlich geprägt. Jetzt entstanden neue Städte, eine städtische Kultur entwickelte sich. Die traditionelle Familie, in der mehrere Generationen unter einem Dach lebten, verwandelte sich in die Kleinfamilie. Damals suchte die europäische Avantgarde auf allen Gebieten, auch in der Poesie, nach einer neuen Sprache. Semenko gehörte zu den führenden ukrainischen Futuristen. Sein Werk hat mich schon früh fasziniert. Er ist für mich auch noch in anderer Hinsicht wichtig: Er hat meinen Eltern geholfen, an einem neuen Ort anzukommen.
Wie das?
Meine Eltern sind im Februar 2015 unter Granatenhagel aus dem Donbass geflohen und mussten ihr Haus in Pervomajsk zurücklassen.
zwischen mir und meiner Mutter sind Hunderte Gräben ausgehoben
und ich weiß nicht wie ich sie überspringe
zwischen mir und meinem Vater fliegen Hunderte von Granaten
und ich kann sie nicht für Vögel halten
zwischen mir und meiner Schwester steht eine metallene Kellertür
von innen gestützt mit einem Spaten
Ein neues Haus in einer Stadt war finanziell nicht drin. Also suchten sie ein Haus auf dem Land. Aber sie fanden nichts, nichts gefiel ihnen, überall fühlten sie sich fremd. Da bin ich mit ihnen nach Kybynzi gefahren, in das Dorf, in dem Semenko geboren wurde. Sie hatten von mir viel über ihn und seine Gedichte gehört. So fühlte sich dort alles etwas vertrauter an und bald fanden sie etwas Passendes.
Kannte man Semenko eigentlich noch, bevor Sie sich für ihn eingesetzt haben?
Er war so gut wie vergessen. Er wurde 1989 gedruckt, zwanzig Jahre später gab es eine Neuauflage. Trotzdem wusste man wenig über ihn, dabei gibt es in den Archiven ziemlich viel Material. Ich habe mich dafür eingesetzt, ihn wieder bekannt zu machen. Unter anderem mit einem Festival in dem Dorf, in dem er geboren wurde. Das Festival hieß ›Metro nach Kybynzi‹, nach einer Gedichtzeile von ihm. Ich habe es für Semenko und für meine Eltern organisiert.
Die Flüchtlinge aus dem Donbass haben es schwer, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Und sie werden auch nicht überall mit offenen Armen empfangen, denn die russische Seite verbreitet negative Gerüchte über sie. Dabei haben diese Menschen alles, was sie sich aufgebaut hatten, zurücklassen müssen. Den meisten geht es psychisch sehr schlecht. Meine Eltern hatten immer von einer Rückkehr geträumt, aber seit dem Festival sind sie an ihrem neuen Wohnort angekommen und wollen nicht mehr zurück.
Kann man sagen, dass Semenko im Schatten der viel bekannteren russischen Futuristen wie Majakowski oder Chlebnikow stand?
Eigentlich nicht. Er war in der Ukraine schon sehr bekannt. Aber als Freidenker ist er 1937, auf dem Höhepunkt der Stalinschen Repressionen, verhaftet und in Kiew als angeblicher Terrorist hingerichtet worden. 1932 hatte er auf dem Schriftstellerkongress, auf dem der sozialistische Realismus als einzig erwünschte Richtung festgelegt wurde, off the records gesagt, er habe Lust, das Präsidium mit Scheiße oder faulem Fisch zu bewerfen. Das kann man in den Geheimdienst-Akten nachlesen. Er hatte ein sehr kritisches Verhältnis zur Sowjetmacht, obwohl er zuvor, wie viele ukrainische Schriftsteller, ein Linker gewesen war. Er verfolgte das Projekt eines ukrainischen Sozialismus. Als der ukrainische Weg verboten und viele ukrainische Intellektuelle verfolgt wurden, protestierte er. Nach 1937 waren seine Bücher verboten. Im Abspann von Filmen, an denen er als Redakteur des Filmstudios in Odessa mitgewirkt hatte, wurde sein Name getilgt. Vielen ukrainischen Schriftstellern ist es so ergangen. Seit der Rehabilitation in den 1980er Jahren und besonders seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 kehrten diese Autoren dann allmählich in unserer Bewusstsein zurück.
Die Komponistin und Sängerin Mariana Sadovska sammelt und singt alte ukrainische Volkslieder. Sie vertont aber auch moderne ukrainische Gedichte, von Ihnen, von Serhij Zhadan. Wie passt das zusammen?
Wir existieren nun mal nicht ohne unsere Vergangenheit. Aber unsere Vergangenheit ist manchmal auch belastend: Fast alle Geschichten der klassischen ukrainischen Literatur sind Leidensgeschichten. Auch in der ukrainischen Volksmusik überwiegen die Molltöne. Bei uns sind sogar die Hochzeitslieder düster!
Mariana schafft etwas Neues: Sie verbindet traditionelle Folklore mit moderner Poesie, die von sozialen Themen und vom Krieg in unserem Land handelt. Sie zeigt uns, wie sehr wir mit dem verbunden sind, was gewesen ist und was daraus geworden ist. Damit experimentiert Mariana, und wie großartig ihr das gelingt, sieht man an der Reaktion des Publikums.
Unsere Aufgabe als Künstler ist es ja, unsere Gefühle mit anderen Menschen zu teilen. Jemandem zu sagen, du bist nicht allein, ich habe die gleichen Gefühle wie du und ich gehe so und so damit um.
Geht es auch um Trost?
Manchmal wirft diese emotionale Wucht die Zuhörer regelrecht um. Ich habe das bei meinen Performances mit dem Bassisten Mark Tokar öfter erlebt. Da sind Leute weinend rausgegangen und konnten sich nur schwer wieder fassen.
Für mich war das schrecklich. Manche finden ja, dass es einem besser geht, wenn man weinen konnte. Aber da bin ich nicht so sicher. Ich möchte jedenfalls nicht, dass Menschen bedrückter gehen als sie gekommen sind. Sie sollen etwas Positives, etwas Licht mitnehmen. Seither versuchte ich, die Emotionen besser zu dosieren.
Was reizt Sie an der Verbindung von Musik und Poesie?
Für mich ist die Poesie in erster Linie ein mündliches Genre. Ein Buch ist wie eine Partitur. Erst durch die Aufführung wird sie lebendig. Schon in der griechischen Antike wurde Poesie vorgetragen. Erst später schrieb man Gedichte auf und fing an, sie zu lesen. Ein Buch ist für mich nur ein Trägermedium. Es dient dazu, dass ein Gedicht nicht verlorengeht.
In welcher Form finden Ihre Gedichte denn ihr Publikum?
Im Wesentlichen als Buch. Heute werden Gedichte eben gelesen und selten vorgetragen. Aber ein Gedicht zu hören, wie ich es vortrage – das ist etwas ganz Anderes, als es still für sich zu lesen. Wenn ich ein Gedicht schreibe, spreche ich es immer wieder laut.
Wolkenkratzer
Kämme dein Haar vor der Nacht
Denn die Wolke wird nicht mehr durchkämmt
Von diesen Wolkenkratzern
Nähe die Wunden des Hauses
Klebe weiße Kreuzchen
Auf diese verbrannte Haut
Schließe mit der Hand – nur nicht nervös werden
die ausgeschlagenen Zahnlücken der Fenster
Damit kein Einbrecher hereinkommen kann
Sei vorsichtig
Alles was spitz und scharf ist
halte neben dem Bett
und steche wenn nötig steche
du musst überleben
Ich feile an jedem Wort, an jeder Zeile, bis der Rhythmus stimmt, bis das Gedicht fließt. Es geht mir nicht nur um den Gehalt, sondern um den Klang. Deshalb habe ich immer ein wenig Angst vor Übersetzungen. Mit Mark habe ich übrigens ein Album aufgenommen, es heißt nach einem Gedichtzyklus von mir Die Aprikosen des Donbass.
Sind Sie heute politisch und künstlerisch freier als vor dem Maidan?
Wir haben ja davor schon zwei Revolutionen erlebt, die Orange Revolution 2004, 2013/14 die sogenannte ›Revolution der Würde‹. Ich würde nicht sagen, dass wir damals über etwas nicht sprechen durften und heute dürfen wir es. Die Revolutionen hat es gegeben, weil wir uns erlaubt haben, gegen die Mächtigen aufzutreten. Wenn wir nicht gegen sie aufbegehrt hätten, hätte es diese Revolutionen ja nicht gegeben.
Können Sie heute die Regierung offen kritisieren, ohne Angst, dass sie zurückschlägt?
Aber ja, und wie wir sie kritisieren! Das tun nicht nur Leute aus künstlerischen Berufen, sondern auch einfache Bürger. In den sozialen Medien, vor allem auf Facebook oder in Blogs.
Präsident Poroschenko zieht gerade mit der Losung ›Glaube. Sprache. Armee‹ in den Wahlkampf ...
Staat und Kirche sind bei uns getrennt. Es gefällt mir absolut nicht, dass der Präsident die Eigenständigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche, ihre Unabhängigkeit von der Moskauer Kirche betrieben hat und propagiert. Dass er jetzt mit dem Oberhaupt der neuen ukrainischen Kirche herumreist und Wahlkampf macht. Ich selbst bin nicht religiös, aber auch wenn ich es wäre – das finde ich wirklich sehr bedenklich.
Und die ›Armee‹ ...
Hier unterstütze ich den Präsidenten. Wir haben eine starke Armee und wir brauchen sie auch, seit Russland in unser Land eingedrungen ist. Vor dem Krieg hatte ich eher pazifistische Ansichten. Ich hätte meinem kleinen Sohn niemals eine Spielzeugpistole gekauft. Aber seit diesem Krieg sehe ich das anders: Wenn böse Jungs Waffen haben, müssen die guten Jungs sich auch bewaffnen, um sich und ihre Familie zu verteidigen.
Sprechen wir noch über die ›Sprache‹ in der Wahlkampflosung ...
Eine heikle Sache. Mir gefällt, dass die ukrainische Sprache heute geachtet und gesprochen wird. Wer in der Sowjetzeit Ukrainisch sprach, galt als rückständiger Dorftrampel und wurde ausgelacht. Die Ukrainer waren damals russisch sozialisiert. Diese Missachtung des Ukrainischen ist heute so gut wie verschwunden.
Aber es gibt doch auch Ukrainer, deren Muttersprache nicht Ukrainisch ist ...
Ihre Gefühle sollte man nicht ignorieren. Unser Präsident propagiert und fördert die ukrainische Sprache, und er tut es nicht auf Kosten der anderen Sprachen im Land. Es gibt ja Schulen, an denen Russisch oder Polnisch gesprochen wird. Doch es müsste mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden, warum wir diesen ukrainischen Kurs eingeschlagen haben. Die russische Propaganda nutzt dieses Manko, um zu manipulieren: Sie behauptet, dass die russische Sprache in der Ukraine verboten ist, angeblich wäre sie damals auch im Gebiet Luhansk und Donezk verboten worden. Niemand hat jemals das Russische verboten und das wird auch in Zukunft niemand tun!
Alle meine Verwandtschaftsbeziehungen sind nun telefonisch
Alle meine Verwandtschaftsbeziehungen werden nun abgehört
Sie wollen wissen wen ich mehr liebe Papa oder Mama
Sie wollen wissen woran meine Oma kränkelt wenn sie in den Hörer krächzt ach ach
Alle meine Verwandtschaften sind Blutsverwandtschaften
Mein gesamtes Blut wird abgehört
Sie müssen wissen welcher Anteil ukrainisches
Polnisches russisches Blut in mir fließt und ob Zigeunerblut dabei ist
Ein neues Gesetz untersagt das Russische im öffentlichen kulturellen Bereich und stellt es sogar unter Strafe, wie in der NZZ vom 19. Januar stand.
Dieses Gesetz hat die erste Lesung passiert, die zweite noch nicht. Es ist nicht sicher, ob es durchkommt. Es verlangt, dass es eine ukrainische Übersetzung geben muss, wenn im öffentlichen kulturellen Raum Russisch gesprochen wird. Das mag in einigen Fällen sinnvoll sein, in anderen nicht. Das Gesetz ist breit diskutiert worden, es gibt eine Menge Gegenwind. Und die Regierung ignoriert den Protest der Bürger nicht mehr, denn sie hat kein Interesse an einem zweiten Maidan.
Viele Forderungen, die auf dem Maidan erhoben wurden, sind inzwischen erfüllt. Aber wir haben immer noch Probleme, besonders mit der Korruption. Es gibt zwar viele Reformen, aber vor allem auf Gebieten, die für die Regierung billiger sind als der Kampf gegen die Korruption, denn sie profitiert von ihr. Aber die Bürger wissen das, und je mehr die Bürger wissen, desto mehr Angst hat die Regierung, etwas gegen den Willen der Bürger zu unternehmen.
Sie stammen aus dem Donbass, aus der Stadt Pervomajsk. Sind sie in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen?
Ja, Russisch ist meine erste Sprache. Ukrainisch habe ich gelernt, aber es ist nie etwas Fremdes für mich gewesen. Mein Vater spricht Russisch, aber er hat immer gesagt: ›Wir sind Ukrainer.‹ Ich schreibe auf ukrainisch, weil ich es lieber mag. So wie ein Künstler sich entscheidet, ob er lieber mit dem Pinsel oder mit dem Stift arbeitet.
Die Entscheidung hatte also keinen ideologischen oder politischen Grund?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe ja schon mit neun Jahren angefangen zu schreiben. Zwischendurch habe ich mal versucht, auf russisch zu schreiben. Aber das Resultat hat mir einfach nicht gefallen. ¶
Decomposition -- Aus dem Ukrainischen von Oksana Maksymchuk and Max Rosochinsky
Wie ich tötete und Wolkenkratzer - Aus dem Ukrainischen von Stefaniya Ptashnyk
Weiterlesen in VAN Outernational #02:
Mariana Sadovska
Die Sängerin und Komponistin Mariana Sadovska gilt als die »ukrainische Björk«. Ein Etikett, das etwas zu fest klebt an einer Künstlerin, die sich jeder Einordnung und Labelung entzieht: Ihr Wirkungsfeld sind jahrhundertealte ukrainische Lieder. »Folklore« sagen die einen, »experimentelle Musik« die anderen. Die Geschichte eines Vogels zwischen den Welten.
Text Brigitte van Kann
Titelbild Olesia Zdorovetska
Fotos Valentyn Kuzan
Nothing changes on the Eastern Front
At the time of death, metal gets hot
And people get cold
Don’t speak to me of Luhansk
It’s long since turned into -hansk.
Lu had been razed to the ground
To the crimson pavement
My friends are held hostage
And I can’t get to them, I can’t do netsk
To pull them out of the basements
From under the rubble
Yet here you are, writing poems
Ideally smooth poems
High-minded golden poems
Beautiful as embroidery
There’s no poetry about war
Just decomposition
Only letters remain
And all of them make a single sound – rrr
Pervomajsk has been split into pervo and majsk
Into particles in primeval flux
War is over once again
Yet peace has not come
And where’s my deb, alts, evo
No poet will be born there anymoreä
No human being
I stare into the steppe around me
It has narrowed like a triangle
Sunflowers lower their heads in the field
Black and dried out, like me
I have gotten so very old
No longer Lyuba
Just a -ba
In Ihrem Gedicht Decomposition zerlegen Sie die Namen von Städten im umkämpften Donbass in ihre Bestandteile ...
Lyuba Yakimchuk: Im Krieg fällt alles auseinander. In diesem Gedicht wollte ich an der Sprache zeigen, wie alles zerbricht und zerfällt. Wie Gebiete auseinanderfallen, wie Identitäten zerfallen.
Unsere Erfahrungen aus der Zeit vor dem Krieg passen nicht mehr. Wörter wie ›Schmerz‹, ›Land‹, ›Grenzen‹ verändern ihren Sinn. Sogar das Wort ›Liebe‹ hat sich verändert. Alle Gefühle werden intensiver, zugespitzter. Es ist schwierig mit den alten Wörtern über die neue Realität zu sprechen.
Das erinnert an die Futuristen mit ihrer Fragmentierung der Sprache in Buchstaben und Laute. Sie engagieren sich für den ukrainischen Futuristen Mikhail Semenko ...
Mikhail Semenko ist für mich so etwas wie mein literarischer Vater. Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Wirklichkeit sehr radikal: neue Entdeckungen, neue Erfindungen, neue technische Möglichkeiten. Plötzlich gab es Industrie in der Ukraine, Fabriken wurden gebaut. Davor war das Land ja bäuerlich geprägt. Jetzt entstanden neue Städte, eine städtische Kultur entwickelte sich. Die traditionelle Familie, in der mehrere Generationen unter einem Dach lebten, verwandelte sich in die Kleinfamilie. Damals suchte die europäische Avantgarde auf allen Gebieten, auch in der Poesie, nach einer neuen Sprache. Semenko gehörte zu den führenden ukrainischen Futuristen. Sein Werk hat mich schon früh fasziniert. Er ist für mich auch noch in anderer Hinsicht wichtig: Er hat meinen Eltern geholfen, an einem neuen Ort anzukommen.
Wie das?
Meine Eltern sind im Februar 2015 unter Granatenhagel aus dem Donbass geflohen und mussten ihr Haus in Pervomajsk zurücklassen.
zwischen mir und meiner Mutter sind Hunderte Gräben ausgehoben
und ich weiß nicht wie ich sie überspringe
zwischen mir und meinem Vater fliegen Hunderte von Granaten
und ich kann sie nicht für Vögel halten
zwischen mir und meiner Schwester steht eine metallene Kellertür
von innen gestützt mit einem Spaten
Ein neues Haus in einer Stadt war finanziell nicht drin. Also suchten sie ein Haus auf dem Land. Aber sie fanden nichts, nichts gefiel ihnen, überall fühlten sie sich fremd. Da bin ich mit ihnen nach Kybynzi gefahren, in das Dorf, in dem Semenko geboren wurde. Sie hatten von mir viel über ihn und seine Gedichte gehört. So fühlte sich dort alles etwas vertrauter an und bald fanden sie etwas Passendes.
Kannte man Semenko eigentlich noch, bevor Sie sich für ihn eingesetzt haben?
Er war so gut wie vergessen. Er wurde 1989 gedruckt, zwanzig Jahre später gab es eine Neuauflage. Trotzdem wusste man wenig über ihn, dabei gibt es in den Archiven ziemlich viel Material. Ich habe mich dafür eingesetzt, ihn wieder bekannt zu machen. Unter anderem mit einem Festival in dem Dorf, in dem er geboren wurde. Das Festival hieß ›Metro nach Kybynzi‹, nach einer Gedichtzeile von ihm. Ich habe es für Semenko und für meine Eltern organisiert.
Die Flüchtlinge aus dem Donbass haben es schwer, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Und sie werden auch nicht überall mit offenen Armen empfangen, denn die russische Seite verbreitet negative Gerüchte über sie. Dabei haben diese Menschen alles, was sie sich aufgebaut hatten, zurücklassen müssen. Den meisten geht es psychisch sehr schlecht. Meine Eltern hatten immer von einer Rückkehr geträumt, aber seit dem Festival sind sie an ihrem neuen Wohnort angekommen und wollen nicht mehr zurück.
Kann man sagen, dass Semenko im Schatten der viel bekannteren russischen Futuristen wie Majakowski oder Chlebnikow stand?
Eigentlich nicht. Er war in der Ukraine schon sehr bekannt. Aber als Freidenker ist er 1937, auf dem Höhepunkt der Stalinschen Repressionen, verhaftet und in Kiew als angeblicher Terrorist hingerichtet worden. 1932 hatte er auf dem Schriftstellerkongress, auf dem der sozialistische Realismus als einzig erwünschte Richtung festgelegt wurde, off the records gesagt, er habe Lust, das Präsidium mit Scheiße oder faulem Fisch zu bewerfen. Das kann man in den Geheimdienst-Akten nachlesen. Er hatte ein sehr kritisches Verhältnis zur Sowjetmacht, obwohl er zuvor, wie viele ukrainische Schriftsteller, ein Linker gewesen war. Er verfolgte das Projekt eines ukrainischen Sozialismus. Als der ukrainische Weg verboten und viele ukrainische Intellektuelle verfolgt wurden, protestierte er. Nach 1937 waren seine Bücher verboten. Im Abspann von Filmen, an denen er als Redakteur des Filmstudios in Odessa mitgewirkt hatte, wurde sein Name getilgt. Vielen ukrainischen Schriftstellern ist es so ergangen. Seit der Rehabilitation in den 1980er Jahren und besonders seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 kehrten diese Autoren dann allmählich in unserer Bewusstsein zurück.
Die Komponistin und Sängerin Mariana Sadovska sammelt und singt alte ukrainische Volkslieder. Sie vertont aber auch moderne ukrainische Gedichte, von Ihnen, von Serhij Zhadan. Wie passt das zusammen?
Wir existieren nun mal nicht ohne unsere Vergangenheit. Aber unsere Vergangenheit ist manchmal auch belastend: Fast alle Geschichten der klassischen ukrainischen Literatur sind Leidensgeschichten. Auch in der ukrainischen Volksmusik überwiegen die Molltöne. Bei uns sind sogar die Hochzeitslieder düster!
Mariana schafft etwas Neues: Sie verbindet traditionelle Folklore mit moderner Poesie, die von sozialen Themen und vom Krieg in unserem Land handelt. Sie zeigt uns, wie sehr wir mit dem verbunden sind, was gewesen ist und was daraus geworden ist. Damit experimentiert Mariana, und wie großartig ihr das gelingt, sieht man an der Reaktion des Publikums.
Unsere Aufgabe als Künstler ist es ja, unsere Gefühle mit anderen Menschen zu teilen. Jemandem zu sagen, du bist nicht allein, ich habe die gleichen Gefühle wie du und ich gehe so und so damit um.
Geht es auch um Trost?
Manchmal wirft diese emotionale Wucht die Zuhörer regelrecht um. Ich habe das bei meinen Performances mit dem Bassisten Mark Tokar öfter erlebt. Da sind Leute weinend rausgegangen und konnten sich nur schwer wieder fassen.
Für mich war das schrecklich. Manche finden ja, dass es einem besser geht, wenn man weinen konnte. Aber da bin ich nicht so sicher. Ich möchte jedenfalls nicht, dass Menschen bedrückter gehen als sie gekommen sind. Sie sollen etwas Positives, etwas Licht mitnehmen. Seither versuchte ich, die Emotionen besser zu dosieren.
Was reizt Sie an der Verbindung von Musik und Poesie?
Für mich ist die Poesie in erster Linie ein mündliches Genre. Ein Buch ist wie eine Partitur. Erst durch die Aufführung wird sie lebendig. Schon in der griechischen Antike wurde Poesie vorgetragen. Erst später schrieb man Gedichte auf und fing an, sie zu lesen. Ein Buch ist für mich nur ein Trägermedium. Es dient dazu, dass ein Gedicht nicht verlorengeht.
In welcher Form finden Ihre Gedichte denn ihr Publikum?
Im Wesentlichen als Buch. Heute werden Gedichte eben gelesen und selten vorgetragen. Aber ein Gedicht zu hören, wie ich es vortrage – das ist etwas ganz Anderes, als es still für sich zu lesen. Wenn ich ein Gedicht schreibe, spreche ich es immer wieder laut.
Wolkenkratzer
Kämme dein Haar vor der Nacht
Denn die Wolke wird nicht mehr durchkämmt
Von diesen Wolkenkratzern
Nähe die Wunden des Hauses
Klebe weiße Kreuzchen
Auf diese verbrannte Haut
Schließe mit der Hand – nur nicht nervös werden
die ausgeschlagenen Zahnlücken der Fenster
Damit kein Einbrecher hereinkommen kann
Sei vorsichtig
Alles was spitz und scharf ist
halte neben dem Bett
und steche wenn nötig steche
du musst überleben
Ich feile an jedem Wort, an jeder Zeile, bis der Rhythmus stimmt, bis das Gedicht fließt. Es geht mir nicht nur um den Gehalt, sondern um den Klang. Deshalb habe ich immer ein wenig Angst vor Übersetzungen. Mit Mark habe ich übrigens ein Album aufgenommen, es heißt nach einem Gedichtzyklus von mir Die Aprikosen des Donbass.
Sind Sie heute politisch und künstlerisch freier als vor dem Maidan?
Wir haben ja davor schon zwei Revolutionen erlebt, die Orange Revolution 2004, 2013/14 die sogenannte ›Revolution der Würde‹. Ich würde nicht sagen, dass wir damals über etwas nicht sprechen durften und heute dürfen wir es. Die Revolutionen hat es gegeben, weil wir uns erlaubt haben, gegen die Mächtigen aufzutreten. Wenn wir nicht gegen sie aufbegehrt hätten, hätte es diese Revolutionen ja nicht gegeben.
Können Sie heute die Regierung offen kritisieren, ohne Angst, dass sie zurückschlägt?
Aber ja, und wie wir sie kritisieren! Das tun nicht nur Leute aus künstlerischen Berufen, sondern auch einfache Bürger. In den sozialen Medien, vor allem auf Facebook oder in Blogs.
Präsident Poroschenko zieht gerade mit der Losung ›Glaube. Sprache. Armee‹ in den Wahlkampf ...
Staat und Kirche sind bei uns getrennt. Es gefällt mir absolut nicht, dass der Präsident die Eigenständigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche, ihre Unabhängigkeit von der Moskauer Kirche betrieben hat und propagiert. Dass er jetzt mit dem Oberhaupt der neuen ukrainischen Kirche herumreist und Wahlkampf macht. Ich selbst bin nicht religiös, aber auch wenn ich es wäre – das finde ich wirklich sehr bedenklich.
Und die ›Armee‹ ...
Hier unterstütze ich den Präsidenten. Wir haben eine starke Armee und wir brauchen sie auch, seit Russland in unser Land eingedrungen ist. Vor dem Krieg hatte ich eher pazifistische Ansichten. Ich hätte meinem kleinen Sohn niemals eine Spielzeugpistole gekauft. Aber seit diesem Krieg sehe ich das anders: Wenn böse Jungs Waffen haben, müssen die guten Jungs sich auch bewaffnen, um sich und ihre Familie zu verteidigen.
Sprechen wir noch über die ›Sprache‹ in der Wahlkampflosung ...
Eine heikle Sache. Mir gefällt, dass die ukrainische Sprache heute geachtet und gesprochen wird. Wer in der Sowjetzeit Ukrainisch sprach, galt als rückständiger Dorftrampel und wurde ausgelacht. Die Ukrainer waren damals russisch sozialisiert. Diese Missachtung des Ukrainischen ist heute so gut wie verschwunden.
Aber es gibt doch auch Ukrainer, deren Muttersprache nicht Ukrainisch ist ...
Ihre Gefühle sollte man nicht ignorieren. Unser Präsident propagiert und fördert die ukrainische Sprache, und er tut es nicht auf Kosten der anderen Sprachen im Land. Es gibt ja Schulen, an denen Russisch oder Polnisch gesprochen wird. Doch es müsste mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden, warum wir diesen ukrainischen Kurs eingeschlagen haben. Die russische Propaganda nutzt dieses Manko, um zu manipulieren: Sie behauptet, dass die russische Sprache in der Ukraine verboten ist, angeblich wäre sie damals auch im Gebiet Luhansk und Donezk verboten worden. Niemand hat jemals das Russische verboten und das wird auch in Zukunft niemand tun!
Alle meine Verwandtschaftsbeziehungen sind nun telefonisch
Alle meine Verwandtschaftsbeziehungen werden nun abgehört
Sie wollen wissen wen ich mehr liebe Papa oder Mama
Sie wollen wissen woran meine Oma kränkelt wenn sie in den Hörer krächzt ach ach
Alle meine Verwandtschaften sind Blutsverwandtschaften
Mein gesamtes Blut wird abgehört
Sie müssen wissen welcher Anteil ukrainisches
Polnisches russisches Blut in mir fließt und ob Zigeunerblut dabei ist
Ein neues Gesetz untersagt das Russische im öffentlichen kulturellen Bereich und stellt es sogar unter Strafe, wie in der NZZ vom 19. Januar stand.
Dieses Gesetz hat die erste Lesung passiert, die zweite noch nicht. Es ist nicht sicher, ob es durchkommt. Es verlangt, dass es eine ukrainische Übersetzung geben muss, wenn im öffentlichen kulturellen Raum Russisch gesprochen wird. Das mag in einigen Fällen sinnvoll sein, in anderen nicht. Das Gesetz ist breit diskutiert worden, es gibt eine Menge Gegenwind. Und die Regierung ignoriert den Protest der Bürger nicht mehr, denn sie hat kein Interesse an einem zweiten Maidan.
Viele Forderungen, die auf dem Maidan erhoben wurden, sind inzwischen erfüllt. Aber wir haben immer noch Probleme, besonders mit der Korruption. Es gibt zwar viele Reformen, aber vor allem auf Gebieten, die für die Regierung billiger sind als der Kampf gegen die Korruption, denn sie profitiert von ihr. Aber die Bürger wissen das, und je mehr die Bürger wissen, desto mehr Angst hat die Regierung, etwas gegen den Willen der Bürger zu unternehmen.
Sie stammen aus dem Donbass, aus der Stadt Pervomajsk. Sind sie in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen?
Ja, Russisch ist meine erste Sprache. Ukrainisch habe ich gelernt, aber es ist nie etwas Fremdes für mich gewesen. Mein Vater spricht Russisch, aber er hat immer gesagt: ›Wir sind Ukrainer.‹ Ich schreibe auf ukrainisch, weil ich es lieber mag. So wie ein Künstler sich entscheidet, ob er lieber mit dem Pinsel oder mit dem Stift arbeitet.
Die Entscheidung hatte also keinen ideologischen oder politischen Grund?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe ja schon mit neun Jahren angefangen zu schreiben. Zwischendurch habe ich mal versucht, auf russisch zu schreiben. Aber das Resultat hat mir einfach nicht gefallen. ¶
Decomposition -- Aus dem Ukrainischen von Oksana Maksymchuk and Max Rosochinsky
Wie ich tötete und Wolkenkratzer - Aus dem Ukrainischen von Stefaniya Ptashnyk
Weiterlesen in VAN Outernational #02:
Mariana Sadovska
Die Sängerin und Komponistin Mariana Sadovska gilt als die »ukrainische Björk«. Ein Etikett, das etwas zu fest klebt an einer Künstlerin, die sich jeder Einordnung und Labelung entzieht: Ihr Wirkungsfeld sind jahrhundertealte ukrainische Lieder. »Folklore« sagen die einen, »experimentelle Musik« die anderen. Die Geschichte eines Vogels zwischen den Welten.
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OUTERNATIONAL wird kuratiert von Elisa Erkelenz und ist ein Kooperationsprojekt von PODIUM Esslingen und VAN Magazin im Rahmen des Fellowship-Programms #bebeethoven anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 – maßgeblich gefördert von der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Land Baden-Württemberg, der Baden-Württemberg Stiftung und der L-Bank.
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